Von Babel nach Jerusalem
Eine Studienhilfe zum Buch Esra

Teil B: Rückkehr unter Esra: (Kapitel 7-10)

Die im zweiten Teil des Buches erwähnten Ereignisse finden etwa in den Jahren 458–445/443 v. Chr. statt. Der Text beginnt mit den Worten: „Und nach diesen Begebenheiten …“. Wir finden diese Formulierung noch zweimal im Buch Esther (vgl. Est 2,1; 3,1). Sie markiert jeweils einen neuen Zeitabschnitt. Es war das siebte Jahr des Königs Artasasta (ca. 458 v. Chr.), ein König, der den Juden grundsätzlich positiv gegenüberstand. In Vers 8 erfolgen weitere Zeitangaben. Wir lernen, dass Gott alles genau registriert und dass unsere Zeiten immer in Gottes Hand sind (Ps 31,16).

Zwischen der ersten Rückführung unter Serubbabel und Jeschua waren ca. 80 Jahre vergangen, d. h. die meisten Juden, die damals zurückgekehrt waren, lebten nicht mehr. Seit der Einweihung des Tempels waren ca. 57 Jahre vergangen.

Über die Zwischenzeit von fast 60 Jahren sagt die Bibel nichts, doch manchmal redet Gott gerade durch sein Schweigen. Jedenfalls scheint es unter den Juden in Jerusalem erneuten Niedergang gegeben zu haben. Jede Generation schreibt ihre eigene Geschichte. Scheinbar nahmen es die nach der ersten Rückkehr in Jerusalem geborenen Juden mit den Anweisungen Gottes nicht sehr genau. Der sittliche Zustand war niedrig. Doch nun erscheint Esra auf der Bildfläche. Wir lernen, dass Gott immer dafür sorgt, dass seine Diener zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind.

Während bei der ersten Rückführung mit gut 40.000 Personen schon verhältnismäßig wenige Exiljuden ihre Komfortzone in Babylon verließen, waren es bei der zweiten Rückführung mit nur ca. 5.000 Personen deutlich weniger. Das spricht für sich. Das Interesse an dem, was Gott wichtig ist, sinkt in der Regel von Generation zu Generation. Dennoch gibt es immer Einzelne, denen Gottes Gedanken wichtig sind. Die Frage ist, ob wir dazu gehören.

Bei der ersten Rückführung standen der Opferdienst und das Haus Gottes im Vordergrund. Es geht zuerst um Gott und was Ihm wichtig ist. Bei der zweiten Rückführung geht es vor allem um das Gesetz Gottes – auf uns angewandt, um das Wort Gottes und seine Bedeutung für das Leben der Gläubigen. Bei der ersten Rückführung steht der kollektive Charakter der Arbeiter im Vordergrund, während es im zweiten Teil schwerpunktmäßig um die persönliche Aufgabe und den Dienst eines Einzelnen – Esra – geht.

Esra 7: Esras Reise und der königliche Empfehlungsbrief

Die Geschehnisse in diesem Kapitel sind erneut sehr lehrreich. Wir lernen einen Mann Gottes kennen, der nicht nur seine priesterliche Abstammung nachweisen konnte, sondern dem es vor allem am Herzen lag, das Gesetz seines Gottes zu erforschen, es zu tun und zu lehren. Er kam mit einer Empfehlung des Königs von Persien, der offensichtlich eine hohe Wertschätzung für Esra hatte und darüber hinaus durch eine gewisse Kenntnis des Gottes der Juden und seiner Gebote geprägt war. Esra kam nicht allein, sondern er konnte einige wenige motivieren, die Reise mit ihm anzutreten. Das Kapitel endet mit einem Lobpreis Esras, der sich bewusst war, dass er von der Güte Gottes lebte und nur deshalb etwas ausrichten konnte, weil die gute Hand seines Gottes über ihm war.

Verse 1–10: Esra reist nach Jerusalem

Esra – eine Hilfe

Zunächst wird der Mann vorgestellt, nach dem das Buch benannt ist und der im zweiten Teil der Berichterstattung eine wesentliche Rolle spielt. Der Name Esra bedeutet „Hilfe“. Das trifft für ihn auf zweifache Weise zu:

  1. Esra bekennt mehrfach, dass die (gute) Hand Gottes über ihm war (Kap 7,6.9.28; 8,18.22.31). Er fühlte sich – ähnlich wie es David in den Psalmen häufig sagt – ganz von Gottes Hilfe abhängig. Er nennt diesen Gott „seinen Gott“, weil er eine persönliche Beziehung zu Ihm hatte. Die Hand Gottes spricht einerseits von Schutz und Geborgenheit, andererseits von Kraft. Beides fand Esra in seinem Gott. Ohne seine Hilfe hätte er in Jerusalem nichts bewegen können. Paulus bezeugt vor seinem Richter, dass ihm Beistand von Gott zuteilwurde (Apg 26,22).
  2. Esra war eine Hilfe für andere. Er ging die Missstände in Jerusalem aktiv an und sorgte für eine Korrektur und ein Aufleben unter den zurückgekehrten Juden. Damit ist Esra ein Beispiel für alle, die im Volk Gottes zu seiner Ehre nützlich und hilfreich sein möchten. Ein Beispiel dafür ist im Neuen Testament Phöbe. Paulus bezeugt, dass diese Schwester vielen – sogar ihm selbst – ein Beistand gewesen ist (Röm 16,2).

Für uns stellt sich die Frage, ob wir erstens anerkennen, dass wir von der Hilfe Gottes abhängig sind, und ob wir zweitens bereit sind, unsererseits anderen zu helfen, wo es nötig ist.

Priester und Schriftgelehrter

Esra war zum einen ein Priester, zum anderen wurde er ein Schriftgelehrter.

  1. Priester: In Vers 5 wird er „Hauptpriester“ genannt (vgl. 2. Chr 19,11; 24,11; 26,20; 31,10), was als Synonym zu dem Titel „Hohepriester“ zu verstehen ist. Im Gegensatz zu einigen Priestern bei der ersten Rückkehr konnte Esra seinen Stammbaum einwandfrei nachweisen. Er war somit grundsätzlich qualifiziert, Priesterdienst auszuüben. Der weitere Verlauf der Geschichte zeigt, dass im Fall Esras jedoch nicht der Opferdienst im Vordergrund stand, sondern vielmehr der Dienst im Gebet und in der Fürbitte für das Volk. Für uns gilt heute, dass jeder Gläubige ein „Priester Gottes“ ist, der befähigt ist, geistliche Schlachtopfer zu bringen, d. h. der bevorzugt ist, in der Gegenwart Gottes über den Wert des Opfers Christi nachzudenken (1. Pet 2,5; Off 1,6). Unser „Stammbaum“ ist dabei nicht irgendeine menschliche Familie, sondern die neue Geburt aus Wasser und Geist (Joh 3,5). Ohne diese neue Geburt ist es unmöglich, Gott priesterlich zu dienen und Ihn anzubeten. Ob wir diesem Vorrecht allerdings nachkommen, ist eine andere Frage.
  2. Schriftgelehrter: Als Priester wurde man geboren, als Schriftgelehrter nicht. Man musste sich qualifizieren, um es zu werden. Ein Schriftgelehrter war nicht nur jemand, der lesen und schreiben konnte (was damals durchaus nicht üblich war). Er war häufig ein „Schreiber“1, so wie wir sie in den Königshäusern Judas in den Büchern Samuel, Könige und Chronika und auch in den Büchern Esra, Nehemia und Esther finden. Doch bei Esra war es mehr. Der Titel „Schriftgelehrter“ wurde ihm gegeben, weil er die bis dahin vorliegenden Bücher des Alten Testaments (vor allem die fünf Bücher Mose) kannte. Dazu war es notwendig, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.2 Der Geist Gottes nennt ihn deshalb einen „kundigen“ (oder gewandten) Schriftgelehrten. Wir werden später noch sehen, dass es dabei nicht um intellektuelle Fähigkeiten ging, sondern darum, dass Esra das, was er gelernt hatte, in die Praxis umsetzen wollte.3 Esra kannte die Schriften vor allem durch den persönlichen Umgang mit dem, der sie gegeben hatte. Er las und studierte die Schriften zuerst mit dem Herzen und praktizierte sie dann.

Es fällt auf, dass die Tätigkeit der Priester und Schriftgelehrten häufiger miteinander verbunden ist (vgl. 3. Mo 10,11 5. Mo 33,10; Mal 2,7). Um Priesterdienst ausüben zu können, musste man das Wort Gottes kennen. Eine neutestamentliche Parallele finden wir in Timotheus. Er war ein kundiger Mann, der von Kind auf die heiligen Schriften kannte. Das war ihm nicht in die Wiege gelegt, sondern ein Ergebnis fleißiger Arbeit.

Das Gesetz, in dem Esra sich auskannte, wird hier ausdrücklich das „Gesetz Moses“ genannt, das „der Herr, der Gott Israels, gegeben hatte“ (Vers 6). Mose war der Vermittler der Botschaft Gottes an das Volk. Der eigentliche Ursprung hingegen war Gott. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Wort Gottes zwar von Menschen aufgeschrieben worden ist (2. Pet 1,21), seinen eigentlichen Ursprung jedoch in Gott selbst hat (2. Tim 3,16).

Startpunkt und Zielpunkt

Die Reise selbst wird erst im nächsten Kapitel beschrieben. Sie dauerte etwa viereinhalb Monate. Die Entfernung von Babel nach Jerusalem betrug auf dem eingeschlagenen Weg ca. 1.500 km, weil man die Route entlang der großen Flüsse Euphrat und Tigris nahm und den Weg durch die Wüste vermied. Die gute Hand Gottes war wieder dabei.

Es scheint dem Heiligen Geist wichtig zu sein, uns vor der eigentlichen Beschreibung der Reise hier drei Dinge vorab mitzuteilen:

  1. wo die Reise begann, nämlich in Babel (Vers 6)
  2. welches Ziel die Reise hatte, nämlich Jerusalem (Vers 7)
  3. welchen Charakter die Reise hatte, nämlich ein Weg hinauf (Vers 7)

Diese drei Dinge gehören zusammen. Wer nicht aus Babel wegzieht, kann nie in Jerusalem ankommen. Das eine bedingt das andere. Und der Weg nach Jerusalem ist immer ein Weg „hinauf“ – er ist mühsam, doch er lohnt sich.4 Wer hingegen von Jerusalem weggeht, geht einen Weg „hinab“ (Lk 10,30), der selten gut ist. „Kein Kind Gottes, das seine himmlische Berufung versteht, kann sich damit zufrieden geben, in Babel zu wohnen“ (E. Dennett). Wir haben uns bereits daran erinnert, dass Jerusalem in seiner symbolischen Bedeutung von dem Platz spricht, wo Gott seinen Namen wohnen lasen will (5. Mo 12,5ff.; Ps 68,17; Mt 18,20). Babel hingegen ist in der Bibel durchweg ein Synonym für eine mit Gewalt herrschende götzendienerische Macht. Babel wird zum ersten Mal in 1. Mose 10,10 erwähnt. In 1. Mose 11,9 lesen wir dann, dass Gott gerade dort die Sprache der Menschen verwirrte. Wo Götzendienst und Verwirrung vorherrschen, ist es unmöglich, Gott zu dienen. Das gilt bis heute. Wer nicht bereit ist, die von Menschen geschaffenen religiösen Systeme (Babel) zu verlassen, wird nie wirklich erleben, was es bedeutet, Gott da anzubeten, wo der Herr in der Mitte der zwei oder drei gegenwärtig ist (Jerusalem).

Gott segnete Esra und war mit ihm. Gerade deshalb hatte er Gelingen vor dem König. Wir müssen bedenken, dass nicht nur die Juden in Jerusalem, sondern auch Esra in Babylon völlig von der Macht dieses Königs abhängig waren. Er nennt sich später der „König der Könige“ (Esra 7,12), was in einem gewissen Sinn zutraf. Diesem König schuldete Esra Gehorsam, ebenso wie wir den Obrigkeiten untertan sein sollen (Röm 13,1). Häufig stehen die Welt und ihre Regenten den Christen feindlich gegenüber. Doch das ist nicht immer so. Bei Daniel war es anders. Bei Esra und Nehemia war es anders. Bei den ersten Christen war es ebenfalls anders (vgl. Apg 2,47). Gott lenkt die Herzen der Menschen, wie Er es will (Spr 21,1) und wenn sie uns freundlich gesonnen sind, können wir das von Herzen – im positiven Sinn des Wortes – im Sinn des Werkes unseres Herrn nutzen. Vers 6 sagt ausdrücklich, dass der König ihm „all sein Begehr“ gab. Wenn unser Begehren nicht auf irdische Dinge, sondern auf geistliche Dinge und das Werk unseres Gottes gerichtet ist, können wir davon ausgehen, dass Gott unsere Wünsche ebenfalls erfüllt. Wenn es jedoch nichtige und eitle Dinge sind, nach denen wir streben, haben wir keinerlei Zusage Gottes.

Eine Motivation für andere

Esra reiste nicht allein, sondern er nahm andere mit (Vers 7). Das gute Beispiel Esras steckte an. Die Braut im Hohelied sagt: „Zieh mich: Wir werden dir nachlaufen“ (Hld 1,4). Das Beispiel einer einzigen Person kann andere motivieren, es ebenso zu machen. Wir müssen nicht darauf warten, bis andere die Initiative nehmen, sondern sollen mit gutem Beispiel vorangehen und in diesem Sinn „Leuchttürme“ für andere sein. Wieder sind Priester, Leviten, Sänger, Torhüter und Nethinim dabei. Wie bereits bemerkt, waren es insgesamt deutlich weniger als bei der ersten Rückführung. Dennoch nennt Gott sie „einige von den Kindern Israel“ (Vers 7). Der Schreiber sieht den kleinen Überrest immer wieder als das Volk Gottes.

Der Herzensentschluss Esras

Vers 10 schließt diesen ersten einleitenden Teil ab und gibt in wenigen Worten eine markante Beschreibung Esras. Er hatte „sein Herz darauf gerichtet, das Gesetz des Herrn zu erforschen und zu tun und in Israel Satzung und Recht zu lehren“. Wir sahen schon, dass er ein Schriftkundiger war. Dazu waren Fleiß und Energie nötig. Doch jetzt lässt Gott uns einen Blick in sein Herz tun. Es war weniger eine Frage des Intellekts, sondern vielmehr eine Frage des Herzens. Das Herz steht in der Bibel häufig für das Innere des Menschen. Es zeigt uns etwas von unseren Empfindungen. Doch nicht nur das. Das Herz ist zugleich die Schaltzentrale des Menschen. Vom Herzen aus sind die „Ausgänge des Lebens“, und gerade deshalb sollen wir es mehr als alles andere bewahren (Spr 4,23). Im Herzen treffen wir die wichtigen Entscheidungen, die unser Leben prägen. So gesehen hat das Herz etwas mit unserem Willen zu tun. Deshalb möchte Gott unser Herz haben (Spr 23,26). Das Herz Esras gehörte Gott, und deshalb fasste er einen wichtigen Herzensentschluss, der uns zugleich zeigt, dass Esra ein demütiger Mann war. Er streckte sich nicht nach großen Dingen aus, sondern wollte seinem Gott treu dienen und seinem Volk eine Hilfe sein. Gerade deshalb erfuhr er die Gnade und Hilfe Gottes (vgl. Jak 4,6).

