Die Stimme der Propheten
Der Prophet Habakuk
Wir wollen uns nun ein wenig mit dem Propheten Habakuk beschäftigen, nachdem wir uns bei der Einführung zu den zwölf kleinen Propheten die Aktualität ihrer Botschaft für uns heutzutage vor Augen geführt haben.
Wir haben uns die Frage gestellt, was diese alten Prophetenbotschaften uns heute noch sagen und wie wir uns ihre Aussagen heute für unser praktisches Glaubensleben nutzbar machen können. Dabei haben wir den Eindruck gewonnen, dass sie sehr zeitnah geschrieben sind und uns viel zu sagen haben, obwohl sie mehr als 2500 Jahre alt sind. Ihre Aktualität finden wir insbesondere in den beiden Propheten Habakuk und Haggai bestätigt. Ich gehe noch einen Schritt weiter: diese Botschaften sind nicht nur zeitnah – sie sind zeitlos.
Es sind eigentlich zwei große, zeitlose Fragen, die den Propheten Habakuk beschäftigen und die von jeher gottesfürchtige Menschen auf dieser Erde beschäftigt haben und wahrscheinlich bereits auch uns. So sind auch die beiden Antworten, die Gott auf diese brennenden Fragen gibt, zeitlose Antworten.
Wir haben bereits bei der Einführung gesehen, dass diese Propheten, die Gott gebrauchte, um unter dem Volk Gottes zu weissagen, vor allem Männer des Gebets und der Fürbitte waren. Sie haben ihre ersten Sprachübungen nicht auf den Marktplätzen in Samaria, Jerusalem oder Bethlehem gemacht, sondern im Verborgenen, in der Gebetskammer. Dort beteten sie vor dem Angesicht Gottes für das Volk Gottes. Und das trifft besonders auf Habakuk zu.
Habakuk hat nicht nur eine Botschaft an das Volk. Der Geist Gottes führt uns hier zuerst einmal in seine Gebetskammer. Wir werden Zeugen von dem, was dieser Prophet über das Volk Gottes mit Gott zu reden hat. Wenn ich eine Überschrift über dieses kleine Buch wählen sollte, würde ich vorschlagen: Der Dialog eines Propheten mit Gott über das Volk Gottes.
Wir wollen uns die Frage stellen: Findet Gott auch bei uns diese Kennzeichen, die uns befähigen, mit einer Prophetenstimme heute unter dem Volk Gottes zu reden? In diesem Sinn wollen wir über den Propheten Habakuk nachdenken.
In Kapitel 1,2 lesen wir: „Wie lange, HERR, habe ich gerufen, und du hörst nicht!“ Haben wir schon einmal um eine Sache lange zu Gott gerufen? Das ist die ganz einfache Frage, die wir diesem Vers entnehmen wollen. Oder ist es bei uns so, dass wir einmal ein brennendes Problem auf dem Herzen hatten und eine Zeitlang intensiv gebetet haben, doch dann durch irgendwelche Dinge im Gebet nachgelassen haben?
Ist das nicht tatsächlich eine uralte Frage: Warum schweigst Du, o Gott, zu alledem, was Du sehen musst? Warum schweigst Du zu all der Ungerechtigkeit, die sich unter Deinem Volk zeigt? Auch Hiob stellte eine ähnliche Frage, als er fragte, warum gerade er so leiden müsse.
Es sind Berechnungen angestellt worden, dass Habakuk etwa in den Jahren 612 – 606 v.Chr. geweissagt haben soll. Dennoch ist es nicht von ungefähr, dass wir in diesem kleinen Buch selbst überhaupt keine Zeitangaben finden. Eigentlich wissen wir nicht, wann er gelebt und prophezeit hat. Persönlich glaube ich, dass er kurz vor der Zeit der Wegführung der beiden Stämme Juda und Benjamin in die babylonische Gefangenschaft in Juda geweissagt hat.
Wenn Gott es für nötig hält, Zeitangaben zu machen, dann ist darin eine Unterweisung enthalten. Wir tun gut daran, das dann zu beachten. Doch wenn Er sie weglässt, müssen wir uns ebenso fragen, warum Gott das tut. Wir werden später bei der Betrachtung des Spottliedes in Kapitel 2 noch einmal auf diese Frage zurückkommen. Mir scheint das Fehlen einer Zeitangabe in diesem Buch ein Hinweis auf die Zeitlosigkeit der Botschaft dieses Propheten zu sein. Denn die beiden Fragen und ihre göttlichen Antworten, die hier aufgezeichnet sind, sind zeitlos.
„Und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: Gewalttat! und du rettest nicht. Warum lässt du mich Unheil sehen, und schaust Mühsal an? Und Verwüstung und Gewalttat sind vor mir, und Streit entsteht, und Hader erhebt sich. Darum wird das Gesetz kraftlos, und das Recht kommt nimmermehr hervor; denn der Gesetzlose umzingelt den Gerechten: darum kommt das Recht verdreht hervor“ (Kap. 1,2b-4).
Wir haben bereits in der Einführung, wo wir nach den Sünden gefragt haben, gegen die die Propheten weissagten, als erstes gefunden, dass Ungerechtigkeit unter dem Volk Gottes war. Und diese Ungerechtigkeit bestand im Wesentlichen darin, dass sie das Wort Gottes beiseite setzten. Als sie den Armen unterdrückten und für ein Paar Schuhe kauften und ihn zum Sklaven machten, übertraten sie damit ein deutliches Gebot Gottes (3. Mo 25,39–41).
