Die Versammlung des lebendigen Gottes
5. Der Engel der Versammlung
„Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt!“ (Off 2,7 usw.)
Der Engel – der Aufseher in seiner Versammlung?
Wenn wir unser Büchlein mit einer kurzen Betrachtung über den „Engel der Versammlung“ schließen, so geschieht es nicht in der Meinung, daß dieser Gegenstand in den Rahmen der ganzen Abhandlung durchaus hineingehöre. Wir stehen vielmehr unter dem Eindruck, daß das nicht der Fall ist. Weil man aber in dem Titel „Engel“ vielfach etwas ganz anderes zu finden gemeint hat, als er nach unserer Überzeugung zum Ausdruck bringen will, nämlich die Bezeichnung eines Amtes oder einer bestimmten leitenden Persönlichkeit in der Gemeinde, so glauben wir, dem Leser noch ein Wort darüber schuldig zu sein.
Aus der Tatsache, daß die sieben Sendschreiben der Offenbarung nicht unmittelbar an die Versammlungen oder Gemeinden selbst, sondern „an den Engel der Versammlung“ gerichtet sind, hat man gefolgert, daß an der Spitze dieser Versammlungen ein Aufseher oder Diener gestanden habe, „der für seine Herde verantwortlich gemacht werde“. Der Herr wende sich an diesen Engel oder Vorsteher und ziehe ihn für den jeweiligen Zustand in der Gemeinde zur Rechenschaft.
Bevor wir uns jedoch mit dieser Folgerung und den auf sie gegründeten Handlungen beschäftigen, mögen einige Bemerkungen über die Gemeinden selbst hier einen Platz finden.
Der prophetische Charakter der Sendschreiben
Daß es zur Zeit der Abfassung des Buches der Offenbarung sieben Versammlungen (Gemeinden) in der römischen Provinz Asien (einem Teil des jetzigen Kleinasien) gab, deren Zustand dem in den Sendschreiben geschilderten entsprach, unterliegt keinem Zweifel, wird auch wohl von niemand bestritten. Diese sieben Gemeinden haben geschichtlich bestanden. Aber ganz von selbst drängt sich dem aufmerksamen Leser der Briefe die Frage auf: Warum hat der Herr gerade diese, außer Ephesus so wenig bekannten Gemeinden aus den vielen damals bestehenden ausgewählt? Warum gerade sieben? Die Zahl „sieben“ ist dem Bibelforscher bekannt als Ausdruck von irgendetwas Vollkommenem, Abgerundetem, im geistlichen Sinne. Daß sie gerade hier, in dem Buche der Offenbarung, bedeutungsvoll ist, liegt auf der Hand. Aber mehr noch. Die sieben Sendschreiben stellen uns nach der Erklärung des Herrn selbst das, „was ist“, vor Augen. „Schreibe nun, was du gesehen hast (Kap. 1,9), und was ist (Kap. 2 und 3), und was geschehen wird nach diesen“ (Kap. 4ff.). Daß diese Einteilung nicht willkürlich ist, beweist Kap. 4,1. Dieselbe Stimme, welche im 1. Kapitel geredet hatte, ruft hier dem Propheten zu: „Komm hier herauf, und ich werde dir zeigen, was nach diesem geschehen muß.“ Das, „was ist“ (was schon zu Lebzeiten des Johannes bestand), endet daher mit dem 3. Kapitel, und im 4. beginnt die Erzählung dessen, „was nach diesem (d.h. nach dem Inhalt des 2. und 3. Kapitels) geschehen muß“ – der Prophet wird von der Erde in den Himmel entrückt und sieht den Thron, von welchem aus die Gerichte über die Erde ergehen.
Es gab also in jener Zeit sieben Versammlungen, deren innerer Zustand dem von dem Herrn entworfenen Bilde entsprach. Sie werden mit goldenen Leuchtern (Lichtträgern) verglichen. In ihrer Mitte wandelt der in richterlichem Gewände erscheinende Sohn des Menschen. Daß der Herr allezeit „als Segensquelle“ in der Versammlung ist und als Haupt des Leibes die Seinigen nährt und pflegt, ist zweifellos; aber hier wird Er nicht in diesem Charakter geschaut. Er erscheint nicht als Der, welcher Öl auf die Lampen gießt, wenn es nötig wird, nicht als der gute Hirte der Schafe, oder als Der, welcher die Füße der Seinigen wäscht oder den Menschen Gaben austeilt, sondern in Seiner ernsten Würde als Richter. Aus Seinem Munde geht ein scharfes, zweischneidiges Schwert hervor, und mit Augen, die wie eine Feuerflamme sind, sieht Er zu, ob die Leuchter ihrer Verantwortlichkeit entsprechen.