Der Herzensentschluss Esras wird uns in drei Punkten mitgeteilt:

  1. Das Gesetz des Herrn erforschen: Für Esra war es das Gesetz des Herrn, über das er im Herzen intensiv nachdenken wollte, um es besser kennenzulernen. Für uns ist es das ganze Wort Gottes. Bibelstudium ist nicht zuerst etwas für den Kopf, sondern wir lernen mit dem Herzen. Paulus spricht in Epheser 1,18 von erleuchteten Augen des Herzens. Dieses Wort mit dem Herzen zu erforschen bedeutet, dass es uns innerlich prägt. Intellektuelle Kenntnis bläht nur auf (1. Kor 8,1). Das Wort Gottes mit dem Herzen zu erforschen, geht im Übrigen immer Hand in Hand mit Gebet (vgl. Dan 9,3). In seinem Wort redet Gott zu uns. Im Gebet reden wir zu Ihm.
  1. Das Gesetz des Herrn tun: Das war der Grund, warum Gott das Gesetz gegeben hatte. Es war die Lebensregel für sein irdisches Volk. Es war Esras Wunsch, dass sein Herz, sein Leben und seine Wege durch das Gesetz Gottes geprägt wurden und er auf diese Weise Gott wohlgefällig leben und Ihm dienen konnte. Für uns gilt das analog für das, was Gott uns in der Bibel mitteilt. Wenn wir das Wort Gottes nur studieren, ohne es im täglichen Leben zu verwirklichen, wird uns die Erkenntnis nur aufblähen. Das Beispiel der Pharisäer im Neuen Testament zeigt das deutlich. Gesundes Bibelstudium muss zu einem gesunden Verhalten führen, sonst gerät das Leben in eine Schieflage. Wer das Wort Gottes wirklich innerlich (mit dem Herzen) aufnimmt, wird in seinem Leben davon geprägt werden. Das gilt für das persönliche Leben, das Eheleben, das Familienleben, das Berufsleben, und es gilt für das gemeinsame Leben der Kinder Gottes (Versammlungsleben). Es muss unser Wunsch sein, im Lebensalltag mit Gottes Wort übereinstimmend zu leben. Nur so ist wirkliches geistliches Wachstum möglich. Ohne die Bereitschaft, das Wort Gottes auszuleben, werden wir geistlich nicht wachsen.
  1. In Israel Satzung und Recht lehren: Esra wollte das, was er gelernt hatte, nicht für sich behalten. Er hatte den Wunsch, es anderen mitzuteilen. „Satzung(en) und Recht(e)“ werden auch an anderen Stellen zusammen erwähnt (z. B. 2. Mo 15,25; 5. Mo 4,5; Jos 24,25). Sie beschreiben die gerechten Anforderungen Gottes an sein Volk, die sie nicht nur kennen, sondern tun sollten – und zwar mit ganzem Herzen (vgl. 5. Mo 26,16). Für uns sind es nicht „Satzung und Recht“, sondern die Gesamtheit dessen, was Gott uns mitgeteilt hat. Der Wunsch, das mit anderen zu teilen, was wir selbst gelernt haben, ist gut. Dazu ist keine spezielle (Lehr)Gabe erforderlich, sondern jeder ist angesprochen. Dieses „Lehren“ beginnt in der Familie und setzt sich im Volk Gottes fort (z. B. Kinderstunde, Jugendstunde). Natürlich ist die Belehrung in der Versammlung durch die von Gott gegebenen Gaben darin eingeschlossen. Im Neuen Testament sehen wir, dass Männer wie Timotheus und Titus ausdrücklich dazu aufgefordert werden, andere zu lehren (1. Tim 4,11.13.16; 2. Tim 2,2; 4,2; Tit 2,1). Diese Unterweisung ist ein wichtiges Element des christlichen Lebens. Sie darf weder in den Familien noch in der Versammlung fehlen. E. Dennett richtet ein ernstes Wort besonders an solche, die diesen Dienst öffentlich tun. Er schreibt: „Immer, wenn der Diener den Zustand seines Herzens übersieht und die Wirkung des Verstandes in göttlichen Dingen zu sehr betont, ist seine Seele einer der gefährlichsten Versuchungen Satans ausgesetzt.“

Es ist offenkundig, dass man die Reihenfolge nicht umdrehen kann. Es beginnt mit dem persönlichen Studium, um Gottes Gedanken für unser Leben kennenzulernen. Danach können wir Gottes Willen im Alltag praktizieren, und nur dann ist die Belehrung anderer authentisch und kann angenommen werden.

Man kann diese drei Punkte mit der dreifachen persönlichen Ansprache des Paulus an Timotheus („du aber“) in seinem zweiten Brief vergleichen:

  1. Es beginnt mit der Erkenntnis, eine Folge des Erforschens: „Du aber hast genau erkannt meine Lehre, mein Betragen, meinen Vorsatz, meinen Glauben, meine Langmut, meine Liebe, mein Ausharren“ (2. Tim 3,10).
  2. Es setzt sich fort, indem man in dem bleibt, was man gelernt hat, und das schließt das praktische Verhalten ein: „Du aber bleibe in dem, was du gelernt hast und wovon du völlig überzeugt bist, da du weißt, von wem du gelernt hast“ (2. Tim 3,14).
  3. Schließlich sind wir in der Lage, einen Dienst an anderen zu tun und darin konstant zu sein: „Du aber sei nüchtern in allem, leide Trübsal, tu das Werk eines Evangelisten, vollführe deinen Dienst“ (2. Tim 4,5).

Wir wollen von Esras Herzensentschluss ebenso lernen wie von dem anderer Männer Gottes, z. B. Josaphat (2. Chr 19,3), Jehiskia (2. Chr 30,19) und Daniel (Dan 1,8). Eine Warnung ist das Verhalten der Kinder Juda, von denen wir in 2. Chronika 20,33 lesen, dass sie ihr Herz noch nicht auf den Gott ihrer Väter gerichtet hatten. Im Neuen Testament denken wir an Barnabas, der die Gläubigen in Antiochien aufforderte, mit Herzensentschluss bei dem Herrn zu verharren (Apg 11,23).

Verse 11–26: Artasasta schreibt einen Brief

Der zweite Teil des Kapitels gibt den Inhalt eines Briefes wieder, den der persische König Artasasta schrieb. Er wendet sich hauptsächlich an Esra, zum Teil jedoch an die Schatzmeister der Gegenden, die die Reisenden durchqueren würden (Verse 21 bis 24). Wenn wir den Brief in seiner Gesamtheit auf uns einwirken lassen, erkennen wir erstens, dass Gott souverän ist, wenn Er seine Werkzeuge aussucht. War es in Kapitel 1 Kores, ist es hier Artasasta, dessen Herz die Gnade Gottes berührt hatte. Darüber hinaus lernen wir zweitens etwas von dem Charakter und der Einsicht dieses heidnischen Königs, der offensichtlich Kenntnisse über den jüdischen Gottesdienst besaß:

  • Er hatte eine gewisse Kenntnis Gottes, den er den „Gott des Himmels“, den „Gott Israels“ und den „Gott Esras“ nennt. Darüber hinaus spricht er sogar von dem „Herrn“ (Jahwe). Wie weit diese Kenntnis ging, bleibt offen. Es ist nicht davon auszugehen, dass er diesen Gott als den alleinigen Gott anerkannte, wohl aber, dass er Ihm einen besonderen Platz unter den Göttern gab, die er kannte. Sonst hätte er Ihn wohl kaum als den „Gott des Himmels“ bezeichnet.
  • Sein Herz war für die Sache Esras und seines Volkes berührt, und das war ohne Frage ein Ergebnis göttlichen Handelns. Gott kann das Herz jedes Menschen so bewegen, wie Er es will.
  • Er kannte Esra als Schriftgelehrten und hatte genaue Kenntnis von dessen Qualifikation und der hohen Integrität. Er wusste, dass Esra ein Priester und Schriftgelehrter war, und zwar „in den Worten der Gebote des Herrn und seinen Satzungen für Israel“ (Vers 11). Er nennt ihn sogar „den vollkommenen Schriftgelehrten im Gesetz des Gottes des Himmels“ (Vers 12).5 Ein solches Zeugnis konnte nur gegeben werden, weil sich Esra am Hof des Königs vorbildlich verhalten haben muss. Ihm konnte nichts vorgeworfen werden. Ganz im Gegenteil: Er war ein lebendiges Zeugnis seines Gottes und steht damit erneut als positives Beispiel vor uns.
  • Er hatte Vertrauen zu Esra und stattete ihn deshalb mit weitgehenden Kompetenzen aus. Es ist anzunehmen, dass Esra – ähnlich wie Nehemia – am Hof des Königs gearbeitet und sich dort bewährt hatte.
  • Er spricht von der Wohnung Gottes in Jerusalem. Sogar darüber hatte er Kenntnis, obwohl Jerusalem nach wie vor weitgehend zerstört war und im Persischen Reich kaum eine Rolle spielte. Für uns gilt, dass es nur eine Wohnung Gottes gibt, das ist die „Versammlung des lebendigen Gottes“, eine „Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22). Hinzu kommt, dass er erstaunlich gut über den Opferdienst Bescheid wusste. Er konnte zwischen Tieropfern, Speisopfern und Trankopfern unterscheiden (Vers 17).

Freiwillige Herzen

Es fällt auf, dass der König einerseits einen klaren Befehl gibt (vgl. Kap 1,3) und doch zugleich an die Bereitwilligkeit und Freiwilligkeit der Herzen appelliert (Verse 13 und 16). Für uns liegt darin ein Hinweis, dass es nach Gottes Willen ist, den Ort aufzusuchen, wo Er seinen Namen wohnen lassen will (Mt 18,20), und dass es ebenfalls nach dem Willen Gottes ist, Ihn anzubeten. Zugleich zwingt Gott niemand, sondern appelliert an Herzen, die Ihm freiwillig entgegenschlagen. Der Herr sagt ausdrücklich, dass der Vater Anbeter sucht (Joh 4,23). Anbetung kann man nicht befehlen. Sie muss aus freiwilligen und bereitwilligen Herzen kommen. Das Neue Testament bezieht sich mehrfach auf solche, die bereitwillig waren bzw. bereitwillig etwas taten (Apg 17,11; Röm 1,15; 1. Pet 5,2). Gott möchte Menschen um sich haben, die Ihm bereitwillig dienen.

Anweisungen an Esra

Esra bekommt ein ganzes Aufgabenpaket von dem König übertragen. Mit der gebotenen Vorsicht können wir darin etwas von dem erkennen, was der göttliche Wille für uns ist: 6

  1. Esra sollte eine Untersuchung über Juda und Jerusalem anstellen, und zwar nach dem Gesetz Gottes (Vers 14). Für uns gilt, dass alles, was in unserem persönlichen und gemeinschaftlichen Leben getan wird, den Anweisungen des Wortes Gottes entsprechen sollte und dem Wort entsprechend beurteilt wird. Einen anderen Maßstab gibt es nicht.
  1. Esra sollte alles Silber und Gold sowie die freiwilligen Gaben nach Jerusalem bringen (Verse 15 und 16). Für uns gilt, dass es auch im Haus Gottes eine Administration finanzieller Gaben (Kollekte) gibt, die sorgfältig und unter der Weisung des Heiligen Geistes erfolgen soll. Dieses Geld soll sorgfältig verwaltet werden. Paulus legt gerade auf diesen Punkt einen großen Wert und spricht in seinen Briefen mehrfach darüber.
  1. Esra sollte für das Geld das kaufen, was für den Opferdienst nötig war (Tieropfer, Speisopfer, Trankopfer). Darin sollte er gewissenhaft handeln (Vers 17). Für uns gilt, dass in Babel (Verwirrung, Götzendienst) kein wahrer Gottesdienst möglich ist, sondern nur in Jerusalem (da, wo wir zum Namen des Herrn versammelt sind). Gott wartet darauf, dass wir zubereitete Herzen haben, um Ihm Opfer des Lobes (geistliche Schlachtopfer) zu bringen.
  1. Esra sollte mit dem, was übrigblieb, so verfahren, wie es ihm gut erschien, jedoch dabei nach dem Willen Gottes handeln (Vers 18). Für uns gilt, dass es im Haus Gottes (der Versammlung) manche Entscheidungen gibt, für die uns Gott keine direkten Anweisungen gibt. Dennoch ist es erforderlich, in jedem einzelnen Fall unter Gebet und der Leitung des Heiligen Geistes nach seinem Willen zu fragen.
  1. Esra sollte die Geräte, die ihm zum Dienst des Hauses Gottes gegeben waren, abliefern – und zwar vor dem Gott Jerusalems (Vers 19). Es ging dabei offensichtlich um Geschenke des Königs (Esra 8,25.27) und nicht um die Geräte, die Nebukadnezar weggenommen hatte. Diese Geräte waren bereits nach Jerusalem zurückgebracht worden (Esra 1,7). Für uns gilt, dass wir gut bedenken sollten, dass alles, was im Haus Gottes getan und eingesetzt wird, „vor dem Gott Jerusalems“, d. h. vor seinem Auge geschieht. Das gibt uns einerseits Mut und macht uns andererseits vorsichtig.
  1. Esra sollte aus dem Schatzhaus des Königs das nehmen, was er noch brauchen würde (Vers 20). Der Bedarf im Haus Gottes ist groß, und Gott weiß genau, was nötig ist, um Ihm Anbetung zu bringen. Letztlich gehört alles – auch das, was im Schatzhaus des Königs ist – unserem Gott (Hag 2,8). Für uns gilt, dass wir sicher sein können, dass es unserem Gott nie an Hilfsmitteln fehlt. Er hat unbegrenzte Möglichkeiten und kann die Herzen von Menschen bewegen, das zu geben, was notwendig ist.
  1. Esra sollte nach der Weisheit seines Gottes Richter und Rechtspfleger einsetzen, die das Volk richteten. Maßstab der Beurteilung sollte wiederum das Gesetz Gottes sein (Vers 25). Für uns gilt, dass es Älteste und Aufseher im Haus Gottes gibt, die Er einer örtlichen Versammlung gibt. Eine solche Führung ist notwendig. Solche Brüder kennen wiederum nur eine Grundlage für ihren Dienst, nämlich das Wort Gottes, d. h. ihr Dienst kann niemals nach eigenem Ermessen geschehen.
  1. Esra sollte jeden lehren, der das Gesetz Gottes nicht kannte. Für uns gilt, dass Unkenntnis im Volk Gottes nicht einfach hingenommen werden kann. In Jesaja 5,13 und Hosea 4,6 klagt Gott über einen „Mangel an Erkenntnis“ in seinem Volk. Das soll nicht sein. Gott möchte, dass in seinem Haus eine gesunde Belehrung gegeben wird.

Der König sagt jedoch nicht nur, was Esra tun soll, sondern er sagt ihm zugleich, wie er es tun soll. Für jeden Diener Gottes ist es unerlässlich zu wissen, was er tun soll und wie er etwas tun soll. Der König gibt einen dreifachen Maßstab an:

  1. Vers 14: „Nach dem Gesetz Gottes“: Das Wort Gottes ist für uns der erste Maßstab, an dem wir das, was wir tun, prüfen – entspricht es dem ausdrücklichen Willen Gottes oder ist es gegen den Willen Gottes.
  2. Vers 18: „Nach dem Willen Gottes“: Es mag Situationen geben, in denen das Wort Gottes keine klare Wegweisung gibt. Dann gilt es zu prüfen, ob eine Sache dem Willen Gottes entspricht oder ob sie Ihm nicht gefällt.
  3. Vers 25: „Nach der Weisheit Gottes“. Es wird ausdrücklich gesagt, dass diese Weisheit Gottes bei Esra (eigentlich: in seiner Hand) war. Dies ist ein weiterer Prüfstein. Ist etwas, das wir als Diener Gottes tun möchten, weise oder ist es unweise? Es mag sein, dass eine bestimmte Sache weder dem Wort Gottes noch dem Willen Gottes widerspricht, und doch kann es unweise sein, sie zu tun.

Am Ende kündigt der König eine drastische Strafe an, wenn jemand sich bewusst gegen die Gesetze Gottes und die Gesetze des Königs stellt (Vers 26). Es ist bemerkenswert, dass er das Gesetz Gottes vor das Gesetz des Königs stellt. Für uns gilt, dass nur das Wort Gottes Maßstab für unser Handeln sein kann. Es geht nicht um Meinungen von Menschen, sondern um das Wort Gottes und den Willen Gottes. Dieses Wort hat in allen örtlichen Versammlungen – die letztlich nichts anderes sind als eine Darstellung der einen weltweiten Versammlung (vgl. z. B. 1. Kor 7,17; 14,33) – die alleinige Autorität.

Anweisungen an die Schatzmeister

Zum Schutz vor unangemessenem Zugriff auf die Gaben für das Haus Gottes gibt der König nicht nur Anweisungen an Esra, sondern auch an die Schatzmeister der Landschaften jenseits des Stromes. Sie sollten nicht nur von dem nehmen, was Esra bei sich hatte, sondern sie sollten ihm sogar von ihren eigenen Ressourcen geben, um die Arbeit am Haus Gottes zu unterstützen. Wir erkennen darin erneut, wie sehr Gott das Herz des Königs geneigt hat, Esra gegenüber mehr als wohlwollend zu agieren. In der Tat, Er lenkt die Herzen von Königen wie Wasserbäche (Spr 21,1).

Verse 27–28: Esra dankt seinem Gott

Der Schluss des Kapitels enthält einen wunderbaren Lobpreis Esras, der uns an die verschiedenen Doxologien im Neuen Testament erinnert, besonders an die drei Stellen, in denen wir lesen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (2. Kor 1,3; Eph 1,3; 1. Pet 1,3).

Ein Lobpreis

Esra stand nicht in einer Beziehung zu Gott als seinem Vater (so wie wir). Dennoch kannte er Ihn als seinen Gott und den Gott Israels, und es war ihm ein Bedürfnis, diesen Gott zu preisen. Er dankt Ihm nicht nur, sondern er geht einen Schritt weiter und preist Ihn für seine wunderbaren Taten.7 Zwei Dinge fallen auf:

  1. Der Adressat des Lobpreises: Anders als Artasasta wendet er sich hier nicht an den „Gott des Himmels“, sondern spricht dreimal von dem „Herrn“ und einmal sogar von „dem Herrn, dem Gott unserer Väter“, ein Ausdruck, den wir fünfmal im Alten und dreimal im Neuen Testament finden. Das erinnert zum einen daran, dass Gott sich nicht ändern kann. Er ist der ewige „Ich bin, der ich bin“ (2. Mo 3,14; vgl. Mal 3,16). Für uns ist das ein Hinweis darauf, dass Jesus Christus immer derselbe ist (Heb 13,8). Zum anderen erinnert er sich an die den Vätern gegebenen Zusagen, die ganz sicher erfüllt werden würden. Für uns ist das ein Hinweis darauf, dass Gott alle Zusagen in Christus realisieren wird (2. Kor 1,20). Auf seine Zusagen können wir uns stützen – für unser persönliches Leben ebenso wie für das Versammlungsleben.
  2. Der Inhalt des Lobpreises: Esra ist sich zum einen der Tatsache bewusst, dass Gott es in das Herz des Königs gegeben hatte, das Haus des Herrn zu verherrlichen, das in Jerusalem ist. Wir erkennen erneut, wie sehr dieses Haus Esra am Herzen lag, das nur in Jerusalem zu finden war. Es schreibt es nicht seinem eigenen Verhalten zu, das den König veranlasst hatte, ihm Güte zu erweisen (obwohl Gott das Verhalten Esras sicher benutzt hatte). Zum anderen ist sich Esra der Tatsache bewusst, dass Gott ihm Güte zugewandt hatte. Er nimmt bescheiden alles aus der Hand seines Gottes an.