Das Wort Gottes hatte für sie keine Autorität mehr und übte keinen Einfluss mehr auf ihre Herzen und Gewissen aus. Dadurch entstand dieser Zustand der Ungerechtigkeit. Und wie ist das heute? Hören wir nicht dieselbe prophetische Stimme in einigen Briefen des Neuen Testaments? So z.B. im 2. Petrusbrief, im Judasbrief, im 2. Timotheusbrief. Auch dort lesen wir von vielfältiger Ungerechtigkeit unter dem Volk Gottes mit all den schrecklichen Folgen.
Kennen auch wir etwas von solchen Gefühlen, wenn wir heutzutage Ungerechtigkeit sehen, in welcher Form auch immer? Wir neigen so leicht dazu, den Blickwinkel dabei immer nur auf die allgemeine Christenheit zu richten. Doch gibt es nicht auch bei uns Ungerechtigkeit? Gilt diese ernste Botschaft hier nicht auch uns heutzutage? Muss sie nicht auch unsere Herzen und Gewissen treffen?
Kennen wir diese Empfindungen, dieses Rufen zu Gott? Wenn wir um uns herumschauen, finden wir nicht nur Positives. Sicherlich sollten wir uns die Frage stellen: Sind wir auch so ungeduldig wie Habakuk, obwohl er ja tatsächlich lange gebetet hatte? Doch wir können gut verstehen, dass jemand, der lange zu Gott gerufen hat, dann die Fragen stellt: Herr, warum schweigst Du? Warum erträgst Du das alles? Warum erträgst Du so viel Ungerechtigkeit in der Christenheit? Warum?
Und jetzt wollen wir einmal in unsere eigene Vergangenheit zurückschauen. Wieviel Ungerechtigkeit hat der Herr da ertragen müssen, wo man sich zu Seinem Namen versammelt hat?! Wieviel Ungerechtigkeit erträgt der Herr da heute noch? Ich denke an einen Vers in Hosea 4 im Blick auf all die Ungerechtigkeit und den Sittenverfall der damaligen Zeit: „Schwören und Lügen, und Morden und Stehlen, und Ehebruchtreiben; sie brechen ein, und Blutschuld reiht sich an Blutschuld“ (V. 2). Nun wird jemand antworten: Aber das ist doch heute nicht mehr der Fall, auch nicht in der Christenheit. Man mordet doch nicht in der Christenheit. Das sind Einzelfälle, die in der Zeitung stehen.
Ich wage zu sagen, dass dieser Vers noch hochaktuell ist: Blutschuld reiht sich an Blutschuld. In einem Land, das sich christlich nennt, geschehen jedes Jahr Hunderttausende von Abtreibungen, und jede Abtreibung ist in den Augen Gottes ein Mord. Blutschuld reiht sich tatsächlich an Blutschuld.
Die Propheten haben eine deutliche Sprache gesprochen. Sie haben die Dinge beim Namen genannt, und wenn wir darüber sprechen, dann müssen wir das auch tun. Dann müssen wir sagen: Abtreibung ist in Gottes Augen Mord.
Wie lange, Herr, erträgst Du das noch? Wie lange kannst Du das ertragen? Musst Du darauf nicht eine Antwort geben? Und wir wollen uns fragen, ob wir etwas von diesem Leidtragen über all diese Ungerechtigkeit in der Christenheit kennen und auch unter uns.
Wir wollen uns diese beiden Fragen aber auch einmal sehr persönlich stellen. Wo sind die jungen Geschwister geblieben, die in die Welt gegangen sind und bis heute nicht zurückgekommen sind? Sie kehren einfach nicht um. Rufen wir dann auch zum Herrn und sagen: Warum schweigst Du? Warum gibt es keine Umkehr? Warum erhörst Du unsere Gebete nicht?
Habakuk kannte die richtige Adresse, wo er seine Fragen stellen konnte. Er kannte den Gott im Himmel, der uns unsere Fragen durch Sein Wort beantwortet. Und wie gut, dass auch wir mit all den Fragen, die uns beschäftigen, zu Gott, unserem Vater, und zu dem Herrn Jesus gehen dürfen und dass wir dort die Fragen, die unsere Herzen bedrängen, stellen dürfen.
Dann gibt Gott Antwort. Was meinst Du, welche Antwort der Prophet Habakuk wohl erwartete? Und auf welche Antwort Gottes warten wir eigentlich?
„Sehet unter den Nationen und schauet und erstaunet, staunet; denn ich wirke ein Werk in euren Tagen – ihr würdet es nicht glauben, wenn es erzählt würde. Denn siehe, ich erwecke die Chaldäer, das grimmige und ungestüme Volk, welches die Breiten der Erde durchzieht, um Wohnungen in Besitz zu nehmen, die ihm nicht gehören“ (Kap. 1,5.6).
Mit diesen Versen können wir sofort eine Brücke zum Neuen Testament schlagen, denn in Apostelgeschichte 13,41 bezieht sich der Apostel Paulus auf diesen Vers in Habakuk 1 und argumentiert nach seiner Evangeliumsbotschaft, die er an die Juden richtete, etwa so: Wenn ihr die Botschaft nicht annehmt, dann wird es euch ebenso ergehen wie den Menschen damals. Das Gericht wird über euch kommen. – In ihrer Gesamtheit lehnten die Juden das Evangelium ab, und der Apostel schüttelte den Staub von seinen Füßen und wandte sich den Nationen zu. Im Jahre 70 n.Chr. traf die Juden das Gericht: Jerusalem wurde durch die Römer zerstört.
Das ist also die Antwort Gottes: „Ihr würdet es nicht glauben, wenn es erzählt würde.“ Die Antwort ist die Ankündigung des Gerichts! Erwarten wir auch heute solch eine Antwort? Nein, durchaus nicht. Wie könnten wir denn auf das Gericht warten, oder doch?