Ist denn der Ausdruck „was ist“ auf die sieben örtlichen Gemeinden zu beschränken, an welche die Sendschreiben gerichtet wurden? Waren für sie allein die Mitteilungen des Herrn bestimmt? Oder müssen wir an die ganze christliche Kirche denken, wie sie damals auf Erden bestand? Die Zahl „sieben“ leitet unsere Gedanken, wie gesagt, auf etwas „Vollkommenes“. Jene sieben Gemeinden machten aber nur einen ganz kleinen Teil des gesamten Zeugnisses von damals aus. Zugleich werden die Ermahnungen, welche auf Grund des inneren Zustandes der Gemeinden ergehen, an alle gerichtet, welche ein Ohr haben zu hören: „ Wer ein Ohr hat, höre was der Geist den Versammlungen sagt“.
Wir möchten also wohl an die ganze Gemeinde des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung denken, wenn nicht ein wichtiger Punkt dagegen spräche. Jedes Sendschreiben schildert bekanntlich einen anderen Zustand, verschieden von den vorhergehenden oder nachfolgenden. Es ist deshalb kaum möglich, alle sieben auf den Gesamtzustand der damaligen Kirche anzuwenden. Alle sieben können nicht zu gleicher Zeit charakteristisch für diesen Gesamtzustand gewesen sein. Und was für jene ersten Tage gilt, ist selbstverständlich auch wahr für alle späteren Zeiten. Man kann unmöglich sieben so völlig verschiedene, ja, einander entgegengesetzte Zustände zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt auf den allgemeinen Zustand der Kirche anwenden. Wenn das aber so ist, dann ergibt sich ganz von selbst der Gedanke, daß die Sendschreiben eine Reihenfolge von Zuständen beschreiben müssen, welche sich im Laufe der Jahrhunderte, während der ganzen Dauer des christlichen Haushalts, in der bekennenden Kirche zeigen würden und welche das Auge des Herrn voraussah.
Damit wird dann auch die Zahl „sieben“ durchaus verständlich, ebenso die Auswahl der Gemeinden, nicht nach Alter, Größe, Bedeutung oder dergleichen, sondern nach den damals in ihrer Mitte herrschenden charakteristischen Zuständen. Die Geschichte der Kirche zieht in einem ergreifenden prophetischen Gemälde von dem ersten Beginn des Verfalls, dem Verlassen ihrer ersten Liebe (in Ephesus), bis zum Ausgespieenwerden aus dem Munde des Herrn (in Laodicäa) an unserem Auge vorüber. Der Herr selbst beurteilt und richtet den Zustand, warnt, droht und gibt dem Überwinder Verheißungen. Er ist „der Erstgeborene“, der den ganzen Erdkreis richten wird (vgl. die späteren Kapitel der Offenbarung); aber Sein Gericht beginnt beim Hause Gottes.
Die Versammlung (Gemeinde) ist an die Stelle Israels getreten. Jerusalem war einst der Mittelpunkt oder Sitz des Zeugnisses Gottes. Von dort aus strahlte Sein Licht über die Erde. Israel und Jerusalem haben aber ihrer Verantwortlichkeit als Lichtträger nicht entsprochen und sind deshalb beiseite gesetzt worden. An ihre Stelle ist das Christentum getreten. Die bekennende Kirche ist Gottes Leuchter oder Lichtträger geworden. Jerusalem, die Stadt, welche durch die Ermordung des Messias Gottes Zorngericht über sich gebracht hat, ist verschwunden, und die bekennende Kirche ist jetzt die einzige Zeugin für Gott in dieser Welt. Unter diesem Charakter und von diesem Gesichtspunkt aus wird die Kirche in der Offenbarung gesehen. Daher das Symbol der „sieben goldenen Leuchter“, in deren Mitte der Sohn des Menschen wandelt mit „Füßen gleich glänzendem Kupfer, als glühten sie im Ofen“ – wiederum ein ausdrucksvolles Bild des Gerichts (vgl. Dan 7,9.10).
Es ist hier indes nicht der Platz, in weitere Einzelheiten einzugehen. Wir kommen deshalb zu unserem eigentlichen Thema.