Häupter aus Israel

Das Kapitel endet mit dem Hinweis darauf, dass Esra erstarkte, weil die Hand des Herrn, seines Gottes, über ihm war. Nur deshalb konnte er Häupter aus Israel versammeln, um mit ihm hinaufzuziehen. Esra zeigt sich hier als echter Glaubensmann, der alles auf Gott zurückführt. Es war nicht seine Bitte (Vers 6), die den König zum Handeln veranlasst hatte. Es war nicht der Einfluss Esras, seine eigene Kraft oder Fähigkeit, sondern Gott, der alles in seiner Hand hatte.

Erneut fällt auf, dass er sie „Häupter aus Israel“ nennt und nicht von „Häuptern aus Juda und Benjamin“ spricht. Die Betonung liegt auf der Einheit des Volkes. Wir erkennen einmal mehr, wie sehr Esra in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes über sein Volk war und sich nicht von dem schwachen und armseligen Zustand dieses Volkes beeinflussen ließ. Die Einheit des Volkes Gottes ist ein für unseren Gott wichtiger Gedanke. Es bleibt wahr, dass da „ein Leib“ ist (Eph 4,4). Selbst wenn man in Zeiten von Zersplitterung und Trennung davon leider nichts sieht, bleibt es dennoch eine göttliche Wahrheit, an der wir unbedingt festhalten wollen.

Esra 8: Die Rückkehrer und ihre geistliche Verfassung

Dieses Kapitel beschreibt die Reise der Rückkehrer unter Esra, die in Kapitel 7 nur kurz erwähnt wurde. Dabei geht es vor allem um die geistliche Verfassung derer, die Babel den Rücken kehrten, um nach Jerusalem zu kommen. Ein besonderer Schwerpunkt ist die Vorbereitung auf die Reise und die Ankunft in Jerusalem.

Verse 1–14: Esras Reisebegleiter

Dieser erste Abschnitt listet alle Männlichen auf, die mit Esra aus Babylon wegzogen. Ein Vergleich mit der Namenliste in Kapitel 2 drängt sich auf. Er zeigt gewisse Parallelen, aber er zeigt auch Unterschiede:

  • In beiden Fällen war es ein Weg von Babel weg und hinauf nach Jerusalem. Es scheint dem Heiligen Geist wichtig, das zu wiederholen. Für die Rückkehrer war es ein geographischer Anstieg. Für uns liegt darin eine geistliche Belehrung. Wenn wir geistlich wachsen wollen (Aufstieg), ist das nur möglich, wenn wir Babel (Verwirrung, Götzendienst) verlassen. Das eine schließt das andere aus. Diese Rückkehrer – vor allem Esra – gleichen dem Gerechten, dessen Pfad wie das glänzende Morgenlicht ist, das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe (Spr 4,18).
  • Insgesamt werden zwölf Familien (Sippen) aufgelistet. Einige Familien wurden bereits in Kapitel 2 erwähnt, d. h. einige aus diesen Familien waren bereits früher zurückgekehrt, andere kamen erst später. Das gibt Mut, wenn wir an Familien denken, die sich geistlich zu einem Teil noch in Babel befinden, während andere bereits geistlich in Jerusalem angekommen ist. Der Herr kann sie zu einem späteren Zeitpunkt erwecken. Andere Familien werden hier zum ersten Mal überhaupt erwähnt und fehlen in Kapitel 2.
  • Wie bereits erwähnt, waren es bei der zweiten Rückkehr deutlich weniger als bei der ersten. Alles in allem mögen es etwa 5.000 Personen gewesen sein, etwas mehr als 5 Prozent im Vergleich zur ersten Rückkehr.8 Dennoch zählt jeder einzelne Rückkehrer für Gott. Wenn es um den Weg von Babel nach Jerusalem geht, müssen wir nicht mit großen Zahlen rechnen. Die meisten werden die Bequemlichkeit in Babel vorziehen. Dennoch müssen wir nicht mit der Masse schwimmen. Gott freut sich über jeden, dem sein Wort wichtig ist und der sich für Jerusalem (den Ort des Zusammenkommens zu seinem Namen hin) interessiert. Für uns sollte das eine Motivation sein, es ihnen gleich zu tun und diesen Ort von ganzem Herzen zu lieben.
  • Die Priester werden hier am Anfang (und nicht am Ende) erwähnt. Das mag daran liegen, dass Esra selbst ein Priester war und diese Tatsache den zweiten Teil des Buches prägt. Wieder geht es um das Geschlechtsregister, doch hier ist es vollständig und lückenlos. Esra achtete darauf, dass nur solche mitzogen, die ihre Abstammung wirklich nachweisen konnten. Für uns mag darin der Gedanke liegen, dass trotz der deutlich kleineren Anzahl die innere Verfassung der Rückkehrer besser war als bei der ersten Rückkehr. Es ist sicher wahr, dass die Anzahl derer, die sich für den Ort der Gegenwart Gottes interessieren, nicht unbedingt wächst. Das heißt im Umkehrschluss allerdings nicht, dass deren innerer geistlicher Zustand zwangsläufig schwächer ist. Manchmal ist das Gegenteil der Fall. Ein erstes Aufleben ist manchmal mit negativen Elementen verbunden. Nachfolgende Bewegungen mögen kleiner sein, häufig tragen sie jedoch mehr die Charakterzüge des Geistes Gottes, wie z. B. Einsicht, Demütigung, Fasten und Gebet.9

Verse 15–30: Versammlung und Vorbereitung am Fluss Ahawa

Drei Tage Wartezeit

Die Reisegruppe lagert zunächst drei Tage am Fluss Ahawa. Es ist unklar, um welchen Fluss es sich handelt. Vielleicht war es ein Nebenfluss des Tigris. Jedenfalls erinnert er an die Flüsse Babels und die Not und das Elend der dorthin Deportierten – zumindest soweit sie Sehnsucht nach Jerusalem hatten (vgl. Ps 137). In Vers 15 wird – wie in Vers 32 – eine Wartezeit von drei Tagen angegeben (vgl. Neh 2,11; Jos 1,11; 3,2). Einige Ausleger sehen darin die Vergegenwärtigung des Todes und der Auferstehung des Herrn Jesus als Voraussetzung für unsere grundsätzliche Stellung der Trennung von der Welt – die religiöse Welt (Babel) eingeschlossen. Andere Ausleger sehen in der Zahl drei einen Hinweis auf die vollständige Abhängigkeit im Blick auf den Willen Gottes. So oder so: Es ist eine Zeit der Sammlung, des Wartens, der Demütigung und des Gebets. Obwohl Esra klar war, was er tun wollte, handelte er dennoch nicht überstürzt. „Wer glaubt, wird nicht ängstlich eilen“ (Jes 28,16).

Mangel an Leviten

In dieser Zeit des Wartens verschafft sich Esra einen Überblick und stellt enttäuscht fest, dass nur zwei Priesterhäupter da sind, nämlich Gersom von den Söhnen Pinehas’ und Daniel von den Söhnen Ithamars (Vers 2). Noch schlechter sah es bei den Leviten aus – den Dienern am Haus Gottes. Obwohl Esra suchte, fand er keinen einzigen Leviten. Schon beim ersten Auszug aus Babel waren die Leviten mit nur 74 Personen sehr schlecht vertreten (Esra 2,40). Nun ist überhaupt kein Levit anwesend. Ist es nicht traurig, dass sich gerade diejenigen verweigern, von denen man es am wenigsten erwartet hätte?

Man kann daraus nur schlussfolgern, dass sie kein Interesse an dem Dienst im Haus Gottes hatten. Scheinbar war es für sie angenehmer, in Babel zu leben und es sich dort gut gehen zu lassen, als nach Jerusalem hinauf zu gehen und dort dem Herrn zu dienen. Für uns liegt darin der Hinweis, dass wir in Gefahr stehen, die Annehmlichkeiten der Welt (die religiöse Welt wiederum eingeschlossen) den Mühen des Dienstes für Gott vorzuziehen. Das bedeutet zugleich, dass wir dann eine geistliche Gnadengabe vernachlässigen (vgl. 1. Tim 4,14) oder vollständig brach liegen lassen. Der Herr warnt ausdrücklich davor, eine Lampe unter dem Scheffel (Arbeit und Beschäftigung) oder dem Bett (Ruhe und Bequemlichkeit) zu verstecken (Mk 4,21). H. Rossier stellt dazu einige herzerforschende Fragen: „Wo sind heute die Diener unter dem Volk Gottes? Wo sind diejenigen, die dem Haus Gottes dienen und die Funktion ausüben, die Gott ihnen gegeben hat? Warum dieser Mangel, warum diese Not? Diejenigen, die unter den Nationen bleiben wollten, mochten auf ihre Aufgaben und Beschäftigungen verweisen, doch sollte das Haus Gottes ohne Mitarbeiter sein? Sollten sie nicht ihre Position und ihr Interesse gerne opfern, um den Herrn an dem Ort zu dienen, wo Er ihren Dienst sehen wollte?“

Esra gibt sich damit nicht zufrieden. Es hält es sehr genau und war in dieser Frage nicht gleichgültig. Er wusste, dass Leviten nötig waren. So sandte er Anführer und einsichtige Männer zu Iddo und zu seinem Bruder, um Diener für das Haus Gottes zu senden. Er gleicht in seinem Engagement unserem Herrn, den der Eifer um das Haus Gottes verzehrte (Ps 69,10; Joh 2,17). Esra empfand es sehr schmerzlich, dass niemand da war, der am Haus Gottes dienen wollte, denn gerade dieses Haus und die Ehre dessen, dem das Haus gehörte, lagen ihm am Herzen.

Bis heute sind „Diener für das Haus unseres Gottes“ nötig. Es ist gut, wenn es Männer gibt, die Häupter sind (d. h. Verantwortung übernehmen) und zugleich Einsicht haben, um der vorhandenen Schwachheit zu begegnen. Männer, die Eifer für das Haus Gottes zeigen, um wiederum andere zu motivieren, die Gott befähigt hat, in seinem Haus zu dienen. Wenn wir die Briefe von Paulus lesen, finden wir wiederholt Motivationen zum Dienst. Bis heute können wir andere motivieren. Wir können niemand aussenden, dennoch können wir motivieren und vor allem den Herrn der Ernte bitten, dass Er Arbeiter aussendet (Lk 10,2). Das schließt den Dienst der Mission (des Evangeliums) im weitesten Sinn und den Dienst unter Gläubigen ein. Beides ist mit dem Haus Gottes verbunden.

Bei allem erwartete Esra alles von seinem Gott und schaute auf Ihn. Wenn er handelte, tat er es in dem Bewusstsein der guten Hand Gottes. Gott belohnt den Glauben und die Entschiedenheit Esras. Gewiss, es waren wenige, die kamen, doch der Heilige Geist registriert sie.

Nethinim

Es kamen nicht nur Leviten, sondern auch Nethinim – und zwar deutlich mehr als Leviten. Der Text spricht von 220 Personen, die alle mit Namen angegeben waren (Vers 20). Die Nethinim werden im Buch Esra siebenmal erwähnt (Esra 2,43.58.70; 7,7.24; 8,17.20). Wer genau sie waren, wissen wir nicht. Hier wird jedoch gesagt, dass David sie den Leviten zur Unterstützung gegeben hatte. Ihr Name bedeutet „die Gegebenen“. Es waren untergeordnete Tempeldiener.10 Es gibt keinen Priesterdienst ohne den Dienst der Leviten, und es gibt keinen Levitendienst ohne den Dienst der Nethinim. Solche Männer gehören zu einer Erweckung und werden im Haus Gottes gebraucht. Sie besitzen nicht die Gabe eines Evangelisten, Hirten oder Lehrers und werden dennoch unbedingt gebraucht. Wir schauen häufig auf solche, die im Vordergrund stehen und einen öffentlichen Dienst tun. 1. Korinther 12 lehrt uns jedoch eindeutig, dass es andere Gnadengaben gibt, wie z. B. die der Hilfeleistungen, die wir nicht gering achten sollten (1. Kor 12,21–25).

Gebet und Fasten am Fluss Ahawa

Die Verse 21 bis 23 beschreiben das Fasten der Reisegruppe am Fluss. Dieses Fasten ist mit Demütigung11 und Fürbitte verbunden (Verse 21 und 23). Ziel war es, einen geebneten Weg zu erbitten. Der geebnete (d. h. der gerade oder richtige) Weg kommt in der Bibel häufiger vor (z. B. Ps 107,7; Jer 31,9; Hos 14,10). Voraussetzung für einen geebneten Weg für die Füße sind gebahnte Wege im Herzen (Ps 84,6). Wir denken an unseren Herrn, der nach einem intensiven Gebet auf einem ebenen Platz stand (Lk 6,17). Vielleicht dachte Esra an die Zusagen Gottes, der versprochen hatte, das Höckerige zur Ebene zu machen (Jes 42,16; 45,2). Die Bitte um einen geebneten Weg ist umso interessanter, weil die Reisenden genau wussten, dass der Weg nach Jerusalem steil nach oben ging. Dennoch vertrauten sie darauf, dass dieser Weg „geebnet“ sein würde. Im geistlichen Leben kann gerade ein Weg „hinauf“ ein ebener Weg sein. Das Gebet schloss die Kinder und die Habe mit ein (Vers 21). Darin liegt für uns der wichtige Hinweis, für unsere Kinder zu beten. Jeremia hatte schon gesagt: „Hebe deine Hände zu ihm empor für die Seele deiner Kinder“ (Klgl 2,19).12 Kinder sind eine besondere Gabe der Gnade Gottes (vgl. 1. Mo 33,5) und deshalb hat das Gebet für sie um Bewahrung einen hohen Stellenwert. Selbst die Habe war ihnen nicht gleichgültig. Was immer Gott uns in die Hand gegeben hat, soll bewahrt werden, und deshalb ist Gebet erforderlich.

Im Alten Testament gibt es häufige Hinweise auf das Fasten.13 Im Neuen Testament wird es ebenfalls erwähnt. Unser Herr hat als Mensch auf dieser Erde gefastet (Mt 4,2). In der Apostelgeschichte und den Briefen finden wir ebenfalls Hinweise darauf, dass die ersten Christen gefastet haben (z. B. Apg 13,2; 14,23; 2. Kor 6,5; 11,27). Dennoch gibt es im Alten und im Neuen Testament keine direkte Aufforderung zum Fasten.14 Fasten ist ein vorübergehender Verzicht auf Dinge, die Gott uns ansonsten zum Leben und zum Genuss gibt. Ein solcher Verzicht ist ein Zeichen von Demütigung, von Trauer und innerer Beugung. Anders ausgedrückt, es ist ein äußeres Zeichen einer inneren Haltung. Gerade vor der großen Aufgabe, die vor Esra stand, war diese Haltung absolut angemessen. Es ist auffallend, dass schon das Alte Testament von einem „Fasten der Seele“ spricht (Ps 35,13). Jesaja 58,1–7 warnt uns davor, das Fasten zu einem frommen Ritual werden zu lassen. Eine solche Gefahr ist immer groß (vgl. Lk 18,11.12).

Eine solche Zeit der Ruhe, des Gebets und des „geistlichen Fastens“ ist vor allem vor einem Dienst wichtig. E. Dennett schreibt: „Fern sei es von uns, auch nur für einen Augenblick anzunehmen, dass die Diener des Herrn es unterlassen könnten, auf diese Weise sein Angesicht zu suchen, bevor sie ihren Dienst beginnen.“ Ein deutliches Beispiel finden wir in Apostelgeschichte 13. Dort werden – auf Anweisung des Heiligen Geistes – Barnabas und Saulus zu ihrem Dienst ausgesondert, zu dem sie berufen waren. Doch dieses „Aussondern“ geschah nicht ohne Fasten und Beten (Apg 13,2.3). Wir können sicher sein, dass in unseren Tagen mehr geistliche Kraft vorhanden wäre, wenn wir dieses „Fasten und Beten“ mehr praktizieren würden.

Hilfe durch den König

Die Reise nach Jerusalem war nicht ungefährlich. Es wäre daher naheliegend gewesen, den König um Schutz und Begleitung zu bitten. Doch genau das wollte Esra nicht. Er hatte vor dem König von seinem Gott gesprochen, dem sein ganzes Vertrauen galt. Hätte er nun den König um Hilfe gebeten, wäre das ein Zeichen von wenig Vertrauen gewesen. Diese Glaubenshaltung lässt Gott nicht ohne Antwort. Er ließ sich erbitten (Vers 23).

Die Haltung Esras macht Mut. Wenn wir erstens unsere eigene Schwachheit anerkennen und zweitens Gott alles zutrauen, wird Er hören und helfen. Das sind zwei wichtige Punkte, die hier zusammenkommen.15 Esra spricht nicht nur von Vertrauen, sondern er beweist es. Darin ist er uns ein Beispiel. Es ist deutlich einfacher, vom Glauben an Gott zu reden, als danach zu leben und sich dann vielleicht doch auf Hilfe von Menschen zu verlassen (Ps 118,8; Jer 17,5; Gal 1,16). Vers 22 spricht von denen, die Gott verlassen. Sich auf Gott zu verlassen ist gerade das Gegenteil davon, Gott zu verlassen.