Stellen wir uns einmal vor, dass Habakuk heute unter uns leben und mit uns beten würde, mit uns leidtragen über all die Ungerechtigkeit. Was würden wir dann erwarten? Wären wir nicht gespannt auf das, was Gott tun würde? Würden wir nicht vor allem für eine Erweckung unter dem Volk Gottes beten? Das wäre doch sehr naheliegend. Wie sollten wir denn das Gericht herabbeten? Nein, wir würden beten: Herr, gib doch bitte noch eine Erweckung so kurz vor Deinem Kommen, und zwar in der gesamten Christenheit.
Ich habe mir oft die Frage gestellt, wo das Wort Gottes uns eigentlich einen Hinweis dafür gibt, dass wir für solch eine umfassende Erweckung beten sollten. Ich habe ihn nicht gefunden. Ich glaube nicht, dass es solch eine Erweckung noch einmal geben wird.
Ich finde vielmehr in Gottes Wort – sofern ich es richtig verstehe – dass Niedergang und Verfall im allgemeinen weiter fortschreiten werden. Gottes Wort sagt uns vielmehr, was Habakuk ebenfalls als Antwort empfing: Das Gericht wird über all die Ungerechtigkeit kommen: „Denn siehe, ich erwecke die Chaldäer, das grimmige und ungestüme Volk.“
Nun sind wir gespannt auf die Antwort Habakuks. Ist er entsetzt und sagt gleichsam zu Gott: Wie kannst Du das denn machen, o Gott, dass Du solch ein ungerechtes Volk, das noch ungerechter ist als das Volk Israel, als Zuchtrute benutzt, um es zu strafen und zu züchtigen und in die Gefangenschaft nach Babel zu führen? Warum führst Du solch ein gottloses Volk herbei und gebrauchst es als Zuchtrute für Dein Volk?
Zuerst leuchtet einmal ein kleiner Lichtstrahl des Glaubens in seinem Herzen auf: „Bist du nicht von alters her, HERR, mein Gott, mein Heiliger? Wir werden nicht sterben“ (V. 12). Ich finde es wunderschön, dass in dem Herzen Habakuks bei dieser Gerichtsankündigung zuerst einmal die Glaubensgewissheit aufleuchtet: Wir werden nicht sterben. Auch nicht bei diesem Gericht. Das spricht uns unmittelbar an, alle, die wir den Herrn Jesus kennen. Wir werden allerdings nachher noch sehen, was die Gerichtsankündigung in unseren Herzen bewirken muss.
„Wir werden nicht sterben.“ Das Neue Testament sagt uns ebenfalls, dass wir vor den Gerichten von der Erde weggenommen werden, um in den Himmel, ja, in das Vaterhaus, entrückt zu werden. Diese Verheißung galt dem Propheten Habakuk nicht. Er kannte sie überhaupt nicht. Aber es ist doch ein schöner Beweis seines Glaubens, dass er bei dieser Gerichtsankündigung sagt: „Bist du nicht ... mein Gott, mein Heiliger? Wir werden nicht sterben.“
Doch dann wirft Habakuk in Vers 13 die Frage auf: „Warum schaust Du Räubern zu, schweigst, wenn der Gesetzlose den verschlingt, der gerechter ist als er?“ Er denkt jetzt daran, dass unter dem Volk Gottes doch zuweilen noch Gutes zu sehen war. Gerade wenn Feinde das Volk Gottes angreifen wollten, mussten sie das Gute unter diesem Volk anerkennen. Wir wissen, wie Gott eifersüchtig urteilt, wenn sich Feinde über Sein Volk hermachen wollen. Dann musste sogar der böse Bileam sagen: „Nicht ein Mensch ist Gott, dass er lüge ... Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel“ (4. Mo 23,19–21).
„Warum schaust Du Räubern zu, schweigst, wenn der Gesetzlose den verschlingt, der gerechter ist als er?“ Warum? Warum hat Gott über Jahrhunderte hin zugelassen, dass die Mohammedaner über die Christenheit herfielen und sie beinahe verschlungen hätten? Warum hat Gott zugelassen, dass in der Sowjetunion möglicherweise Hunderttausende von Christen umgekommen sind? Und ganz aktuell: Warum hat Gott zugelassen, dass Ostdeutschland fünfundvierzig Jahre unter kommunistischer, atheistischer Herrschaft seufzen mußte? Warum mussten all die vielen Kinder Gottes so etwas miterleben?
Warum? Diese uralte Warum-Frage. Diese zeitlose Frage: Warum? Und wenn wir eine ganz persönliche Anwendung machen wollen: Hatten wir nicht alle, wenn wir steile Wegstrecken unseres Lebens zu gehen hatten, wenn uns Not und Trübsal hautnah trafen, auch diese Frage in unseren Herzen: Warum, o Gott, warum gerade ich? Es ist die uralte Frage: 0 Gott, warum handelst Du mit mir so und mit jemand anders so? Auch Hiob hatte diese Frage in seinem Herzen. Es gibt einen Psalm von Asaph (Psalm 73), der vollständig dieser Frage gewidmet ist. Asaph mühte sich mit der Frage ab: Warum?
Habakuk beginnt nachzudenken. Er sagt zu sich: „Auf meine Warte will ich treten und auf den Turm mich stellen, und will spähen, um zu sehen, was er mit mir reden wird, und was ich erwidern soll auf meine Klage“ (Kap. 2,1). Habakuk will während der Nacht auf einen Wachtturm steigen; er will sich gleichsam in die Stille zurückziehen und über die Umstände erheben. Dort auf dem Wachtturm will er Ausschau halten nach irgendeinem Licht am Himmel. Er will spähen, um zu sehen, was Gott mit ihm reden wird und was er Ihm dann antworten will.