Die Anrede „Engel“ – Ausdruck der eingetretenen Entfernung
„Dem Engel der Versammlung in Ephesus schreibe: Dieses sagt usw.“ So beginnt das erste Sendschreiben, und mit genau denselben Worten werden die anderen sechs eingeleitet. Der Herr wendet sich also nicht unmittelbar an die Versammlungen selbst. Warum nicht? Paulus richtet seinen Brief an „die Heiligen und Treuen, die in Ephesus sind“; in anderen Fällen schreibt er an „die Versammlung Gottes, die in Korinth ist“, an „die Versammlung der Thessalonicher in Gott, dem Vater“, an „alle Heiligen in Christo Jesu, die in Philippi sind, mit den Aufsehern und Dienern“ usw. Seine Anrede ist also immer herzlich und voll Gnade. Warum ist es mit einem Male so ganz anders? Haben sich die Gedanken und Gefühle des Herrn im Blick auf Seine Gemeinde verändert? Keineswegs. Wie wäre das möglich? Nein, was sich verändert hat, ist die Gemeinde. Sie ist nicht mehr das, was sie im Anfang war, und wenn der Herr sie mit Seinem alles erforschenden Auge betrachtet, als Herr und Richter, wie wir sahen, so kann Er nicht mehr in dem familiären, vertraulichen Tone der Liebe zu ihr reden wie früher. Er ist der Gerechte und bleibt in Seinen Regierungswegen sich selbst treu. Er kann sich nicht verleugnen. Und da die Versammlung bereits ihre erste Liebe verlassen hat, so redet Er gleichsam aus einer gewissen Entfernung und beauftragt Seinen Knecht, nicht an die Versammlung selbst, sondern an ihren Engel oder Vertreter zu schreiben.
Engelwesen oder Bischof?
Wer ist nun der Engel der Versammlung? Ein wirklicher Engel, eines jener geistlichen Wesen, die um den Thron Gottes her stehen, Seines Winks gewärtig, „Täter Seines Wohlgefallens“ (Ps 103,21)? Das kann nicht gut sein; es wäre den Wegen Gottes, soweit sie uns bekannt sind, völlig entgegen. Gott gebraucht wohl Engel, um durch sie den Menschen Seinen Willen kundzutun oder ihnen eine Botschaft zu senden, niemals aber hat Er Menschen (hier wäre es Johannes) als Mittelsperson zwischen sich und Seinen Engeln verwandt.
Dann war der Engel also doch wohl, wie die meisten Ausleger meinen, irgendeine amtliche Person, der Aufseher (Bischof) oder ein durch Alter, Erfahrung etc. hervorragender Ältester? Auch das ist nicht möglich. Denn wenn auch in nicht viel späteren Tagen (da der Verfall reißend schnelle Fortschritte machte) eine einzelne Person als Hirte oder Bischof einer örtlichen Gemeinde Anerkennung fand, so war das in der Zeit der Abfassung des Buches der Offenbarung doch noch eine völlig unbekannte Sache; sie steht ja auch mit den Belehrungen der Heiligen Schrift über die Versammlung oder Gemeinde in geradem Widerspruch. Die Schrift redet niemals von einem Aufseher oder Ältesten einer Gemeinde, sondern immer nur von den Aufsehern oder Ältesten der Versammlung in –. Die Anstellung und Anerkennung einer Person als Leiter, Aufseher, Hirte etc. einer Gemeinde ist eine Erfindung des Menschen, nicht mehr und nicht weniger; eine Erfindung allerdings, die bis in die ersten Anfänge der Geschichte der Kirche, bis in den Beginn des 2. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung hinaufreicht, die aber deshalb doch nicht mehr Wert oder Gewicht hat als jedes andere Menschenfündlein. Und selbst wenn sie noch älter wäre, würde der Herr ihr wohl Seine Anerkennung zuteil haben werden lassen, Er, der so eifersüchtig über die Aufrechterhaltung Seiner Wahrheit wacht? Nimmermehr!
Überdies wäre der Titel „Engel“ für einen Aufseher oder Ältesten eine völlig neue Sache, die wiederum durch nichts in den apostolischen Schriften gestützt oder auch nur angedeutet ist. Wir müssen deshalb nach einer anderen Erklärung suchen, und wir meinen, sie liege in dem Buche der Offenbarung, das von Symbolen mannigfaltigster Art angefüllt ist, nicht fern.