Die Verwaltung der Gaben

In den Versen 24 bis 30 geht es um die Vorsorge im Blick auf die Gaben des Königs für das Haus Gottes. Zwölf Männern wurde die Verantwortung übertragen. Dabei fällt auf, dass immer wieder von den Metallen Gold und Silber sowie von den Geräten gesprochen wird. Es ist die Rede von 650 Talenten Silber, 100 Talenten silberne Geräte, 100 Talenten Gold16, 20 goldenen Bechern zu 1000 Dariken und zwei Geräten von goldglänzendem, feinem Kupfer. Die gesamte Gabe war ein großes Vermögen (ca. 22 Tonnen Silber und über 3 Tonnen Gold). Nach unseren Wertmaßstäben umgerechnet sind das deutlich mehr als 100 Millionen Euro.

In der geistlichen Anwendung denken wir bei Gold an göttliche Herrlichkeit und Gerechtigkeit, die in der Person des Herrn Jesus offenbart worden ist (Off 21,11.18). Silber symbolisiert das Sühnegeld und den Preis der Erlösung, die uns durch das Werk des Herrn Jesus geschenkt ist (1. Pet 1,18.19). Gold spricht von dem Wesen Gottes, Silber von seinem Handeln. Die Geräte mögen uns hier an das gesamte göttliche Glaubensgut denken lassen, das uns geschenkt worden ist.

In Vers 25 ist von einem „Hebopfer für das Haus unseres Gottes“ die Rede (vgl. 2. Mo 25,2), und in Vers 28 ausdrücklich von einer „freiwilligen Gabe für den Herrn“. Ein Hebopfer ist etwas, das auf- oder weggehoben wird, um es Gott zu weihen. Es war also durchaus nicht etwas, das den Rückkehrern gehörte, sondern es gehörte dem Herrn. Deshalb war eine besondere Sorgfalt nötig. In Vers 29 werden die Priester ausdrücklich aufgefordert, wachsam zu sein und die Gaben zu bewahren.

Wenn wir das geistlich auf uns übertragen, wird deutlich, wie sorgfältig wir mit der Wahrheit umgehen müssen, die uns anvertraut worden ist. Die Herrlichkeit Gottes dürfen wir ebenso wenig aufgeben wie das vollgültige Erlösungswerk unseres Heilandes. Es sind zwei Fundamente des christlichen Glaubens, die unantastbar sind. Und wenn es um das Glaubensgut geht, denken wir daran, dass Timotheus aufgefordert wird, dieses Glaubensgut zu bewahren (1. Tim 6,20; 2. Tim 1,14). Judas fordert uns sogar auf, für die christliche Wahrheit zu kämpfen (Jud 3). Die Gläubigen in Philadelphia werden aufgefordert, das festzuhalten, was sie hatten.17

In Vers 28 wird die Heiligkeit der Gabe mit der Heiligkeit der Träger verbunden (vgl. 2. Mo 29,44; 1. Pet 2,5). In Jesaja 52,11 lesen wir: „Reinigt euch, die ihr die Geräte des Herrn tragt!“ Das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Dennoch erkennen wir, wie notwendig dieser Hinweis ist. Jemand, der heilig ist, gehört erstens Gottes und ist zweitens vom Bösen getrennt. Der Stellung nach sind wir Heilige (Heb 10,10). Dennoch gilt es, genau das in der Praxis immer wieder zu zeigen. Deshalb finden wir im Neuen Testament wiederholt den Hinweis, im Alltag heilig zu leben. Es ist der ausdrückliche Wille Gottes (1. Thes 4,3).

Verse 31–36: Esra und seine Begleiter kommen in Jerusalem an

Die Reise und ihr Ziel

Die eigentliche Reise wird nur sehr kurz erwähnt. Sie dauerte knapp vier Monate (vgl. Esra 7,9). Das Ziel war Jerusalem, und wir können uns gut vorstellen, mit welchen Empfindungen sich die Reisegruppe der Stadt näherte. Für sie war es die Erfüllung des einen großen Wunsches, die Stadt ihrer Väter zu sehen (Ps 46,5; 48,2.9; 87,3). In dieser Stadt war der Wohnort Gottes. Dort stand der Tempel, in dem Gott gedient wurde.

Über die Strapazen der Reise wird wenig gesagt. Allerdings gab es Gefahren. Vers 31 spricht von der Hand des Feindes und von solchen, die am Weg lauern. Damit war zu rechnen, und damit ist heute zu rechnen. Der ganze Weg des Gläubigen ist voll Gefahren – und ganz besonders dann, wenn wir uns aufmachen, um den Ort zu suchen, wo der Herr seinen Namen wohnen lässt, wird es Widerstand geben. Dieser Widerstand mag einen offenen Charakter haben (Feinde), er mag einen verdeckten Charakter haben (Lauernde). Der Psalmdichter spricht ebenfalls von diesen beiden Seiten: „Denn meine Feinde haben von mir geredet, und die auf meine Seele lauern, haben miteinander beraten“ (Ps 71,10). Doch die Reisenden erleben erneut die Hand ihres Gottes, die über ihnen war. Das war Schutz genug. Diesem Gott hatten sie vertraut, und Er beschämte sie nicht!

In Jerusalem

Vier Dinge werden vermerkt, nachdem sie in Jerusalem angekommen sind:

  1. Wie zu Beginn gab es eine kurze Ruhephase. Ohne Zweifel werden sie diese Zeit genutzt haben, um Gott für die Bewahrung auf der gefahrvollen Reise zu danken.
    Für uns lernen wir erstens, dass Dankbarkeit wichtig ist (vgl. Esra 7,28.29). Wie oft haben wir – persönlich und als Versammlung – für Dinge gebetet, und wenn sie uns gegeben wurden, haben wir das Danken vergessen. Wir lernen zweitens, dass es gut ist, vor einer Aufgabe eine Ruhephase und zu haben und ebenso nach einer Aufgabe. Dabei geht es nicht in erster Linie und körperliche Ruhe, sondern darum, Momente der Gemeinschaft mit unserem Gott zu haben. Wir können das Werk Gottes nicht eilig oder leichtfertig tun. In Markus 6,31 sagt der Herr seinen Jüngern: „Kommt ihr selbst her an einen öden Ort für euch allein und ruht ein wenig aus.“ In Johannes 21,12 fordert Er sie ebenfalls zu einem Moment der Ruhe auf – und gerade dort sehen wir, dass die Aufforderung vor dem Hintergrund eines erledigten Auftrags (Fischen) und vor einer neuen Aufgabe (Hirtendienst) geschieht.
  1. Die mitgebrachten Schätze werden abgeliefert. Wir erkennen erneut, dass alles ordentlich geschah und dokumentiert wurde. Das lässt zwei Anwendungen zu:
    1. Wir denken daran, dass es gut und notwendig ist, wenn in Fragen der Finanzverwaltung alles ordentlich läuft und man niemand etwas vorwerfen kann. Vertrauen ist gut, dennoch sollte sich niemand einer gewissen Kontrolle entziehen wollen. Gott wünscht, dass wir in allem treue Verwalter sind (1. Kor 4,2).
    2. Wir denken daran, dass einmal unsere Lebensreise zu Ende geht und wir das Ziel erreichen. Wir können uns die Frage stellen, ob wir das Ende so gut erreichen wie die Wenigen, die aus Babel nach Jerusalem zogen. Was geschieht mit den Befähigungen und (geistlichen) Gaben, die der Herr jedem von uns anvertraut hat? Sind wir treue Verwalter? Oder vergraben wir das Talent, das uns anvertraut worden ist (Mt 25,18)? Vergessen wir nicht, dass bei unserer Ankunft im Himmel ebenfalls eine Art „Inventur“ durchgeführt wird und wir vor dem Richterstuhl des Christus Rechenschaft ablegen werden. Hören wir dann das Wort des Herrn: „Wohl, du guter und treuer Knecht! Über weniges warst du treu, über vieles werde ich dich setzen; geh ein in die Freude deines Herrn“ (Mt 25,21)?
  1. Es werden Opfer gebracht. Man gewinnt den Eindruck, dass dies ein besonderes Anliegen war. Die Opfer waren ohne Frage ein Zeichen der Dankbarkeit. In Babel konnten sie als Fremdlinge mit Gott leben und Ihm treu sein. Doch opfern konnten sie dort nicht. Es fällt auf, dass Vers 35 von den „aus der Gefangenschaft Gekommenen“ und von den „Kindern der Wegführung“ spricht – obwohl der Beginn dieser Gefangenschaft ca. 150 Jahre zurücklag. Beide Ausdrücke sprechen von Schwachheit und davon, dass sie durch eigene Untreue kein unabhängiges Volk mehr waren, sondern von der Gunst heidnischer Herrscher abhängig waren. Ihre eigene Untreue hatte sie aus dem Land weggeführt, die Treue Gottes hatte einigen Wenigen den Weg zurück geschenkt. Im Land sind sie nun am richtigen Ort, denn nur dort stand der Tempel, und nur dort konnte der Opferdienst getan werden.
    Die Opfer galten dem „Gott Israels“. Dabei steht das Brandopfer im Vordergrund. Obwohl Sündopfer gebracht wurden, hat selbst das Sündopfer hier den Charakter eines Brandopfers. Es heißt in Vers 35 ausdrücklich: „… das Ganze als Brandopfer dem Herrn“. In den Vorschriften über die Opfer werden in der Regel Sünd- und Brandopfer deutlich voneinander unterschieden. Hier ist es anders. Das Brandopfer zeigt die Hingabe Christi und dass Gott uns in Ihm annimmt. Es spricht ebenfalls – siehe Kapitel 3 – von der Anbetung, die Gott sucht. Die wenigen Rückkehrer bringen Gott Anbetung.
    Dabei fällt erneut auf, dass sie es für „ganz Israel“ tun. Für jeden Stamm wurde ein Stier geopfert.18 Zum einen erkennen sie Gott als den Gott des ganzen Volkes an. Zum anderen sehen sie in den Wenigen zu Recht die Repräsentanten des ganzen Volkes. Die ständige Erinnerung an die Einheit der Erlösten – die wir am Tisch des Herrn bezeugen – bewahrt bis heute vor sektiererischem Denken und Handeln.
    Weil dieser Punkt gerade im Buch Esra immer wieder betont wird und heute oft keinen hohen Stellenwert mehr hat, dazu an dieser Stelle drei Kommentare geschätzter Ausleger der Vergangenheit:
    a.) A. C. Gaebelein: „Man muss besonders beachten, dass der kleine Überrest, der zurückgekehrt war, in seinem Glauben ganz Israel umfasste. Ganz Israel wird eines Tages errettet und ins Land zurückgebracht werden – durch Ihn, der das wahre Brand- und Sündopfer ist. Und wie ihr Glaube all ihre Brüder einschloss, obgleich sie nicht bei ihnen waren, das ganze Haus Israel, so muss unser Glaube alle Heiligen Gottes einschließen.“
    b.) E. Dennett: „Es ist überaus rührend zu sehen, wie dieser schwache Überrest … in seinem Glauben ganz Israel einschloss. Sie waren nur gering an Zahl, doch sie konnten sich auf keine andere Grundlage stellen als auf die der zwölf Stämme… Auch heute sollte bei denen, die aufgrund des einen Leibes zum Namen des Herrn Jesus hin versammelt sind, derselbe Grundsatz gelten. Auch sie mögen gering an Zahl, schwach und arm sein. Doch wenn sie einiges Verständnis haben für den gesegneten Platz, auf den sie gestellt worden sind, werden sie jede engere Grundlage als die, die alle Glieder des einen Leibes umschließt, ablehnen; und wenn sie diese Wahrheit in Kraft aufrechterhalten, werden ihre Lobopfer in der Gegenwart aller ein Zeugnis davon geben. Versäumen sie dies, werden sie – was auch immer ihr Bekenntnis sein mag – zum engsten Sektierertum hinabsinken, das nach den Gedanken des Herrn überaus abstoßend ist.“
    b.) H. Rossier: „Auch sie hielten daran fest, die Einheit des Volkes anzuerkennen. Auf dieser Grundlage war ihr Zeugnis gegründet, selbst in einem Zustand der Schwachheit. Aber halten wir fest, dass sie diesen Grundsatz unbedingt in tiefer Demütigung im Blick auf sich selbst und mit großer Sorgfalt im Blick auf die Heiligkeit des Herrn festhielten. In der Tat, wenn wir diese Grundsätze verkündigen, ohne dass unser moralischer Zustand damit übereinstimmt, entheiligen und schänden wir sie. Wir sprechen besser nicht über diese Dinge, wenn sie nicht durch unseren praktischen Zustand gedeckt sind. Vorzugeben, die Wahrheit zu besitzen, und zugleich in Ungerechtigkeit zu leben, ist in den Augen Gottes abscheulich (Röm 1,18). Es ist besser, in Unkenntnis über göttliche Grundsätze zu sein und in dem Maß gottesfürchtig zu leben, wie man Erkenntnis hat, als die Wahrheit zu kennen ohne praktische Heiligkeit im Leben.“
  1. Die Anordnung des Königs wird den Satrapen und Statthaltern übergeben. Mit diesem Hinweis schließt das Kapitel in Vers 36. Erneut erkennen wir, wie alles ordnungsgemäß getan wird – und zwar so, wie der König es geboten hatte. Gott wendet dem Überrest weiter Gnade zu, denn von den Satrapen und Statthaltern heißt es ausdrücklich, dass sie das Volk und das Haus Gottes unterstützten.

Esra 9: Esras Beugung und Gebet über den traurigen Zustand im Volk

Der Bericht in diesem Kapitel behandelt die Zeit, kurz nachdem Esra in Jerusalem angekommen ist (ca. vier Monate später). Nach den positiven Erfahrungen in den Kapiteln 7 und 8 erlebte er nun einen Schlag. War er nicht gekommen, um in Israel Satzung und Recht zu lehren? Nun schien alles anders zu laufen als erwartet. Doch gerade jetzt kann Gott Esra als Werkzeug gebrauchen. Es fällt auf, dass es Esra um den geistlichen Zustand der in Jerusalem wohnenden Juden geht, und der war leider nicht gut. Es war dem Feind nicht gelungen, Esra und die mit ihm Reisenden erfolgreich zu attackieren. Allerdings hatte er bei den in Jerusalem wohnenden Juden leider doch Erfolg gehabt, weil sie nicht wachsam waren.

Das Buch Esra spricht in seinem zweiten Teil kaum von den äußeren Umständen in der Stadt. Der fehlende Mauer und die vorhandenen Trümmer der Stadt (siehe Nehemia) spielen keine Rolle. Dem hohen Engagement Esras steht vielmehr der niedrige geistliche Zustand des Volkes gegenüber – eine Erfahrung, die andere Männer Gottes ebenfalls gemacht haben. Das große Problem war, dass die Juden sich durch eheliche Verbindungen mit den Nachbarvölkern vermischt hatten – was Gott im Gesetz eindeutig untersagt hatte (z. B. 2. Mo 34,12–17; 5. Mo 7,1–8). Josua macht am Ende seines Lebens deutlich, was die Folgen sind (Jos 23,12.13). Auf uns übertragen handelt es sich um geistliche Hurerei. Jakobus sagt es sehr deutlich: Die Freundschaft der Welt ist Feindschaft gegen Gott (Jak 4,4).

Was Esra hier erlebt, ist leider fast typisch für jede Erweckungsbewegung. Am Anfang schlagen die Herzen für Gott und engagieren sich für seine Sache. Doch es dauert oft nicht lange, bis sich eine gewisse Routine breitmacht und Prioritäten verschoben werden. Irdische (und weltliche) Interessen stehen mehr und mehr im Vordergrund, und es erfolgt eine Abwärtsbewegung.19 Dieses Phänomen ist z. B. im Buch der Richter und auch in der Zeit der Könige von Juda deutlich zu beobachten. Es setzt sich hier bei den Rückkehrern aus der Gefangenschaft fort. In der Kirchengeschichte ist es ebenfalls zu beobachten.

Verse 1–4: Esra trauert über den Zustand des Volkes

Unheilige Verbindungen (ein ungleiches Joch)

Zunächst erfahren wir, dass die Obersten zu Esra kamen, um ihn über einen Missstand im Volk Israel zu informieren. Das Volk hatte sich in doppelter Hinsicht versündigt. Vers 1 zeigt, was sie nicht getan hatten (sie hatten sich nicht abgesondert), während Vers 2 zeigt, was sie stattdessen sehr wohl getan hatten (sie hatten durch Eheschließung mit den Töchtern der Nationen den „heiligen Samen“ mit den Völkern der Länder vermischt). Es ist offensichtlich, dass beides miteinander verbunden ist. Hinzu kam, dass sie nicht nur diese Mischehen geschlossen hatten, sondern sehr wahrscheinlich sogar nach den Abscheulichkeiten der Schwiegerfamilien handelten und in ihren Götzendienst verfielen (vgl. Sach 13,2).