Erinnert uns das nicht an den 2. Petrusbrief, wo der Apostel Petrus sagt: „Und so besitzen wir das prophetische Wort befestigt, auf welches zu achten ihr wohl tut, als auf eine Lampe, welche an einem dunklen Orte leuchtet, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen“ (1,19)?
Die Dunkelheit der Nacht liegt über dieser Welt, die Nacht, wo unser Herr verworfen ist. Da dürfen auch wir auf solch einen Wachtturm steigen und Ausschau halten nach dem blinkenden Morgenstern. Wir spähen, ob wir die ersten Lichtstrahlen dieses kommenden Morgensterns schon am Himmel entdecken. Jedenfalls erheben wir unser Glaubensauge wie Habakuk zum Himmel und sagen: Mein Gott, mein Heiliger; ich will mich auf den Turm stellen, um zu sehen, was Gott mir zu sagen hat.
Nun kommt die Antwort Gottes: „Da antwortete mir der HERR und sprach: Schreibe das Gesicht auf, und grabe es in Tafeln ein, damit man es geläufig lesen könne; denn das Gesicht geht noch auf die bestimmte Zeit, und es strebt nach dem Ende hin und lügt nicht. Wenn es verzieht, so harre sein; denn kommen wird es, es wird nicht ausbleiben ... Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“ (Kap. 2,2–4). Gott bestätigt noch einmal, dass das Gericht kommt, aber Habakuk soll ausharren und seinen Glauben auf das Endziel richten.
Das ist ein gewaltiger Ausspruch: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.“ Dreimal wird dieser Satz im Neuen Testament zitiert. Jetzt suchen wir diesen Vers zuerst in Hebräer 10 auf, wo der Schreiber dieses Briefes diesen Vers aus Habakuk zitiert und wo der Geist Gottes das Licht des Neuen Testaments auf diesen Vers scheinen lässt: „Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen. 'Der Gerechte aber wird aus Glauben leben'“ (V. 38).
Jetzt lesen wir noch einmal, was in Habakuk 2 steht: „Denn das Gesicht geht noch auf die bestimmte Zeit, und es strebt nach dem Ende hin und lügt nicht. Wenn es verzieht, so harre sein; denn kommen wird es, es wird nicht ausbleiben.“ Beachte die Worte: Wenn es verzieht, so harre sein. Doch in Hebräer 10 heißt es: Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen. Das „es“, das dem Habakuk hier in Kapitel 2 zunächst so unbestimmt gesagt wird, wandelt sich im Licht des Neuen Testaments in eine Person: der Kommende wird kommen und nicht verziehen.
Und danach zitiert der Schreiber des Hebräerbriefes diesen Ausspruch aus Habakuk 2,4: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ Wenn wir die Brücke zum Neuen Testament schlagen, dann sehen wir, wie Gott uns durch diese alte Botschaft sagen möchte: Jede Antwort auf alle Fragen ist eine Person, es ist der Herr Jesus. Er ist die Antwort auf alle unsere Fragen, die sich uns stellen, Er, der Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat (Gal 2,20).
So macht Gott es immer. Als Abraham in 1. Mose 15 voller Fragen vor Gott stand, befahl Gott ihm, verschiedene Opfertiere zu holen. Dann bekommt Abraham eine bildhafte Antwort, nämlich einen Hinweis auf die Person des Herrn Jesus. Er, der eingeborene Sohn Gottes, ist immer die Antwort Gottes auf alle unsere Fragen. Gott sagt gleichsam: Ihr müsst die Augen eures Glaubens auf diese Person richten, die schließlich am Ende in Herrlichkeit kommen wird und deren Feinde zum Schemel Seiner Füße liegen werden. Er wird Sein Reich in Herrlichkeit aufrichten.
Das ist die Antwort, die Habakuk auf seine Frage erhält, warum Gott Sein Volk durch die Chaldäer züchtigen lässt. Gott sagt gleichsam zu ihm: Du kannst beruhigt sein. Auch über den Chaldäer, diesen großen Feind des Volkes Gottes, wird das Gericht kommen. Wenn es verzieht, dann harre aus. Schau auf das Ende, dann wirst du im Glauben leben: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.“
Ist es nicht großartig, dass die Antwort Gottes auf alle Fragen, die uns beschäftigen, eine Person ist, gleichsam das letzte Wort, das Gott gesprochen hat, der Herr Jesus selbst?! Er ist das Wort Gottes. Gott sagt auch zu uns bei all den Fragen, die uns beschäftigen: Schaut auf das Ende. Betrachtet euer Leben, das ihr jetzt leben müsst. Unsere Lebenszeit ist nicht auf Rosen gebettet, sondern es ist die Zeit, wo Gott Seine züchtigende Hand an uns legt, so unverständlich das auch manchmal sein mag.
Wenn wir Hebräer 12 lesen, erfahren wir, dass der Beweggrund des Herzens Gottes Seine Liebe ist, weil wir Seine Kinder sind. So, wie ein Vater seinen Sohn züchtigt, so züchtigt Gott auch uns in dieser Zeit, um die friedsame Frucht der Gerechtigkeit in uns hervorzubringen. Dazu bringt Er zuweilen Chaldäer in unser Leben und erlaubt ihnen, das zu machen, was sie wollen. Dann sagt Er zu uns: Harre aus, auch ihn wird das Gericht treffen! Schau auf das Ende! Sieh auf dein Ende unter dem Gesichtspunkt des Richterstuhles Christi (2. Kor 5,10) und des Tausendjährigen Reiches. Das ist die Lösung all unserer Probleme.