Engel – sinnbildliche Vertretung
Der Titel „Engel“ hat offenbar eine symbolische oder sinnbildliche Bedeutung, ähnlich wie die Bezeichnung „Sterne“ in Kapitel 1,20: „Die sieben Sterne (in der Rechten des Herrn) sind Engel der sieben Versammlungen“. Und wenn das so ist, so haben wir uns unter dem „Engel der Versammlung“ eben nicht eine bestimmte amtliche Person, sondern eine sinnbildliche Vertretung der Gemeinde zu denken. Zu dieser Auffassung gibt uns die Schrift selbst unmittelbare Anleitung. Immer wieder begegnen wir der Benutzung von Engeln in vertretendem Sinne. Der Engel des Herrn, der Engel des Bundes – so heißt es an vielen Stellen in den Büchern des Alten Testaments. Gott selbst sagt in 2. Mose 23,21 von dem Engel, den Er Israel als Führer und Hüter senden wollte: „Hüte dich vor ihm und höre auf seine Stimme und reize ihn nicht; denn er wird eure Übertretung nicht vergeben, denn mein Name ist in ihm“. Und oft werden die Ausdrücke „Jehova“ oder „der Engel Jehovas“ wechselseitig gebraucht. Der Engel Jehovas steht für Jehova selbst (vgl. z.B. Richter 6). Im Buche Daniel werden Engel mit Israel oder anderen Mächten einsgemacht: „Der Fürst des Königreichs Persien (ein Engelfürst) stand mir entgegen“; „in jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht“ (Kap. 10,13; 12,1). Im Neuen Testament hören wir, daß die „Engel“ der kleinen Kinder allezeit das Angesicht des Vaters im Himmel schauen (Mt 18,10), und wenn Petrus, auf wunderbare Weise aus dem Kerker befreit, an die Tür des Hauses der Maria klopft, sagen die im Hause versammelten Gläubigen der Botschaft bringenden Magd: „Es ist sein Engel“ (Apg 12).
Verkörperung der Verantwortlichkeit
So ist denn der Engel der Versammlung gleichsam die Verkörperung der Verantwortlichkeit, der ideale verantwortliche Vertreter des Ganzen. Die Aufseher der Gemeinden, ob von den Aposteln angestellt oder nicht, hatten infolge ihrer Stellung gewiß eine besondere Verantwortlichkeit. Der Engel stellt jedoch die ganze Versammlung dar, wenn auch jene Personen zunächst gemeint sein mögen, weil sie eben unter einer höheren und ernsteren Verantwortlichkeit standen als die übrigen. Darum kann auch zu dem Engel gesagt werden: „Ich werde deinen Leuchter aus seiner Stelle wegtun“, oder: „Ich habe ein weniges wider dich, daß du solche dort hast...“; während wir an anderen Stellen lesen: „Der Teufel wird etliche von euch ins Gefängnis werfen“; „auch in den Tagen, in welchen Antipas mein treuer Zeuge war, der bei euch ... ermordet worden ist“; „euch aber sage ich, den übrigen, die in Thyatira sind, so viele diese Lehre nicht haben“ usw.
Der Engel erscheint also an vielen Stellen als gleichbedeutend mit der Versammlung, an anderen wird zwischen ihm und der Versammlung ein Unterschied gemacht, indem diese selbst oder einzelne Teile von ihr angeredet oder hervorgehoben werden – ein Beweis also, daß die Briefe, wenn auch nicht unmittelbar, so doch in ihrer ganzen schwerwiegenden Bedeutung an die Gemeinden selbst sich richten und für sie bestimmt sind. Der Gedanke an eine einzelne, mit Autorität bekleidete Person in ihrer Mitte oder gar an ihrer Spitze, welche die Verantwortlichkeit für die Gesamtheit trüge, ist völlig ausgeschlossen, durchaus schriftwidrig. Alle Beweisführungen, die man hierauf stützt, um darzutun, daß jeder örtlichen Versammlung ein einzelner Mensch, unter welchem Titel es nun sei – als Hirte, Lehrer, Prediger, Aufseher oder dergleichen – vorstehen und sie leiten solle, sind demnach hinfällig. Das berührt aber keineswegs die Frage der ernsten Verantwortlichkeit aller derer, welchen der Herr eine Gabe anvertraut oder einen Auftrag, einen Dienst für die Versammlung, Seinen Leib, gegeben hat. Diese Verantwortlichkeit bleibt in ihrem ganzen Umfang bestehen, und da, wo sie gefühlt wird, wird dieses Gefühl Ernst und heilige Wachsamkeit in der Seele wachrufen.