Es spricht für die Obersten, dass diese das Problem schonungslos aufdeckten, denn sie waren in der Tat selbst Teil des Problems (Vers 2). Sie sprechen allerdings nicht – anders als Esra später – in der „Wir-Form“, sondern erwähnen „das Volk Israel“ (von dem sie natürlich ein Teil waren), die Priester und die Leviten20. Erst dann sagen sie, dass die Hand der Obersten und Vorsteher „in dieser Treulosigkeit die erste“ gewesen ist. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als seien sie darauf bedacht gewesen, ein wenig inneren Abstand zu nehmen. Wie dem auch sei, die offene und ehrliche Berichterstattung ist gut und eine erste Voraussetzung zur Heilung. Es ist wahr, dass wir Sünden anderer nicht unnötig ans Licht bringen – und vor allen Dingen nicht lieblos darüber reden – sollen (1. Pet 4,8). Wenn es allerdings um die Heiligkeit des Hauses Gottes geht, können wir sie nicht verschweigen, weil Sünde wie Sauerteig wirkt und sonst alle übrigen verunreinigt werden (1. Kor 5,6; Gal 5,9). Es war also jedenfalls gut, dass sie die Sünde anzeigten.

Das eigentliche Problem waren die Mischehen. Sie werden hier mit Gräueln (Esra 9,1.11.14) verbunden und Treulosigkeit (Esras 9,2.4; 10,2.6.10) genannt. Ein Gräuel ist etwas, was in den Augen Gottes abscheulich und abstoßend ist. Der Ausdruck bezieht sich oft – aber nicht nur – auf Götzendienst. Treulosigkeit ist nichts anderes als Untreue. Durch beides wird das Heiligtum entweiht (Mal 2,11).

Das Volk Israel war Gottes Eigentumsvolk und sollte eine heilige (d. h. Gott gehörende) Nation sein (2. Mo 19,5.6; 3. Mo 20,26). Deshalb war es ihnen strengstens untersagt, sich mit den götzendienerischen Nationen um sie herum zu vermischen. Die in Vers 1 genannten Nationen waren ganz unterschiedlicher Herkunft (und zum Teil sogar mit Israel verwandt), doch in einem Punkt waren sie gleich: Es waren Götzendiener und Feinde des Volkes Gottes.

Die Anwendung für uns liegt auf der Hand. Es geht nicht nur um das Verbot von Ehen zwischen Gläubigen und Ungläubigen (obwohl das eingeschlossen ist), sondern um die generelle Warnung vor einem ungleichen Joch und Vermischung mit der Welt. Paulus schreibt an die Korinther: „Seid nicht in einem ungleichen Joch mit Ungläubigen. Denn welche Genossenschaft haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial? Oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes, wie Gott gesagt hat: Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen; und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige“ (2. Kor 6,14–18).

Das ungleiche Joch ist zurückzuführen auf 5. Mose 22,10. Dort geht es darum, dass zwei unterschiedliche Tiere (Rind und Esel) nicht zusammen pflügen sollten. Das Rind ist ein reines und ein eher behäbiges Zugtier. Der Esel ist ein unreines und eher störrisches Lasttier. Für uns gilt das Verbot des ungleichen Jochs für verschiedene „Kooperationen“ mit Ungläubigen (z. B. Ehe, Teilhaberschaft, Vereinszugehörigkeit etc.) Auch politische Aktivitäten können wir darunter zählen. A. Remmers kommentiert: „Absonderung von der Welt und ihren Praktiken ist eine wesentliche Voraussetzung für ein gesundes und gesegnetes christliches Leben“, und: „… wahre Hingabe an den Herrn Jesus kann niemals mit Vermischung mit der Welt zusammengehen.“ Dabei ist klar, dass diese Absonderung im Herzen (im Inneren) beginnt und sich im Äußeren zeigt. Alles andere ist Heuchelei. 2. Korinther 7,1 spricht von der Befleckung des Geistes (innerlich) und von der Befleckung des Fleisches (äußerlich). Beides ist eine Gefahr. Beides muss vermieden werden.

Der Missstand wird mit den Worten zusammengefasst, dass sich der heilige Same mit den Völkern der Länder vermischt hatte. Die Gefahr der Vermischung von Dingen und Personen, die nicht zusammengehören, ist immer groß. Der Ausdruck „heiliger Same“ erinnert an das, was wir sind, nämlich „Heilige und Geliebte“. Durch das Werk unseres Herrn sind wir „geheiligt“ (Stellung), und das soll in unserer Praxis sichtbar werden (Heb 10,10; 1. Pet 1,16).

Aus Vers 2 wird ersichtlich, dass die Initiative dabei offensichtlich von den Juden ausgegangen war. Besonders gravierend ist es, dass die Führer das Volkes dabei mit schlechtem Beispiel vorangingen. Wer Führung im Volk Gottes übernimmt, steht besonders unter Verantwortung. Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen und sich bewusst sein, dass andere sich ihr Verhalten gerne zum Maßstab nehmen.

Die heidnischen Frauen übten scheinbar eine große Anziehungskraft auf die Männer Israels aus. Das ist nichts anderes als die Lust der Augen und des Fleisches (1. Joh 2,16). Was das Auge sieht, möchte das Fleisch haben. Natürliche Gefühle können einen großen Einfluss auf das geistliche Leben ausüben. Gleiches gilt für die Vermischung geistlicher und biblischer Grundsätze mit fleischlichen Ideen.

Die Reaktion Esras

Vers 3 zeigt die Reaktion Esras. Sie ist bemerkenswert. Mindestens zwei falsche Optionen wären denkbar gewesen:

  1. Resignation und Gleichgültigkeit: Esra hätte sich mit der Situation abfinden und resigniert nach Babel zurückkehren oder passiv in Jerusalem bleiben können. Wir denken daran, wie oft wir uns kraftlos fühlen, eine Sünde zu thematisieren, wenn sie sich offenbart und eine Handlung der Versammlung notwendig macht. Resignation und Gleichgültigkeit sind in solchen Fällen keine Option, denn wenn das Böse nicht gerichtet wird, wird es weiteres Unheil anrichten. Paulus wirft den Korinthern, bei denen das Böse offenkundig geduldig wurde, Passivität und Gleichgültigkeit vor (1. Kor 5).
  2. Rebellion: Esra hätte sich im fleischlichen Zorn gegen die Situation auflehnen können, um auf diese Weise Ordnung zu schaffen. Entrüstung ist häufig die erste Reaktion, wenn sich Böses in einer örtlichen Versammlung zeigt (besonders dann, wenn es um moralisch Böses geht). Ein Beispiel finden wir in Richter 20, wo sich die Kinder Israel über eine gravierende Sünde im Stamm Benjamin entrüsteten und dann spontan und fleischlich reagierten. Ihr Ansinnen war richtig, die Art und Weise völlig falsch.

Esra wählt keine dieser beiden Optionen, sondern entscheidet sich für den richtigen Weg. Er trauert, legt die Sache im Gebet seinem Gott vor und handelt dann mit Weisheit und zugleich sehr entschieden. Genau das ist es, was die Korinther nicht getan hatten. Paulus schreibt ihnen: „Und ihr seid aufgebläht und habt nicht vielmehr Leid getragen, damit der, der diese Tat begangen hat, aus eurer Mitte weggetan würde“ (1. Kor 5,2).

Diese Trauer sehen wir bei Esra. Er war erschüttert und zutiefst traurig über das, was ihm berichtet worden war. Das zeigt sich darin, dass er sein Gewand zerriss (eine alte Sitte, die Schmerz und Trauer ausdrückt, vgl. 1. Mo 37,29; 3. Mo 10,6; Ri 11,35; Est 4,1) und sich die Haare des Hauptes und des Bartes raufte (ein Hinweis auf Erschütterung, Entsetzen und Kummer, vgl. Hiob 1,20; Hes 7,18). Esra schlug zuerst sich selbst statt andere. Wenn Sünde im Volk Gottes bekannt wird, sind wir nicht zuerst aufgefordert zu handeln, sondern uns zu demütigen – und zwar zunächst ganz persönlich. Bevor eine Sünde öffentlich behandelt werden kann, ist diese persönliche Demütigung unerlässlich. Gott blickt auf den, der zerschlagenen Geistes und zerbrochenen Herzens ist (Jes 57,15). Esra war damit ein Vorbild für die anderen. Er muss deshalb so schockiert gewesen sein, weil diese Sünde gegen Gott und diese Vermischung nicht in Babel stattfand, sondern ausgerechnet in Jerusalem. Die Juden dort waren am richtigen Ort und doch in einer schlechten Verfassung. Wie sehr fehlt uns heute dieser Geist der Demut, der Trauer, des Kummers, wenn wir an den niedrigen Zustand derer denken, die sich zu seinem Namen bekennen.

Vers 4 zeigt, dass nicht nur Esra traurig und bestürzt war. Es versammelten sich andere zu ihm. Was sie gemeinsam kennzeichnete, ist die Tatsache, dass sie vor den Worten des Gottes Israels zitterten. Sie respektierten das, was Gott gesagt hatte, und erkannten, was Ihm das Volk Israel angetan hatte. Wir erinnern uns an Maleachi 3,16, wo von solchen die Rede ist, die den „Herrn fürchteten“. Vielleicht dachten sie auch an die Worte Gottes durch Jesaja: „Aber auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2).

Von Esra wird weiter gesagt, dass er bis zum Abend-Speisopfer betäubt da saß. In 4. Mose 28,3–8 hatte Gott die Vorschrift gegeben, dass Tag für Tag – am Morgen und zwischen den zwei Abenden – ein beständiges Brandopfer dargebracht werden sollte, und zwar verbunden mit einem Speisopfer und einem Trankopfer. Das war – nach jüdischer Zeitrechnung – um die neunte Stunde, d. h. nach unserer Zeitrechnung gegen 15 Uhr am Nachmittag. Bemerkenswert ist, dass andere Gottesmänner (z. B. Samuel, Elia und Daniel) ebenfalls um diese Zeit gebetet haben. Im Neuen Testament haben wir das Beispiel von Kornelius (Apg 10,3). Das Brandopfer zeigt, dass Gott Menschen nur aufgrund des vollkommenen Werkes des Herrn Jesus überhaupt annehmen kann. Das Speisopfer spricht von dem vollkommenen Leben des Herrn Jesus, in dem es eben keinerlei Vermischung gab. Er war der vollkommen „Abgesonderte unter seinen Brüdern“. Er war der „treue Zeuge“. Hinzu kommt, dass die Fürbitte der Gläubigen selbst mit einem Opfer verglichen werden kann. David sagt in Psalm 141,2: „Lass als Räucherwerk vor dir bestehen mein Gebet, das Erheben meiner Hände als Abendopfer21!“ Das nun folgende Gebet Esras gleicht einem solchen Räucherwerk und war angenehm für Gott.

Verse 5–15: Esra betet zu seinem Gott

Bevor Esra irgendetwas unternimmt, betet er zu Gott. Das Gebet geht der Heilung immer voraus. Dabei fällt auf, dass Esra nicht eine einzige Bitte äußert. Er legt die Situation, so wie sie sich darstellt, vor Gott und überlässt Ihm alles Weitere. Wie vor ihm bei Daniel (Dan 9) und nach ihm bei Nehemia (Neh 9) zeigt sein Gebet einerseits echte Demut und tiefe Trauer und andererseits großes Vertrauen in seinen Gott.

Wir können dieses bemerkenswerte Gebet in drei Teile aufteilen:

  1. Verse 5–7: Rückblick auf die Vergangenheit
  2. Verse 8–9: Anerkennung der Gottes Gnade
  3. Verse 10–15: Esras Bekenntnis

Rückblick auf die Vergangenheit

Zunächst erfahren wir, dass Esra von seiner stillen Demütigung aufsteht. Doch er tut es nicht, um zu handeln, sondern sogleich beugt er sich auf seine Knie nieder und breitet seine Hände aus zu seinem Gott. Esra demütigt sich nicht nur, sondern er bekennt und er betet. Sich zu knien ist eine demütige Haltung (vgl. Dan 6,11; 2. Chr 6,1; Lk 22,41; Apg 9,40; 20,36; 21,5). Sie zeigt Ehrfurcht vor Gott. Wenn wir beten, anerkennen wir, wie groß Er und wie gering wir selbst sind. Allerdings gibt es keine Vorschrift, in welcher äußeren Haltung wir beten sollen. Die Bibel kenn auch das Gebet im Stehen. Hier breitete Esra die Hände zum Himmel aus. Das kann man machen – es war damals so üblich (vgl. z. B. 1. Kön 8,22.54). Wir falten heute die Hände. Beides ist gut und richtig.

Esra spricht zunächst in der „Ich-Form“ und wendet sich ganz persönlich an seinen Gott, zu dem er eine Beziehung hat. Er spricht über seine persönliche Scham – und das, obwohl er persönlich völlig unschuldig war. Dann schließt er alle anderen mit ein und spricht in der „Wir-Form“. Er zeigt nicht mit dem Finger auf andere, sondern ist sich bewusst, dass er ein Teil des Volkes ist. Eine vergleichbare Haltung erkennen wir in den Gebeten Daniels (Dan 9) und Nehemias (Neh 9). Wenn ein Einzelner im Volk Gottes sündigt, ist das doch immer zugleich eine Sünde des ganzen Volkes (vgl. Jos 7,11). Wenn es schon im Alten Testament angebracht war, so zu beten, wieviel mehr in der gegenwärtigen Heilszeit der Versammlung. Wir kennen die Wahrheit von dem einen Leib, und als Glieder dieses einen Leibes können wir gar nicht anders, als die Schuld anderer zu unserer eigenen Schuld zu machen. Was ein Glied betrifft, betrifft alle Glieder (1. Kor 12,26). Viele liebe Kinder Gottes sehen diesen Punkt nicht, und doch ehrt es Gott, wenn wir uns unter kollektiver Schuld beugen. Es gehört mit dazu, die Einheit des Geistes im Band des Friedens zu bewahren (Eph 4,3.4). Außerdem sind wir nicht besser als andere und zu allem fähig (Röm 7,18). Schon deshalb sollten wir uns davor hüten, uns über andere zu stellen.

In dem erwähnten Beispiel von Richter 20 ist es völlig anders. In Vers 12 lesen wir: „Und die Stämme Israels sandten Männer zu allen Geschlechtern Benjamins und sprachen: Was ist das für Böses, das unter euch geschehen ist!“ Sie sprechen nicht von dem „Bösen, das unter uns geschehen“ ist, sondern zeigen mit Fingern auf ihren Bruder Benjamin. Esra hingegen schließt sich mit ein. Er erwähnt „unsere Ungerechtigkeiten“ (Verse 6.7.13). Er spricht von „unserer Schuld“ (Verse 6.13.15) und von „unseren bösen Taten“ (Vers 13). Er macht sich völlig mit der Sünde anderer eins. Darin liegt das Geheimnis seiner geistlichen Kraft, und nur so war er in der Lage, einen echten Priesterdienst zu tun und das Problem anschließend zu behandeln. Das ist die richtige geistliche Gesinnung, in der Böses behandelt werden muss (3. Mo 6,17–23) – auch in der örtlichen Versammlung. Solange wir mit Fingern auf andere zeigen, werden wir wenig (oder nichts) erreichen. Esra deckt schonungslos auf, was in der Vergangenheit passiert war, und macht sich mit diesem Fehlverhalten eins. Er erkennt zugleich das Gericht als eine gerechte Strafe Gottes an.

Esra geht dann in Gedanken den langen Weg der Geschichte Israels zurück und erinnert sich an die vielen Sünden der Väter. Manche Sünden haben eine lange Entwicklung. Letztlich hatte der Niedergang des Königtums schon bei Salomo begonnen. Esra betont die besondere Verantwortung der Könige und Priester, die häufig ihrer Vorbildfunktion nicht entsprochen hatten. Gerade deshalb waren das Königtum und das Priestertum in Babel zu einem Ende gekommen. Oft liegt das größte Versagen gerade dort, wo wir unserer Funktion als Könige und Priester (1. Pet 2,4–10) nicht nachgekommen sind und eine verkehrte Haltung zu der Welt eingenommen haben.

Anerkennung der Gottes Gnade

Mit den Worten „Und nun …“ wendet sich Esra ab Vers 8 der Gegenwart zu, und da kann er nur bei aller persönlichen Bescheidenheit die Gnade Gottes rühmen. Was der Überrest in Jerusalem erreicht hatte, war kein eigenes Verdienst, sondern unverdiente Zuwendung Gottes, d. h. Gnade. Trotz der großen Fehlerhaftigkeit und Schwäche war diese Gnade da gewesen. Deshalb spricht er von einem „kleinen Augenblick der Gnade“ und von einem „Pflock“, der ihnen gegeben worden war an seiner heiligen Stätte (das ist Jerusalem). Der „Augenblick der Gnade“ bezieht sich auf die ganze Zeit seit der ersten Rückführung unter Jeschua und Serubbabel. Der „Pflock“ (ein Pfahl, ein Nagel oder Haken, mit dem man etwas befestigt) ist ein Hinweis auf den Beistand Gottes im Blick auf den Tempelbau (vgl. Jes 22,23.25; 33,20; Sach 10,4). Er spricht zudem von der Sicherheit derer, die sich auf Gott verlassen. Einige Ausleger denken hier an Christus selbst. H. A. Ironside schreibt: „Die Erwähnung des Pflocks ist zweifellos eine Erinnerung an Jesajas Pflock an einem festen Ort, an dem die ganze Herrlichkeit des Herrn hängen sollte (Jes 22,21–25). In vollem Sinn ist das Christus selbst.“

Es ist gut, wenn wir ebenfalls einen Blick für die unverdiente Zuwendung Gottes und seinen Beistand haben. Ohne seine Gnade könnten wir gar nichts ausrichten. Selbst der Apostel Paulus wusste sich vollständig von der Gnade und der Hilfe Gottes abhängig.