Man kann im Neuen Testament dazu einige sehr prägnante Stellen finden, wie z.B. der Apostel Paulus sein Leben und viele seiner Ermahnungen in Verbindung brachte mit dem Richterstuhl Christi. Er sah sein Leben im Licht des Richterstuhles und des Tages Seiner Erscheinung (2. Tim 4,8). Er liebte diesen Tag. Es ist der Tag der Erscheinung des Herrn, Seines Offenbarwerdens in Herrlichkeit. Dieser Tag wird im Alten Testament immer wieder unter der Bezeichnung „Tag des HERRN“ gefunden.
Ich habe den Eindruck, dass Paulus diesen Vers aus Habakuk 2, „der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben“, sehr geliebt hat. Er zitiert ihn, wie gesagt, dreimal, um neutestamentliche Belehrungen zu untermauern. Das erste Mal in Römer 1,17, das zweite Mal in Galater 3,11 und dann das dritte Mal hier in Hebräer 10, wie wir gesehen haben.
Jedes Mal müssen wir allerdings den Nachdruck auf ein anderes Wort legen. Hier in Hebräer 10,38 liegt die Betonung auf dem Wort „leben“. Der Gerechte aber wird aus Glauben leben, und der Ungerechte wird umkommen und nicht leben; er wird den Tod finden. Der Ungerechte wird in Habakuk 2,4 mit den Worten beschrieben: „Siehe, aufgeblasen, nicht aufrichtig ist in ihm seine Seele.“ Das sind die beiden Alternativen, die uns Hebräer 10 vorstellt.
Im Galaterbrief müssen wir das Wort „Glauben“ unterstreichen: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben“, nicht durch das Gesetz. Dadurch kann man keine Rettung erlangen. Das ist das Thema im Galaterbrief: der Gegensatz zwischen dem Glauben (oder der Gnade) und dem Gesetz.
In Römer 1,17 müssen wir das Wort „der Gerechte“ unterstreichen: „Der Gerechte aber wird aus Glauben leben.“ Wer von Gott gerechtfertigt worden ist, wird durch Glauben leben.
Daraus erkennen wir deutlich, wie gut der Apostel Paulus das Alte Testament kannte. Es ist sicher auch für uns gut, dass wir das Alte Testament kennen. Nicht von ungefähr werden viele Zitate aus den Propheten im Neuen Testament angeführt. Möge der Herr uns Gnade schenken, dass wir etwas vertrauter werden mit diesen so alten Botschaften, und lernen, mit wachen Augen in diesen Propheten zu lesen, so daß wir davon angesprochen werden und erkennen, wie aktuell diese Botschaften für unsere heutige Zeit sind.
Nun kommen wir zu einem nicht ganz einfachen Abschnitt in diesem kleinen Propheten. Ab Vers 7 haben wir es hier mit einem Spottlied zu tun. Und dieses Spottlied hat nicht Habakuk gesungen, sondern jemand anders. Dazu lesen wir zuerst einmal aufmerksam Vers 5: „Und überdies: Der Wein ist treulos; der übermütige Mann, der bleibt nicht, er, der seinen Schlund weit aufsperrt wie der Scheol, und er ist wie der Tod und wird nicht satt; und er rafft an sich alle Nationen und sammelt zu sich alle Völker.“
Dieses Spottlied singen die vielen Nationen und Völker aus Vers 5, die von den Chaldäern besiegt wurden: „Werden nicht diese alle über ihn einen Spruch und eine Spottrede anheben, Rätsel auf ihn? Und man wird sagen ...“ (Hab 2,6). Dieses Lied besteht aus fünf Strophen. Jede Strophe beginnt mit einem „Wehe“ (Verse 6 – in der Mitte –, 9, 12, 15 und 19).
Es ist bezeichnend, dass in diesem Spottlied überhaupt kein Name genannt wird, obwohl ich nicht daran zweifle, dass es sich hier um die Chaldäer handelt. Doch es ist eine Frage, ob sie allein damit gemeint sind. Es ist nicht ohne Absicht, dass Gott den Namen unerwähnt lässt.
Ja, es wird der Augenblick kommen, wo dieser große Feind des Volkes Gottes, der so viele Völker überfallen und beraubt hat, selbst von dem Gericht Gottes ereilt wird. Dann werden die Nachbarvölker, die bisher von ihm unterdrückt und angefeindet wurden, dieses Spottlied über ihn singen.
Weiterhin fällt uns die Tatsache auf, daß jede Strophe dieses Liedes einen Refrain hat, der viermal mit dem begründenden Wörtchen „denn“ beginnt. In Vers 8 heißt es: „Denn du hast viele Nationen beraubt.“ In Vers 11: „Denn der Stein wird schreien.“ In Vers 14: „Denn die Erde wird voll werden von der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken“. In Vers 17: „Denn die Gewalttat am Libanon wird dich bedecken“. Der letzte Refrain in der fünften Strophe beginnt mit einem „aber“: „Aber der HERR ist in seinem heiligen Palast – schweige vor ihm, ganze Erde.“
Jede Strophe dieses Spottliedes scheint mir einfach eine Beschreibung der Tatsache zu sein, dass Sünden auch ihre Folgen haben. Kein Volk kann sich ungestraft in einer derart diktatorischen, räuberischen Weise über andere Völker hermachen. In der schrecklichen Zeit des dritten Reiches sahen die Menschen, als Adolf Hitler ein Volk nach dem anderen angriff, dass das ein schlimmes Ende nehmen würde. Und so ist es auch gekommen.