In Vers 8 ist von „erleuchteten Augen“ die Rede. Es war die Bitte Esras, solche Augen zu haben. Das erinnert uns an das Gebet von Paulus in Epheser 1,18. Solche Augen benötigen wir, um in Gottes Wort Wunder zu sehen, um Ihn in seiner Größe und uns in unserer Nichtigkeit zu erkennen. Solche Augen bekommen wir nur, wenn wir bereit sind, den Willen Gottes zu tun (Ps 19,9).

Neben diesen beiden Ausdrücken „Gnade“ und „Pflock“ gibt es zwei weitere Worte, die Esra mehrfach gebraucht. Zweimal spricht er von „Knechtschaft“ (einmal davon, dass sie „Knechte“ waren), und zweimal spricht er von einem „Aufleben“.

  1. Er vergaß nicht, dass die Juden – obwohl in ihr Land zurückkehrt – nicht frei waren (vgl. Neh 9,36). Ihre Knechtschaft war eine Folge ihres Fehlverhaltens und somit eine Strafe Gottes. Das erkennt Esra an.
  2. Er war dankbar für das Aufleben, das Gott geschenkt hatte, um den Tempel in Jerusalem zu bauen. Wenn wir an uns denken, wollen wir für jedes Aufleben dankbar sein, das Gott schenkt. Wir wollen dankbar sein für Wahrheiten, die wir immer noch kennen, wie z. B. die Wahrheit von der Versammlung Gottes, der himmlischen Berufung der Gläubigen, der „Innewohnung“ des Heiligen Geistes, der Entrückung der Gläubigen und der herrlichen Zukunft im Vaterhaus.

Jeremia hatte einige Jahrzehnte vorher geschrieben: „Es sind die Gütigkeiten des Herrn, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende“ (Klgl 3,22). Das ist unbedingt wahr und gilt für uns ebenso. Gott ist ein gnädiger und barmherziger Gott. Dennoch dürfen wir die Gnade Gottes niemals in der Richtung „missbrauchen“, dass wir es mit der Sünde leicht nehmen (vgl. in einem anderen Zusammenhang die Argumentation von Paulus in Römer 6,1.2). Es ist schrecklich, mit Hinweis auf die Gnade Gottes bewusst zu sündigen. Von dieser Haltung war Esra weit entfernt.

Esras Bekenntnis

Der dritte Teil des Gebets ab Vers 10 wird wieder mit den Worten „Und nun …“ eingeleitet. Jetzt spricht Esra nicht von der Gnade Gottes, sondern bekennt die Sünde des Volkes. Ihm fehlen die Worte, deshalb stellt er die Frage: „Was sollen wir nach diesem sagen?“ (Vers 10). Drei Dinge machten die Sünde umso größer. Erstens, dass sie vorher schon gesündigt hatten. Zweitens, dass sie wussten, dass Gott sie dafür hatte richten müssen und drittens, dass Gott ihnen große Gnade erwiesen hatte. Was blieb jetzt noch übrig?

Esra hatte vorher von „Ungerechtigkeiten“, von „Schuld“ und von „Beschämung des Angesichts“ gesprochen (Verse 6 und 7). In Vers 13 wiederholt er das mit ähnlichen Worten noch einmal. Doch in Vers 10 fügt er hinzu: „Wir haben deine Gebote verlassen“, d. h. er bekennt konkret den Ungehorsam des Volkes. Dieser Ungehorsam war kein gelegentlicher Ungehorsam (kein Fehltritt „aus Versehen“), weil jemand unachtsam ist, sondern es handelte sich um einen permanenten und bewussten Ungehorsam wider besseres Wissen. Gott hatte seine Gebote durch seine Knechte, die Propheten, gegeben. Der erste dieser Propheten22 war Moses. Andere folgten ihm. In vielen Fällen verhallte die Botschaft der Propheten ungehört (vgl. 2. Chr 36,16). Hier war es nicht anders gewesen. Das Wort Gottes, soweit es damals verfügbar war, hatte Mischehen eindeutig verboten und bei Nichtbeachtung Gericht angekündigt. Esra zitiert hier in Vers 11 nicht wörtlich, sondern fasst Aussagen verschiedener Bücher dieser Propheten zusammen.

Obwohl die Gebote durch die Propheten gegeben wurden, waren es dennoch Gebote Gottes. Das gilt für uns ebenfalls. Es waren „heilige Menschen Gottes“, die Gott benutzt hat, um sein Wort zu geben. Gleichwohl ist es Gottes Wort. Was Gott uns sagt, ist nicht unserer Willkür überlassen, sondern es ist erstens zeitlos und zweitens verbindlich. Die Warnung vor Vermischung und einem ungleichen Joch (2. Kor 6,14) ist heute noch so aktuell wie damals, als es geschrieben wurde.

Diese Sünde war deshalb so schlimm, weil das Volk Gottes die Unreinheit der Völker des Landes übernahm. Es waren Völker, die dem Götzendienst ergeben waren und sich völlig verdorben hatte (Vers 11). Sie hatten das Land mit ihren Gräueln angefüllt. Deshalb hatte Gott angeordnet, diese Völker auszurotten – ein Befehl, dem das Volk Israel nie völlig nachgekommen ist. Die Bosheit und Schlechtigkeit der kanaanitischen Völker war wie ein Krebsgeschwür, das andere nur anstecken und verunreinigen konnte.

Dabei hätte Gott sein Volk gern mit dem Besten des Landes gesegnet: „Damit ihr stark seid und das Gut des Landes esst und es auf eure Söhne vererbt in Ewigkeit“ (Vers 12). Drei herrliche Segnungen waren also mit der Absonderung verbunden, die sie nun bewusst aufgegeben hatten:

  1. Sie sollten stark sein: Diese Kraft brauchten sie, weil sie von Feinden umgeben waren. Doch das Gegenteil war eingetreten. Durch ihre Vermischung war ihre Kraft verloren gegangen. Es war nur ein kleiner und schwacher Überrest in Jerusalem, der völlig von der Gunst der Könige der Nationen abhing.
  2. Sie sollten das Gute des Landes essen: Gott wollte ihnen den Genuss der Segnungen in einem Land schenken, das von Milch und Honig floss. Erneut war das Gegenteil eingetreten. Während der Gefangenschaft in Babel war das Land verwüstet (2. Chr 36,21).
  3. Sie sollten das Land ihren Söhnen vererben: Das spricht von einem dauerhaften Besitz. In Babel hatte es mindestens zwei Generationen gegeben, die dieses Erbteil nicht einmal gesehen hatten. Für viele war es für eine lange Zeit verloren gegangen.

Wir können diese Punkte leicht auf uns übertragen:

  1. Vermischung mit der Welt nimmt uns die geistliche Spannkraft. Ein geradezu klassisches Beispiel ist Simson, den Gott mit einer außergewöhnlichen Kraft ausgestattet hatte und der diese Kraft durch seine Vermischung mit der Welt (fremden Frauen) verlor und so ein Gefangener seiner Feinde wurde. Es ist für uns eine Sache, über Kraftlosigkeit zu klagen. Es ist eine andere Sache, die Ursachen zu prüfen und abzustellen. Das Argument: „Wir haben keine Kraft“ ist zwar an und für sich wahr, es darf jedoch nicht zu einer faulen Entschuldigung werden, inaktiv zu sein. Die Kraft des Heiligen Geistes verändert sich nie. Wenn sie heute weniger wirksam ist, liegt es nicht an der Kraftquelle, sondern an uns, durch die die Kraft des Geistes wirken soll.
  2. Vermischung mit der Welt verhindert den Genuss unserer Segnungen, die geistlicher Art sind. Ein weltlich gesinnter Christ wird keine Freude an den Segnungen haben, mit denen Gott uns in Christus gesegnet hat (Eph 1,3). Dieser Verlust ist gravierend. Ein Beispiel dafür ist Lot. Am Ende blieb ihm nichts außer sein eigenes Leben. Er hatte alles in Sodom (ein Bild der Welt) verloren.
  3. Vermischung mit der Welt verhindert die Weitergabe der Glaubenswahrheit an die nächste Generation. Es ist unser Auftrag, das Glaubensgut an nachfolgende Generationen weiterzugeben (2. Tim 2,2). Diesem Auftrag werden wir nicht nachkommen können, wenn wir auf die Dinge dieser Erde orientiert sind. Der Verlust für unsere Nachkommen ist gravierend.

Es gibt noch einen Hinweis in Vers 12, der zu Fragen Anlass gegeben hat. Esra zitiert ein Gebot Gottes, dass die Kinder Israel den Frieden und das Wohl der Völker im Land Kanaan nicht suchen sollten in Ewigkeit (vgl. 5. Mo 23,7). In Jeremia 29,7 lesen wir jedoch: „Sucht den Frieden der Stadt, wohin ich euch weggeführt habe, und betet für sie zu dem Herrn; denn in ihrem Frieden werdet ihr Frieden haben.“ Das Zitat aus Jeremia wird manchmal – zu Unrecht – missbraucht, um so politisches Engagement für Christen zu legitimieren. Zwischen diesen beiden Aussagen gibt es keinen Widerspruch. Die Ursache für die scheinbar gegensätzliche Aufforderung liegt in der Ausgangssituation. 5. Mose 23,7 und Esra 9,12 sprechen davon, dass sich Israel in seinem Erbteil befindet und dort Völker sind, die dieses Erbteil verderben und für sich beanspruchen. Es waren Feinde, mit denen sie keinen Frieden machen sollten. Jeremia 29,7 hingegen spricht von der Gefangenschaft der Juden in Babel. Auch dort sollten sie sich nicht mit den Babyloniern vermischen, sollten jedoch dazu beitragen, dass sie im fremden Land in Frieden leben konnten.

Esra hatte einen klaren Blick. Er sah die Schuldhaftigkeit und den Ungehorsam des Volkes (Vers 10). Er akzeptierte die Strafe, die Gott als Folge über das Volk kommen lassen musste (Vers 14). Doch nicht nur das. Er spricht auch von der Gnade Gottes, die sie keineswegs verdient hatten (Vers 13). Er kannte den Vers: „Er hat uns nicht nach unseren Sünden getan und uns nicht nach unseren Ungerechtigkeiten vergolten“ (Ps 103,10). Es hatte damals nach der Deportation nach Babel Entronnene gegeben. Damit meint er den Überrest in Jerusalem.

Schließlich appelliert er an die Gerechtigkeit Gottes (Vers 15). Die Gerechtigkeit Gottes übersteigt den menschlichen Verstand. Sie zeigt sich darin, dass Er jedem das gibt, was er verdient. In diesem Fall konnte das nur erneutes Gericht bedeuten. Doch nicht nur das. Esra redet Gott mit den Worten an: „Herr, Gott Israels“. Gott handelt nicht nur im Gericht gerecht, sondern Er ist ebenso gerecht, indem Er alle Zusagen erfüllt, die Er seinem Volk gegeben hat. Er ist der Herr (Jahwe), der sich nicht verändert (Mal 3,6). Er ist der Gott Israels, der alles erfüllen wird, was Er versprochen hat. Hätte Esra diese Perspektive nicht gehabt, wäre alles hoffnungslos gewesen. Das ist für uns nicht anders. Es ist wahr, dass jeder Mensch das erntet, was er sät (Gal 6,7.8). Doch ebenso gilt, dass Gott zu seinen Zusagen steht (Röm 11,29). „Denn so viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm ist das Ja, darum auch durch ihn das Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns“ (2. Kor 1,20).

Wir mögen uns über das Ende des Gebets wundern, doch wie bereits bemerkt, enthält es keine konkreten Bitten, sondern Esra überlässt alles Weitere seinem Gott, zu dem er volles Vertrauen hatte. Wir sind uns sicher, dass Gott die Demut, die Trauer, das Bekenntnis und das Vertrauen Esras gefallen hat, denn immer noch gilt: „Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“ (Jak 4,6).

Esra 10: Rettung durch Trennung vom Bösen

Das letzte Kapitel ist einerseits traurig und macht zugleich Mut. Es zeigt uns die Folge von Esras Gebet und den Beschluss, sich von den heidnischen Frauen zu trennen.

Wir lernen, wie die persönliche Haltung eines Einzelnen Folgen für ein ganzes Volk haben kann. Esra trauert, und das ganze Volk trauert mit ihm. Manchmal hängt der Segen eines ganzen Volkes, einer örtlichen Versammlung oder einer Familie von dem Verhalten von Wenigen oder gar Einzelnen ab. In Kapitel 5 waren es zwei Propheten, hier ist es ein einziger Priester, dessen vorbildliches Verhalten zu einer kollektiven Demütigung und Erweckung führt.

Verse 1–6: Das Gebet Esras zeigt Wirkung

Trauer

Esras Verhalten beeindruckte offensichtlich diejenigen, die ihn sahen. Esra liegt weinend vor dem Haus Gottes. Darin zeigt sich seine tiefe Trauer und Demut. Als wahrer Priester bekennt er die Schuld des Volkes, die nicht seine eigene war und mit der er sich doch voll und ganz identifiziert. Männer, Frauen und Kinder stimmen in seine Tränen ein. Es heißt ausdrücklich, dass das Volk sehr weinte. Diese Tränen waren nicht das Ergebnis einer momentanen Rührung, sondern die Folgen des guten Beispiels Esras und des Wirkens des Geistes Gottes an den Juden. Sie zeugen von echter Demütigung vor Gott. Es fällt auf, dass Esra das Volk hier nicht auffordert, irgendetwas zu tun. Sie tun es von sich aus. Es ist deshalb offensichtlich, dass der Heilige Geist wirkt. Gerechte Taten und ein gutes Vorbild wirken bis heute häufig mehr als alle Worte. Fast jede Erweckung beginnt mit der Demütigung und dem Bekenntnis einzelner Gläubiger, die anderen zum Vorbild sind.

Einen vergleichbaren Vorgang wie hier finden wir im Neuen Testament. Er ist verbunden mit dem Zuchtfall bei den Korinthern. In 2. Korinther 2,4 erwähnt Paulus seine Bedrängnis, Herzensangst und Tränen, die ein Beweis seiner Liebe zu den Korinthern waren. In 2. Korinther 7,9–11 beschreibt er dann die Reaktion der Korinther, die „zur Buße betrübt“ worden waren – und zwar zu einer Buße, die Gott wohlgefällig war – und so gehandelt hatten, wie es der Heiligkeit Gottes entsprach.

Die Botschaft Schekanjas

In Vers 2 tritt für einen Augenblick ein Mann mit Namen Schekanja in den Vordergrund. Er ist ein gutes Beispiel dafür, dass auf wahre Demütigung ein energisches Handeln folgt. Wenn sein Vater der in Vers 26 erwähnte Jechiel ist, dann war die Familie Schekanjas selbst betroffen. Doch das hielt ihn nicht davon ab, die Initiative zu ergreifen. Er macht sich zum Sprecher der anderen. Wir lernen, dass Gott immer seine Diener zur Verfügung hat, wo und wann und wie Er sie gebrauchen möchte.

Acht Dinge fallen in der kurzen Ansprache auf:

  1. Er macht sich eins mit denjenigen, die falsch gehandelt hatten. Er stellt sich nicht über sie, sondern reiht sich in die Reihe der Übeltäter ein (vgl. die Gebetshaltung Daniels in Daniel 9,1–20). In 1. Korinther 5,2 weist Paulus die Korinther darauf hin, dass gerade diese innere Haltung bei ihnen gefehlt hatte.
  1. Er umschreibt die Sünde nicht, sondern er nennt sie konkret beim Namen (vgl. 1. Joh 1,9). Ein Sündenbekenntnis kann nie pauschal sein, sondern Gott erwartet, dass wir Fehlverhalten konkret beim Namen nennen.
  1. Er anerkennt, dass es eine Sünde gegen Gott ist, so wie jede Sünde – selbst dann, wenn sie sich gegen einen anderen Menschen richtet – immer zuerst gegen Gott ist (vgl. Ps 51,6; Jer 14,7). Das gibt jeder Sünde einen besonders ernsten Charakter.
  1. Er setzt sein Vertrauen auf Gott und spricht von Hoffnung (vgl. Ps 146,5). Damit kommt Licht in das Dunkel. Es gibt im Leben des Gläubigen keine aussichtslose und hoffnungslose Situation. Wir können immer mit unserem Gott rechnen.
  1. Er fordert einen Bund23, d. h. eine bindende Verpflichtung vonseiten der Juden. Diese Verpflichtung bestand darin, die fremden Frauen und die von ihnen geborenen Kinder zu entlassen, d. h. in einer konkreten Maßnahme (vgl. 1. Mo 35,1–5). Ein solcher Entschluss ist wichtig und muss der Trauer und dem Bekenntnis unbedingt folgen.
  1. Grundlage dieser Verpflichtung sollte das „Gebot unseres Gottes“ sein. Es sollte nach dem Gesetz gehandelt werden (vgl. 2. Kön 24,13). Für uns gilt, dass das Wort Gottes Maßstab für unser Handeln ist – sei es persönlich oder kollektiv.
  1. Er fordert Esra zum Handeln auf. Trauer und Demütigung hat seine Zeit, und wir müssen beidem Raum geben. Doch Handeln hat ebenfalls seine Zeit (vgl. Jos 7,10). Es ist wichtig, das eine vom anderen zu unterscheiden und die richtige Zeit zu erkennen. Es hilft wenig, unser Fehlverhalten ständig zu beklagen, ohne innerlich bereit zu sein, die nötigen Maßnahmen einzuleiten, um es abzustellen.24
  1. Er spricht Esra Mut und Unterstützung zu. Wir kennen die Aufforderung, stark zu sein, als eine Aufforderung, die von Gott kommt (z. B. Jos 1,6.9.18), doch es gibt Beispiele, wo Menschen sie aussprechen (vgl. 1. Chr 28,20). Es ist gut, einander Mut zu machen.

Das Verhalten dieses Mannes ist vorbildlich. Er handelt in der Kraft des Heiligen Geistes und zum Wohl des Volkes Gottes. Zum einen nimmt er keine Rücksicht auf die eigene Familie, und zum anderen will er keine eigene Rolle in dem Werk der Reinigung einnehmen. Er überlässt das Handeln Esra.

Es fällt auf, dass niemand den Worten Schekanjas widerspricht. Es gibt keine weiteren Wortmeldungen, keinen Widerspruch, keine Diskussion. Wir erleben es häufig, dass gerade in Zuchtfragen viel „Wortwechsel“ (Apg 15,7) und sogar „Wortstreit“ (2. Tim 2,14) entsteht. Wenn wir erkennen, dass Gott einen geistlichen Bruder benutzt, um Licht auf eine Sache zu werfen, sollten wir dafür dankbar sein und nicht der Gefahr erliegen, durch weitere Diskussionen ein notwendiges Handeln zu erschweren.

Die Lösung des Problems

Der Vorschlag selbst mag uns hart erscheinen, doch er passte damals in die Zeit und war der einzige Weg zur Heilung. Das Neue Testament warnt uns eindringlich davor, als Gläubige einen ungläubigen Partner zu heiraten. Wenn es dennoch geschehen ist, kann Scheidung keine Option sein. Der Herr Jesus selbst spricht davon, dass ein Mann seine Frau nicht entlassen soll (Mt 5,32; Mt 19,6.8.9). Er geht dabei auf die Schöpfungsordnung Gottes zurück, denn von Anfang an war es Gottes Gedanke gewesen, dass das, was Gott zusammengefügt hat, nicht geschieden werden sollte. Paulus greift das Thema in 1. Korinther 7,10 auf und sagt sehr deutlich: „Den Verheirateten aber gebiete nicht ich, sondern der Herr, dass eine Frau nicht vom Mann geschieden werde.“ Ein weiterer Hinweis ist Römer 7,2: „Denn die verheiratete Frau ist durch Gesetz an den Mann gebunden, solange er lebt.“ Die Ehe ist nach den Gedanken Gottes auf Lebenszeit geschlossen. Ist eine falsche eheliche Verbindung (gläubig/ungläubig) zustande gekommen, gibt es kein Zurück. Als Gläubige der Gnadenzeit können wir die Folgen eines falschen Weges manchmal nicht korrigieren – selbst, wenn es damals möglich und sogar notwendig war.

Wir können uns fragen, warum dieser Punkt der Auflösung einer ungleichen Ehe in diesem konkreten Fall im Alten Testament anders geregelt wird, als wir es aus dem Neuen Testament für uns erkennen. Die Antwort liegt darin, dass die Institution Ehe im Neuen Testament ein bekanntes Bild der unauflöslichen Verbindung zwischen Christus und seiner Versammlung ist. Eine Ehescheidung zerstört dieses wunderbare Bild.25

Die Anwendung der notwendigen Maßnahme auf uns bedeutet also nicht, im Fall einer geschlossenen Ehe zwischen einem Gläubigen und einem Ungläubigen den ungläubigen Partner zu verlassen und sich scheiden zu lassen. Die Anwendung liegt vielmehr in dem, was Paulus den Korinthern schreibt: „Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an, und ich werde euch aufnehmen …“ (2. Kor 6,17). Es geht darum, die Vermischung mit der Welt (das ungleiche) Joch zu beenden und die notwendige Trennung zu vollziehen. Gott verbindet das zugleich mit einer großartigen Zusage: „… und ich werde euch zum Vater sein, und ihr werdet mir zu Söhnen und Töchtern sein, spricht der Herr, der Allmächtige“ (2. Kor 6,18). Die Trennung vom Bösen ist für uns ein wesentlicher Punkt, den wir nicht gleichgültig übersehen können. Vermischung mit der Welt ist in den Augen Gottes kein Kavaliersdelikt, sondern eine gravierende Sünde mit gravierenden Folgen.

Esra handelt

Die Verse 5 und 6 zeigen uns, wie Esra nun handelt:

  1. Er steht auf: Anders als Josua muss er nicht dazu aufgefordert werden (Jos 7,10). Er erkennt selbst, dass nun die Zeit zum Handeln gekommen ist. Wenn wir in einer Sache den Willen Gottes klar erkennen, gibt es keine Entschuldigung, ihn nicht zu tun. Eine mögliche Entschuldigung kann die fehlende Kraft sein. Doch wir können sicher sein, dass Gott uns die nötige Kraft gibt. Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber ist die Quelle und zugleich die Voraussetzung für geistliche Kraft (vgl. Jos 1,7). Eine weitere Entschuldigung kann die falsche Rücksicht auf menschliche Gefühle sein. Doch auch davon lässt Esra sich nicht leiten.
  2. Er lässt die Obersten der Priester, die Leviten und ganz Israel schwören: Wir erkennen in der Reihenfolge, dass Esra mit denen beginnt, die die größte Verantwortung haben – ein biblisches Prinzip, das wir ebenfalls beachten wollen. Darüber hinaus war ihm wichtig, dass „ganz Israel“ in dieser Sache einmütig war. Sie mussten verbindlich versprechen, dass sie dem Vorschlag entsprechend handeln würden.
  3. Er geht in den Tempel, um dort zu fasten und zu trauern: Das mag uns überraschen, doch es entsprach dem Empfinden Esras. Die Bereitschaft des Volkes, dem Wort Gottes entsprechend zu handeln, löste bei ihm keine innere Genugtuung aus, sondern vertiefte nur seine Trauer über das, was geschehen war. Er brauchte diese weitere Zeit der persönlichen Trauer in der Gemeinschaft mit seinem Gott. Esra legte nicht einfach „den Schalter um“, sondern er trauerte weiter. Für eine örtliche Versammlung ist das in Zuchtfragen ebenfalls wichtig. Es ist nicht so, dass eine „Trauerversammlung“ plötzlich zu einer „Gerichtsversammlung“ (einem Tribunal) wird. Die Trauer wird weitergehen.

Verse 7–15: Eine Versammlung wird einberufen

Eine große Versammlung

Esra handelt nicht alleine. Gemeinsam mit anderen lässt er einen Ruf durch Juda und Jerusalem ergehen. Alle sollen sich nach Jerusalem versammeln. Erneut werden die Juden als „Kinder der Wegführung“ (Vers 7) und „Weggeführte“ (Vers 8) bezeichnet. Damit wird indirekt an die damalige Treulosigkeit der Juden erinnert, die zu ihrer Deportation nach Babel geführt hatte.

Die angedrohte Strafe für das Nichterscheinen ist drastisch und entsprach der Heiligkeit Gottes. Die Habe sollte verbannt und der Betreffende selbst aus der Versammlung der Weggeführten ausgeschlossen werden. Das Wort „verbannen“ wird an anderen Stellen mit „vertilgen“ oder „zerstören“ übersetzt (z. B. Jos 10,1; 2. Kön 19,11; Jes 11,15). Das Wort „ausschließen“ bedeutet, dass etwas „geschieden“ oder „abgetrennt“ wird (1. Mo 1,4; 3. Mo 5,8). Verbannte Güter gehörten Gott, während ausgeschlossene Menschen – im Alten Testament – getötet wurden (3. Mo 27,28.29). Nur wer pünktlich erschien und sich unter das Urteil Gottes stellte, konnte der Strafe entgehen.

Wir können dem Text entnehmen, dass trotz der widrigen Wetterverhältnisse alle kamen und niemand es wagte, nicht in Jerusalem zu erscheinen. Gott war das so wichtig, dass Er das exakte Datum notieren ließ (Vers 9). Seit der Ankunft Esras in Jerusalem waren also nicht einmal fünf Monate vergangen.

Auf uns übertragen lernen wir, dass Gott möchte, dass die ganze Versammlung an einem Ort zusammenkommt, auch – und gerade – dann, wenn es um Zuchtfragen geht. Es ist ein Übel in örtlichen Versammlungen, wenn einige meinen, sich dem Urteil einer Versammlung entziehen zu können, indem sie bewusst nicht erscheinen. Eine solche Haltung zeugt in der Regel von Eigenwillen und fehlendem Verständnis für die Wahrheit von der Versammlung. Selbst in Zuchtfragen können wir beweisen, dass wir die Einheit des Geistes bewahren wollen (Eph 4,2.3).

Die äußere Haltung der Versammelten lässt Rückschlüsse auf ihre innere Haltung zu. Sie saßen auf dem Platz des Hauses Gottes (Sinnbild seiner Gegenwart) – und zwar zitternd um der Sache willen und wegen des Regens. Die Witterungsverhältnisse verstärkten die innere Stimmung der Trauer und Angst – und das war gut so.

Die Ansprache Esras

In seiner Funktion als Priester hält Esra nur eine kurze und sehr eindrucksvolle Ansprache (Verse 10 und 11), um Herz und Gewissen der Versammelten zu berühren. Er erweist sich hier wirklich als Priester, der nach 3. Mose 10,10 und 11 unterscheiden sollte „zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen und zwischen dem Unreinen und dem Reinen“ und der „die Kinder Israel alle Satzungen lehrt, die der Herr durch Mose … geredet hat“. Genau das war jetzt notwendig. Heute ist es nicht anders. In der Beurteilung schwieriger Zuchtfragen benötigen wir Einsicht in das Wort Gottes und Weisheit, damit erstens Herz und Gewissen berührt und zweitens die richtigen Maßnahmen ergriffen werden.

Esra tut drei Dinge:

  1. Er wirft dem Volk Treulosigkeit vor: Sie wird mit Namen genannt, denn sie hatten fremde Frauen genommen. Dadurch hatten sie sich mit den Nationen vermischt (Ps 106,35; Esra 9,2) und die Schuld Israels26 Alle zwölf Stämme hatten durch ihren Götzendienst Schuld auf sich geladen. Infolgedessen wurden zuerst die zehn Stämme und dann die zwei Stämme aus ihrem Erbteil weggeführt (2. Kön 17,7; 2. Chr 36,14ff). Durch die erneute Vermischung mit den Nationen wurde diese Schuld nun noch vermehrt.
  2. Er fordert zu einem Bekenntnis auf: Ohne ein aufrichtiges Bekenntnis ist es unmöglich, eine Sache vor Gott zu bereinigen. Sie hatten vor Gott gesündigt und mussten die Sünde deshalb vor Gott bekennen. Esra hatte das bereits getan, deshalb spricht er jetzt die Übrigen an. Für uns gilt: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Dieses Prinzip gilt für den Sünder, der sich mit seiner Schuld an Jesus Christus wendet. Es gilt ebenso für den Gläubigen, der gesündigt hat.
  3. Er fordert zu einem entsprechenden Handeln auf: Die Taten beweisen häufig, ob ein Bekenntnis echt ist oder nicht. Das Volk sollte Gottes Wohlgefallen tun und sich absondern. Es geht nicht nur um Absonderung, sondern zuerst um das Wohlgefallen Gottes. Dabei ist die Reihenfolge durchaus bemerkenswert. Vollkommen hat nur der Herr Jesus das Wohlgefallen Gottes getan (Ps 40,9), und doch ist sein Leben Maßstab für unser Leben. Es geht nicht nur darum, einzelne Vorschriften zu beachten, sondern darum zu fragen, was unserem Gott gefällt (vgl. Kol 1,10).

Das Zusammenspiel von Bekenntnis und Taten ist wichtig. Salomo schreibt: „Wer seine Übertretungen verbirgt, wird kein Gelingen haben; wer sie aber bekennt und lässt, wird Barmherzigkeit erlangen“ (Spr 28,13). Ein Bekenntnis ohne entsprechende Konsequenzen ist wertlos. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Bibel siebenmal das Bekenntnis finden: „Ich habe gesündigt“ – und nur zweimal war es echt (bei David in 2. Samuel 24,17 und bei dem verlorenen Sohn in Lukas 15,21). Allerdings hilft es ebenso wenig weiter, eine Sache nur äußerlich abzustellen, ohne sie vor Gott mit einem Bekenntnis bereinigt zu haben.

Was Esra hier fordert, ist nichts anderes als Gehorsam. Der Grundsatz lautet: „Hat der Herr Gefallen an Brandopfern und Schlachtopfern, wie daran, dass man der Stimme des Herrn gehorcht? Siehe, Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken besser als das Fett der Widder“ (1. Sam 15,22). Das Wohlgefallen Gottes zu tun, ist nicht vom Gehorsam zu trennen. Die Situation in unserem Kapitel zeigt deutlich, wie schwer das im Einzelfall sein kann, besonders dann, wenn familiäre Beziehungen (Ehefrau, Kinder, Eltern, Geschwister) betroffen sind. Wir können uns sehr gut vorstellen, was Ehepaare und Eltern hier empfunden haben müssen. Dennoch sagt der Herr selbst: „Wer Vater oder Mutter mehr lieb hat als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr lieb hat als mich, ist meiner nicht würdig“ (Mt 10,37).

Die Reaktion des Volkes

Die Antwort der Versammelten lässt nicht auf sich warten. Die ganze Versammlung antwortet mit lauter Stimme (Vers 12). Es gibt eine seltene Einmütigkeit. Das Böse ist erkannt, und man ist entschlossen, es wegzutun. Sie erkennen die Verantwortung und sind bereit, sich ihr zu stellen. Was Esra fordert, basiert auf Gottes Wort – und das erreicht hier Herzen und Gewissen und führt zu Konsequenzen.

Allerdings gab es Hindernisse dabei, die Maßnahmen schnell umzusetzen (Vers 13).

  1. die Menge des Volkes
  2. die Witterung
  3. die große Anzahl der Betroffenen

Die Hindernisse werden jedoch nicht – wie sonst so oft – als Vorwand benutzt, um nicht zu handeln. Im Gegenteil: Das Volk macht konkrete Vorschläge, wie vorgegangen werden soll. Es mag heute im Versammlungsleben äußere Schwierigkeiten geben, die ein zügiges Handeln unmöglich machen. Es kann manchmal durchaus etwas Zeit kosten, Böses zu überwinden und abzustellen. Doch Gott ist heute – wie damals – gnädig. Allerdings darf die Bereitschaft und Konsequenz zum Handeln nicht fehlen.

Obwohl die Obersten des Volkes selbst schuldig geworden waren (Kap 9,2), genossen sie offensichtlich doch das Vertrauen des Volkes. Wichtig war, dass alles öffentlich und unter Zeugen ablief. Die Ältesten waren dabei, und jeder Fall sollte genau geprüft werden. Es gab keine Hast und keine Eile, sondern man nahm sich Zeit, „solange die Sache dauert“ (Vers 14). Das zeigt, dass man bereit war, die Sache zu Ende zu bringen. Dazu gab es einen guten Grund: „… bis die Glut des Zornes unseres Gottes von uns abgewandt werde.“ Gott ist ein heiliger Gott, der Böses nicht sehen kann. Obwohl wir Gott als liebenden Vater kennen, gilt doch zugleich, dass Er ein verzehrendes Feuer ist (Heb 12,29). Er ist unser Vater, dem wir vertrauensvoll nahen, und doch richtet Er zugleich ohne Ansehen der Person (1. Pet 1,17). Die Heiligkeit Gottes kann nie gegen seine Liebe ausgespielt werden – und umgekehrt.

Widerstand

Vers 15 trübt das schöne Bild der Einmütigkeit etwas. Offensichtlich gab es zwei Männer, die mit der Vorgehensweise nicht einverstanden waren, und sie fanden zwei weitere Männer, die sie darin unterstützten. Es ist denkbar, dass sie selbst betroffen waren und sich dem Urteil nicht beugen wollten. Eigentlich darf uns das nicht überraschen, denn wenn nach Gottes Gedanken gehandelt wird, ist es normal, dass Widerstand da ist. In einer örtlichen Versammlung ist das nicht anders. Dennoch ist es sehr ernst, wenn einige meinen, sich dem Urteil einer Versammlung nicht beugen zu wollen und dagegen aufstehen. Eine solche Haltung darf allerdings die anderen nicht vom Handeln abhalten. Fehlende Einmütigkeit ist sehr traurig, kann jedoch in den meisten Fällen kein Grund dafür sein, überhaupt nichts zu tun. Wenn Reinigung nötig ist, kann sie nicht von einigen wenigen torpediert werden. Paulus spricht sicher nicht ohne Grund in 2. Korinther 2,6 von einer Strafe, „die von den Vielen ist“ (gemeint ist der Ausschluss dessen, der in Hurerei lebte). H. Rossier schreibt treffend: „Ein Versammlungsbeschluss erfordert nicht die absolute Einstimmigkeit der anwesenden Personen, obwohl diese Einstimmigkeit wünschenswert ist.“

Verse 16–17: Das Böse wird gerichtet

Der gefasste Plan wird umgesetzt. Es ist eine Sache, Böses zu erkennen. Es ist eine zweite Sache, die richtigen Maßnahmen zu beschließen. Doch damit ist es nicht getan. Richter 5,15 spricht von Beschlüssen, die nicht umgesetzt wurden. Hier war es anders. Es blieb nicht bei einem Beschluss, sondern er wurde auch umgesetzt.