Ich habe den Eindruck, dass Gott bei jeder Strophe, die die Menschen hier singen, mit dem Refrain einen eigenen kleinen Kommentar hinzufügt. Die Bestätigung dafür finden wir in Vers 14 bei der dritten Strophe, wo Gott diesen herrlichen Ausspruch hinzufügt: „Denn die Erde wird voll werden von der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken.“
Deshalb müssen wir doch noch ein wenig auf die Prophetie dieses Buches eingehen. Das ist hier ein Ausspruch, den kein Weltmensch tun konnte. Hier handelt es sich eindeutig um zukünftige Prophetie. Natürlich ist in diesem Spottlied zunächst einmal von dem Chaldäer die Rede, der damals das Südreich Israels in die babylonische Gefangenschaft geführt hat. Aber ich bin ebenso überzeugt, dass dieses Spottlied eine tiefergehende prophetische Bedeutung hat, die auch jetzt noch nicht erfüllt ist und die sich erst erfüllen wird, wenn die letzten Feinde des Volkes Israel während der großen Drangsal Jerusalem angreifen werden. Wir haben hier einen „doppelten Boden“ der Prophetie.
Wenn wir die Prophetie untersuchen, werden wir vielfach dieser „Doppelprophetie“ begegnen. Wenn die Heilige Schrift z.B. in den prophetischen Büchern von der Wegführung nach Babel zur Zeit Nebukadnezars spricht und von der damaligen Zerstörung Jerusalems, dann müssen wir uns immer die Frage stellen: Kann es sein, dass in dieser Prophetie auch die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n.Chr. enthalten ist? Und ist vielleicht sogar auch die Zerstörung und Einnahme Jerusalems durch den Assyrer während der großen Drangsal darin enthalten?
Häufig begegnen wir einer teilweisen Vorerfüllung einer Weissagung in der Vergangenheit und einer endgültigen Erfüllung in der Zukunft. Dazu ein Beispiel: Petrus zitiert in seiner großen Ansprache am Pfingsttag in Jerusalem die Verse aus Joel 2,28–32, wo davon die Rede ist, dass Gott von seinem Geist auf alles Fleisch ausgießen würde (Apg 2). Das ist ebenfalls solch eine Doppelprophetie. Eine teilweise
Vorerfüllung geschah am Pfingsttag. Doch die Zeichen an den Gestirnen, die dort beschrieben werden, haben damals nicht stattgefunden. Die endgültige Erfüllung dieser Prophezeiung liegt in der Endzeit, wenn der Herr kommt und Sein Reich in Herrlichkeit aufrichtet.
So müssen wir auch dieses Spottlied hier verstehen: Gott gibt uns eine langfristig angelegte prophetische Perspektive, nicht nur über das Gericht des Chaldäers damals – denn dieses Reich ist untergegangen –, sondern hier geht es letztlich um den großen Feind des Volkes Israels in der Endzeit. Und dann wird der Herr, wie wir aus den prophetischen Büchern und auch aus der Offenbarung wissen, schließlich den Überrest Seines Volkes, den Er durch Gerichte hin läutern wird, erretten von allen Feinden und in die Herrlichkeit des Reiches einführen.
So können wir diesen Vers „Denn die Erde wird voll werden von der Herrlichkeit des HERRN, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken“ nur als eine Prophetie des Geistes Gottes auf das Tausendjährige Reich verstehen. Eine andere Auslegung ist nicht möglich.
Ist das nicht auch für uns eine herrliche Aussicht? Wir sprechen so viel von der Entrückung der Versammlung. Ja, es ist eine wunderbare Wahrheit, dass der Herr Jesus uns in Wolken entgegenkommt und wir Ihm da begegnen und dann mit Ihm in das Vaterhaus eingehen. Doch wie viele Stellen sind es, die über die Entrückung sprechen? Das ist gerade eine Handvoll: Johannes 14; 1. Thessalonicher 4 – gleichsam in einer Einfügung –, 1. Korinther 15, Philipper 3, und vielleicht noch Vers 10 in 1. Thessalonicher 1. Das sind dann aber auch schon alle Stellen, die von der Entrückung handeln. Im Alten Testament wird sie überhaupt nicht erwähnt.
Doch im Gegensatz dazu haben wir zahllose Stellen und Kapitel in Gottes Wort, die von der Erscheinung des Herrn handeln, von Seinem Offenbarwerden in Herrlichkeit. Und das haben wir auch in Vers 14. Haben wir diese Seite des Kommens des Herrn Jesus nicht ziemlich vernachlässigt? Es ist jetzt nicht die Zeit und die Gelegenheit, einen Streifzug durch das Neue Testament zu machen, um uns mit dem Kommen des Herrn Jesus in Herrlichkeit zu beschäftigen. Wenn wir die Stellen einmal aufsuchen, werden wir finden, wie die Apostel sie immer wieder mit der Praxis unseres täglichen Glaubenslebens hier auf dieser Erde in Verbindung gebracht haben. Es lohnt sich, diese Stellen daraufhin zu untersuchen. Die Schrift sieht unsere Verantwortlichheit im Leben immer im Blick auf den Richterstuhl Christi oder, besser gesagt, auf Sein Erscheinen in Herrlichkeit.
Der Apostel Paulus spricht von Christen, die die Erscheinung des Herrn lieben (2. Tim 4,8). Wir wollen uns einmal fragen, ob wir tatsächlich Seine Erscheinung lieben. Haben wir völlig unbeschwerte Herzen, so dass wir, wenn wir uns einmal für alles vor unserem Herrn verantworten müssen, Ihm dann auch in die Augen schauen können, ohne beschämt zu werden (vgl. 1. Joh 2,28)?
Der Herr wird in Herrlichkeit wiederkommen. Das Gericht wird kommen. Doch auch wir dürfen sagen: „Wir werden nicht sterben.“ Und: „Aber der HERR ist in seinem heiligen Palast – schweige vor ihm, ganze Erde“ (Kap. 2,20). Wenn dieser Zeitpunkt für das irdische Volk Gottes anbricht, dann wird die Herrlichkeit des HERRN, die in Hesekiel 11 den Tempel verließ, zurückkehren. Die Herrlichkeit des HERRN wird den Tempel wieder bewohnen.
Wir dürfen schon jetzt in diesen Tempel mit all seiner Herrlichkeit hineinschauen, und zwar mit den Augen des Glaubens. Ist der Hebräerbrief nicht das eigentliche Fernsehgerät eines Christen? Auf der flimmernden Mattscheibe kann man ja doch nur Ausschnitte rund um den Erdball schauen. Doch im Hebräerbrief schauen wir in einen geöffneten Himmel. Und was sehen wir dort? „Aber der HERR ist in seinem heiligen Palast.“ Das entspricht Hebräer 2,9: „Wir sehen aber Jesus ... mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt.“
Inmitten all der Umstände und der Fragen in unseren Herzen: „Warum, Herr Jesus?“, lenkt Er unsere Augen auf sich selbst und sagt gleichsam zu uns: Ich sitze mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt zur Rechten Gottes und warte auf den Augenblick, wo Ich zusammen mit dir – nachdem ich dich zuvor zu Mir entrückt habe – aus dem Himmel auf die Erde komme und meine Feinde gelegt sein werden zum Schemel Meiner Füße. Das ist die aktuelle Aussage dieser alttestamentlichen Botschaft für uns heutzutage.
Nun folgt noch das Gebet Habakuks. Wir wollen versuchen, ein wenig nachzuvollziehen, was damals in dem Herzen Habakuks vor sich gegangen ist. Mit sehr ernsten Fragen hat dieses kleine Buch angefangen. Habakuk hat sich gleichsam mit diesen Fragen abgemüht und zu Gott gerufen. Jetzt ist es so weit, dass er auf die Knie geht und gleichsam in seiner Erinnerung zurückgreift und sagt: Jetzt will ich, wie Gott mir das gezeigt hat, ausharren und im Glauben auf das Ende schauen.
Er hat die Antwort auf alle seine Fragen empfangen: diese Antwort ist eine Person, und diese Person ist der Gesalbte, der ausdrücklich in Vers 13 erwähnt wird. Wieviel können wir davon lernen! Auch wir mühen uns oft mit Fragen ab. Kann Gott dann auch unseren Glaubensblick auf das Ende richten und zu uns sagen: Denk einmal über deine herrliche Zukunft nach?
Dein und mein Ausharren wird, auch wenn uns die züchtigende Hand getroffen hat, im Tausendjährigen Reich einmal seine Belohnung finden. Diese Belohnung wird uns nicht im Vaterhaus zuteil. Im Vaterhaus werden wir alle allein deshalb sein, weil wir Kinder des Vaters sind. Da gibt es keinen unterschiedlichen Lohn, denn dieses herrliche Teil der Kindschaft haben wir nur aufgrund des Werkes des Herrn Jesus auf Golgatha empfangen.
Und was betet Habakuk? Er erinnert Gott an all Seine Güte, die Er in vergangenen Tagen dem Volk zugewandt hatte. Er beginnt in Ägypten, erinnert an die Wüstenwanderung, an all die Kämpfe, an all die Rettungen, die Gott Seinem Volk geschenkt hat, bis Er es schließlich ins Land führen konnte. Er lässt all das, was Gott in Seiner Macht und Güte an diesem Volk getan hat, an seinem inneren Auge vorübergehen.
Und nachdem er so vor Gott die Vergangenheit ausgebreitet und Ihn daran erinnert hat, was Er für das Volk getan hat, wandern seine Gedanken in die Zukunft: „Im Grimme duchschreitest du die Erde, im Zorne stampfest du die Nationen. Du zogest aus zum Heile deines Volkes, zum Heile deines Gesalbten“ (V. 12). Nun sieht er den Gesalbten (hebr. Messias), wie dieser sich einsmacht mit Seinem Volk.
So sollte auch unser Gebet sein. Das ist eine ganz wichtige geistliche Lektion für uns. Gehen auch wir von Zeit zu Zeit auf die Knie und listen einmal alles auf, was der Herr uns schon an Errettungen und Gütigkeiten geschenkt hat?
Danken wir Ihm, dass Er uns möglicherweise gläubige Eltern gegeben hat? Fahren wir dann fort zu danken, dass Er uns bewahrt hat, als wir noch Kinder waren? Wie viele Kinder verunglücken. Gott hat uns gesund erhalten. Das sind keine Kleinigkeiten. Gott hat uns bei allem Ungehorsam während der Schulzeit hindurchgebracht.
Mir wurde das vor vielen Jahren einmal sehr bewusst, so dass ich zum Herrn gebetet habe: Herr, wie oft habe ich als Schüler in der Schule Dich durch meinen Ungehorsam und durch meine Faulheit verunehrt. Bei wie vielen Gelegenheiten hat Gott mir in Seiner Güte durchgeholfen. Wie oft hat Er mir aus beruflichen Schwierigkeiten, aus familiären Nöten und aus seelischen Nöten herausgeholfen.
So sollten wir einmal alles auflisten. Und dann versetzen auch wir uns in unserem Gebet in die Zukunft und sagen: Wenn das so ist, wenn ich so viele Gütigkeiten und bewahrende Gnade in der Vergangenheit erfahren habe, dann wirst Du mich auch in Zukunft tragen und durch alle Nöte hindurchbringen, so wie Habakuk das gleichsam hier in den Versen 12 und 13 sagt.
Und nun beginnt Habakuk in den letzten Versen dieses Buches zu singen: „Ich aber, ich will in dem HERRN frohlocken, will jubeln in dem Gott meines Heils. Der HERR, Herr, ist meine Kraft und macht meine Füße denen der Hindinnen gleich und lässt mich einherschreiten auf meinen Höhen. Dem Vorsänger, mit meinem Saitenspiel“ (Kap. 3,18.19).
Es gibt wunderschöne „ABER“ in der Schrift. Sie zu untersuchen, wäre ein nützliches Bibelstudium. Nur ein Beispiel aus Epheser 2: „Gott ABER, der reich ist an Barmherzigkeit“, nachdem vorher diese schreckliche Beschreibung des nutzlosen Materials erfolgt war, aus dem Gott schließlich Sein Haus baute. „Gott ABER“. Hier sagt der gläubige Habakuk: „Ich ABER.“ Er hat das Gericht vor Augen. Er war sich nicht sicher, ob er miterleben würde, wie die Chaldäer kämen. Würde er mit in die Gefangenschaft weggeführt werden?
Wir wissen es nicht. Aber jedenfalls hat er alles vor Augen, was geschehen könnte. Der Feigenbaum würde nicht blühen, der Olivenbaum keine Frucht tragen, der Weinstock keine Reben. Die Getreidefelder würden keine Speise geben. Aus den Hürden würde das Kleinvieh verschwinden und aus den Ställen die Rinder.
Das ist ein trauriger Zustand. Wir wollen dieses Bild einmal geistlich anwenden. Wo gibt es heute in der Christenheit noch geistliche Speise, wovon sich die Seelen nähren können? Dort, wo man die Bibel zerpflückt und nichts mehr übriglässt von der Wahrheit der Schrift, gibt es auch keine Nahrung mehr.
Und wenden wir das wieder ganz persönlich auf uns an. Wenn uns solch eine Not treffen würde, dass uns einmal alles Hab und Gut genommen würde, unsere schönen Häuser, die schönen Wohnungen, unsere Autos, ja, all unser Vermögen, was würde dann geschehen?
Fürchten wir uns nicht, dass der Herr es einmal für nötig erachten könnte, uns solch eine Prüfung aufzuerlegen? Wir stöhnen und seufzen schon bei viel kleineren Fehlschlägen. Stellen wir uns jedoch vor, dass Gott uns einmal alles wegnehmen würde und wir in eine große Trübsal kämen und keinen Hoffnungsschimmer mehr sähen, könnten wir dann noch mit Habakuk sagen: „Ich aber, ich will in dem HERRN frohlocken, will jubeln in dem Gott meines Heils“?
Habakuk fügt hier noch hinzu: „Der HERR, Herr, ist meine Kraft und macht meine Füße denen der Hirschkühe gleich und lässt mich einherschreiten auf meinen Höhen.“ Er spricht von der Quelle der Freude, woraus er seine Kraft schöpfte. Freude und Kraft sind in der Bibel unlösbar miteinander verbunden. Kennen wir die Freude am Herrn auch inmitten aller widrigen Umstände? Aus dieser Freude erwächst uns Kraft. Nicht umgekehrt. So heißt es in Nehemia 8,10: „Die Freude am HERRN ist eure Stärke.“
Die älteren Geschwister kennen sicher solche steilen Wegstrecken, wo der Weg mühsam war, wo sie das Tal des Todesschattens durchschritten haben. Der Psalmist konnte in solch einer Lage dennoch sagen: „Auch wenn ich wanderte im Tale des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir“ (Ps 23,4). Dann lernt man in einer ganz neuen Weise das Wort Gottes zu lesen, und entdeckt plötzlich Verse, die einen vorher nicht angesprochen haben. Dann darf man trotz aller widrigen Umstände im Herzen eine tiefe Freude an Gott erleben.
Das lernen wir durch Erfahrung, nicht auf theoretische Weise und nicht in unserer Studierkammer. Das lernen wir nur in den Umständen des Lebens, und auch nur dann, wenn wir sie in Gemeinschaft mit dem Herrn erleben. Dann lernen wir mit Habakuk sagen: „Ich aber“. Dann erfahren wir die Freude am Herrn, die für uns zu einer Quelle der Kraft wird. Dann schauen wir über alle widrigen Umstände hinweg und sehen im Glauben auf das Ende. Wir beginnen uns auf das Kommen des Herrn zu freuen und darauf, dass wir zusammen mit Ihm wiederkommen werden, wenn Er in Herrlichkeit erscheint.
Das Gebet Habakuks erinnert uns an das, was Paulus in Römer 8 sagt: „Was sollen wir nun hierzu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer wider uns? Er, der doch seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat: wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken? ... Wer wird uns scheiden von der Liebe Christi? ... Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben ... uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserem Herrn.“
Zuerst denkt Paulus zurück an die Errettung, so wie Habakuk zurückdachte an Gottes Errettung aus Ägypten. Dann zählt er alle möglichen Gefahren auf, denen wir auf unserem weiteren Weg ausgesetzt sind. Er lässt nichts von dem aus, was uns noch widerfahren könnte. Doch es gibt nichts, was uns zu scheiden vermag von der Liebe Christi oder der Liebe Gottes. Voller Vertrauen schaut der Apostel in die Zukunft.
Und so endet auch dieser kleine Prophet mit einem freudigen Ausblick auf die Zukunft. Dieses Vertrauen darf unsere Herzen erfüllen und uns dahin bringen, dass wir voller Dankbarkeit im Gebet vor unseren Gott treten.