Drei Dinge fallen auf:

  1. Die Juden werden hier – zum letzten Mal in diesem Buch – „Kinder der Wegführung“ genannt. Sie akzeptieren ihre Schwachheit und ihren niedrigen geistlichen Zustand und sind doch zum Handeln bereit. Der Versammlung in Philadelphia wird gesagt, dass sie eine kleine Kraft hatte und doch den Namen des Herrn nicht verleugnet hatte (Off 3,8).
  2. Die Führerschaft Esras wird offensichtlich anerkannt. Er ist der erste, der in Vers 16 genannt wird, und er handelt hier nicht so sehr als Schriftgelehrter, sondern als Priester.27 Für diese Aufgabe war nicht nur Kenntnis der Gedanken Gottes gefragt, sondern vor allem geistliches Unterscheidungsvermögen und Nähe zu Gott. Die Übrigen waren „Männer mit Namen“, d. h. es waren keine unerfahrenen Neulinge, die mit der wichtigen Aufgabe betraut wurden.
  3. Die Aufgabe selbst bestand darin, die Angelegenheit zu untersuchen. Das geschah mit Ruhe und Bedacht, d. h. gründlich und sorgfältig. Dazu nahmen sie sich drei Monate Zeit. Es ist wichtig, dass gerade in Zuchtfragen nüchtern und sachlich geprüft wird und dass nicht nach plötzlich aufwallenden Gefühlen oder nach Sympathie und Antipathie gehandelt wird. Dazu gehört – selbst wenn es hier nicht ausdrücklich erwähnt wird – das Gebet. Manche Zuchtfragen in örtlichen Versammlungen sind deshalb unglücklich – und vielleicht sogar falsch – entschieden worden, weil das nicht beachtet wurde und man entweder zu emotional oder zu eilig war und nicht nach dem Willen des Herrn gefragt hat. Wir müssen nichts von heute auf morgen durchdrücken. Dennoch hatte die Prüfung ein Ende und brachte ein klares Ergebnis. Auch das ist wichtig.

Verse 18–44: Die Übertreter werden verzeichnet

Das Buch schließt am Ende anders, als wir es vermutlich erwartet hätten. Es listet diejenigen auf, die fremde Frauen genommen hatten, die ihren Männern zum Teil Kinder geboren hatten (Vers 44). Diese Tatsache machte die Trennung umso schwieriger.

Die lange Liste beginnt – anders als in Kapitel 2 – mit den Priestern. Die Söhne Jeschuas führen sie an. Das zeigt uns einmal mehr, was wir Menschen sind. Es waren die Nachkommen des Hohenpriesters, der sich bei der ersten Rückkehr gemeinsam mit Serubbabel so sehr für die Sache und das Haus Gottes engagiert hatte, die sich jetzt mit fremden Frauen vermischt hatten.

Die Priester trugen die größte Verantwortung und waren mit schlechtem Beispiel vorangegangen. Sie hätten – mehr als alle anderen – die Gedanken Gottes kennen und praktizieren sollen (vgl. Mal 2,7). Doch jetzt „gaben sie ihre Hand darauf“, ihre Frauen hinauszutun und für ihre Schuld zu opfern (Vers 19), d. h. sie waren nun bereit, mit gutem Beispiel voranzugehen. Ihr Opfer sollte ein Widder sein, der besonders von Kraft und Hingabe spricht. Das Werk vom Kreuz ist die Grundlage jeder Vergebung, die jedoch nur dann wirksam wird, wenn ein aufrichtiges Bekenntnis ausgesprochen wird.

Es folgen die Leviten, zu denen auch die Sänger und die Torhüter gehörten.28 Schließlich werden solche aus dem Volk Israel genannt (Verse 23–25). Sie bildeten die größte Gruppe. Gott bezeichnet sie hier nicht als „Juden“ oder als solche, die aus der Gefangenschaft zurückgekehrt waren, sondern spricht wieder von „Israel“. Trotz Verfall und Niedergang bleibt es Gottes Volk.

Alle waren bereit, sich vom Bösen zu trennen. Wie bereits bemerkt, können wir das Entlassen der Frauen nicht direkt auf uns übertragen. Dennoch werden zwei Dinge deutlich:

  1. Wir dürfen familiäre Bindungen (Eltern, Ehepartner, Kinder) nicht höher einschätzen als unsere Bindung zu unserem Herrn (Mt 10,37; Lk 14,26). Natürliche Zuneigungen sind von Gott gegeben, und doch können sie unter bestimmten Umständen ein Hindernis sein, in völliger Hingabe an den Herrn zu leben. Familiäre Bindungen dürfen uns nicht daran hindern, unserem Herrn zu folgen.
  1. Es gibt einen wichtigen Grundsatz, der bis heute gültig ist. Er lautet: Ohne Trennung vom Bösen ist ein Leben der Hingabe an Gott unmöglich. Bewusste und geduldete Verbindung mit Bösem verunreinigt. Das zeigen Stellen wie 2. Korinther 6,14–7,1; 2. Timotheus 2,21; Hebräer 13,13 und Offenbarung 18,4 sehr deutlich. Die Absonderung vom Bösen ist zudem eine grundlegende Wahrheit, ohne die wir das Zusammenkommen zum Namen des Herrn Jesus an dem Ort, wo Er seinen Namen wohnen lässt, nicht verwirklichen können. Das lehrt uns der zweite Teil des Buches Esra eindrucksvoll. Von J. N. Darby stammt die Aussage: „Es ist eine fundamentale Wahrheit, dass Absonderung vom Bösen die Grundlage jeder wahren Einheit ist. Außerhalb dieser Einheit wird die Autorität von Gottes Namen mit Bösem verbunden; man widersteht letztlich seiner Autorität.“29

Damit endet die Beschreibung des Werkes Esras in diesem Buch. Wir lesen weiter nicht, dass Esra eine führende Rolle im Volk Israel eingenommen hätte. Er hatte die Gnade, nach einer besonderen Aufgabe zurückzutreten. Im Buch Nehemia lesen wir allerdings noch einmal von ihm. Wir lernen dort, wie er dem Volk in geistlichen Fragen Hilfestellung gab, indem er ihnen das Wort Gottes vorstellte und es auf Herz und Gewissen legte (Neh 8).

Fazit

Das Buch Esra spricht über eine Erweckung im irdischen Volk Gottes, die ihre Anwendung in unserem Leben zeigt. Das Buch zeigt uns, wie Gott sich zu denen bekennt, die bereit sind, sich zu Ihm zu wenden. Wo man die Wahrheit des Wortes Gottes ins Herz fasst und sie im täglichen Leben umsetzen möchte, wird selbst in den „Tagen kleiner Dinge“ genügend Kraft vorhanden sein, um Großes für Gott zu tun. Das gilt in unserem persönlichen Leben ebenso wie im Leben der Versammlung Gottes. Die Grundsätze Gottes über sein Haus haben sich nicht verändert. Der eine Ort, wo der Herr Jesus selbst in der Mitte derjenigen sein wird, die zu seinem Namen zusammenkommen, ist immer derselbe. Wir wollen uns gegenseitig ermutigen, Babel zu verlassen und den Weg hinauf nach Jerusalem zu gehen – den Ort der Gegenwart und des Segens des Herrn.

Fußnoten

  • 1 Das hebräische Wort wird manchmal mit „Schreiber“ und manchmal mit „Schriftgelehrter“ übersetzt. In der Elberfelder Bibelübersetzung wird das Wort hier zum ersten Mal mit „Schriftgelehrter“ wiedergegeben.
  • 2 Es scheint so, als wenn die Schriftgelehrten in einem gewissen Sinn die Stelle der Propheten eingenommen hatten. Allerdings gab es einen großen Unterschied. Die Schriftgelehrten empfingen keine neuen Offenbarungen, sondern erklärten das, was Gott seinem Volk durch das Gesetz bzw. die Worte der Propheten offenbart hatte. Esra war sozusagen der „Prototyp“ und zugleich das Vorbild eines echten Schriftgelehrten. Er verstand sich darauf, das Gesetz zu erklären und anzuwenden. Er ist der erste, der in diesem Sinn ein „Schriftgelehrter“ genannt wurde.
  • 3 Esra unterschied sich damit völlig von den Schriftgelehrten zu Lebzeiten des Herrn Jesus. Dort finden wir eine Gruppe von Menschen, die zwar das Alte Testament dem Buchstaben nach sehr genau kannte. Diese Kenntnis hatte jedoch keinen Einfluss auf ihre tägliche Lebensführung. Der Herr nennt sie deshalb mehrfach „Heuchler“. In Matthäus 23,3 warnt Er seine Jünger und die Volksmengen vor den Schriftgelehrten: „Alles nun, was irgend sie euch sagen, tut und haltet; aber tut nicht nach ihren Werken, denn sie sagen es und tun es nicht.“ Von dieser Art war Esra nicht.
  • 4 Das Neue Testament spricht siebenmal davon, dass der Weg nach Jerusalem „hinauf“ geht (Lk 18,31; Joh 2,13; 5,1; 11,55; Apg 21,15; 25,1; Gal 1,17).
  • 5 Das hebräische Wort, das hier mit „vollkommen“ übersetzt ist, ist in seiner genauen Bedeutung schwierig zu bestimmen. Wenn wir es neutestamentlich interpretieren wollen, können wir daran denken, dass „vollkommen“ an manchen Stellen geistlich gereift und „erwachsen“ bedeutet (z. B. 2. Kor 13,11). Das würde jedenfalls auf Esra zutreffen.
  • 6 Es würde sicher zu weit gehen, den persischen König hier direkt als ein Bild Gottes zu bezeichnen, und doch liegt in dem, was er Esra sagt, ein indirekter Hinweis auf das, was für uns dem Willen Gottes entspricht.
  • 7 Im Licht des Neuen Testaments können wir folgenden Unterschied zwischen Dank, Preis und Anbetung machen: Wir danken Gott für seine Gaben, wir preisen Gott für seine Taten und wir beten Ihn an für das, was Er ist. Dabei ist klar, dass diese drei Dinge häufige ineinander übergehen und nicht scharf voneinander getrennt werden können. In der Praxis wird Dank für Gottes Gaben häufig zum Lobpreis Gottes führen und Lobpreis zur Anbetung.
  • 8 Es fällt auf, dass in Kapitel 2 von „Männern“ die Rede ist, während Kapitel 8 von „Männlichen“ spricht. Wahrscheinlich geht es in Kapitel 2 um erwachsene Männer, während in Kapitel 8 die männlichen Kinder eingeschlossen sind. Die Addition in Kapitel 8 ergibt eine Anzahl von ca. 1500 männlichen Personen – wobei die Priester und die Nachkommen Davids sowie die 258 Leviten und Nethinim, die später hinzukamen, und Frauen bzw. Mädchen nicht mitgezählt werden. Alles in allem mögen es vielleicht 5.000 Personen gewesen sein.
  • 9 Ähnliches kann man in der Kirchengeschichte beobachten, wenn man die Zeit der Reformation mit der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert vergleicht.
  • 10 vgl. die Hinweise in Kapitel 2
  • 11 Wir lernen hier, dass Demütigung nicht immer damit zu tun hat, dass wir gesündigt haben. Demütigung hat etwas mit einer demütigen (niedrigen) Gesinnung zu tun, die nicht an sich, sondern an andere denkt. Unser Herr war sogar von Herzen demütig, obwohl Er nie gesündigt hat und nicht einmal sündigen konnte.
  • 12 Es ist manchmal darauf hingewiesen worden, dass wir im Neuen Testament keinen ausdrücklichen Hinweis auf das Gebet für unsere Kinder finden. Vielleicht ist das so selbstverständlich, dass es nicht ausdrücklich gesagt wird (wobei Stellen wie Philipper 4,6 oder 1. Petrus 5,7 unsere Kinder eindeutig einschließen). Diese beiden Stellen im Alten Testament ermutigen uns jedoch ausdrücklich, für unsere Kinder zu beten.
  • 13 An anderen Stellen wird das Fasten ein „Kasteien der Seele“ genannt (z. B. 3. Mo 16,29.31; 23,27.29.32; 4. Mo 29,7; 30,14; Ps 35,13; Jes 58,3.5).
  • 14 Das bedeutet ausdrücklich nicht, dass wir heute nicht fasten sollen. Wer es aus der richtigen inneren Gesinnung heraus tut, ist darin unbedingt frei. Wer es – wiederum aus der richtigen inneren Gesinnung heraus – nicht tut, sollte dazu ebenfalls frei sein.
  • 15 Bei Nehemia war es anders (Neh 2,9), und der Geist Gottes kritisiert das nicht. Unterschiedliche Situationen können häufig nicht miteinander verglichen werden, und wir müssen lernen, das zu unterscheiden.
  • 16 Ein Talent entspricht etwa 34 kg.
  • 17 Es gibt darüber hinaus noch eine weitere praktische Anwendung. Esra betraute eine Gruppe von Personen damit, über die Gaben des Königs zu wachen und sie zu bewahren. Es gibt in den örtlichen Versammlungen ebenfalls eine Finanzverantwortung im Blick auf die Kollekte (vgl. 2. Kor 8). Es sollten immer mehrere sein, die diese Verantwortung übernehmen. Das ist keine Frage von mangelndem Vertrauen oder Zweifel an der Treue derer, die diese Aufgabe übernehmen. Paulus schreibt: „Denn wir sind auf das bedacht, was ehrbar ist, nicht allein vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen“ (2. Kor 8,21). Deshalb wurde alles nach Menge und Gewicht genau vermerkt. Die Buchhaltung Esras wurde sozusagen überprüft und für gut befunden. Klare Verhältnisse im Blick auf die Verwaltung finanzieller Gaben sind ein göttliches Prinzip. So wurde hier alles durch andere in Empfang genommen (V. 33.34).
  • 18 Es fällt auf, dass die Anzahl der Opfertiere genau genannt wird, nämlich 12 Stiere, 96 Widder, 77 Schafe, 12 Böcke. Die Zahl 12 (oder ein Vielfaches davon) steht im Vordergrund. Das weist eindeutig auf ganz Israel hin.
  • 19 Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die erste Generation häufig etwas aufbaut, die zweite Generation beschränkt sich darauf, es so gut wie möglich zu erhalten, und die dritte Generation beginnt, das Werk der ersten Generation zu zerstören.
  • 20 Priester und Leviten weisen in ihrer geistlichen Bedeutung auf zwei besondere Vorrechte der Gläubigen hin, nämlich die Anbetung und den Dienst in der Versammlung. Wenn wir in unseren Zusammenkünften die Absonderung von der Welt aufgeben, gerät unser Versammlungsleben in eine gefährliche Schieflage.
  • 21 Für „Abendopfer” steht hier das gleiche Wort wie in Esra 9. Es wird an den meisten Stellen mit „Speisopfer“ übersetzt, jedoch manchmal auch mit „Geschenk“ oder „Opfergabe“.
  • 22 Ein Prophet ist in erster Linie jemand, der für einen anderen spricht. Es kann jemand sein, der für Menschen zu Gott spricht (1. Mo 20,7). In der Regel ist es jemand, der für Gott zu den Menschen spricht, um sie zu warnen oder zu ermutigen. Ein Prophet Gottes wendet sich an Herz und Gewissen der Zuhörer. Das ist bei den neutestamentlichen Propheten nicht grundsätzlich anders.
  • 23 Dieser Bund hat nichts mit den Bündnissen zu tun, die Gott mit Menschen geschlossen hat. Es geht hier um eine Verpflichtung von Menschen Gott gegenüber.
  • 24 H. Rossier schreibt dazu: „Die persönliche und gemeinschaftliche Demütigung ist der erste Schritt, doch weder der Einzelne noch das Volk Gottes, kann dabei stehen bleiben. Der Demütigung muss das Handeln folgen… Die Demütigung selbst ist noch nicht die Trennung vom Bösen. Sie ist der Weg dorthin und bereitet ihn vor. Andererseits – wenn es darum geht, einen schlechten Zustand zu heilen – wird jedes Handeln ohne vorherige Demütigung, so eifrig wir dabei sein mögen, nur zu neuen Ruinen führen. Wenn das Fleisch nicht durch Demütigung gerichtet wird, wird es sich selbst in der Frage der Trennung vom Bösen offen zeigen“ (H. Rossier: Le Livre d’Esdras).
  • 25 Dabei verkennen wir nicht, dass es nach den Anweisungen des Herrn nur eine einzige Ausnahme gibt, in der eine Ehescheidung möglich (aber nicht zwingend) ist, nämlich der außereheliche Geschlechtsverkehr eines Ehepartners. Dieser hat das Bild von Christus und seiner Versammlung bereits zerstört, und das mag der Grund sein, warum der Herr in diesem Fall die Möglichkeit einer Scheidung gibt (Mt 5,32).
  • 26 Es fällt auf, dass hier – wie so oft im Buch Esra – wieder von Israel die Rede ist. Aus der Sicht Gottes änderte der schlechte praktische Zustand der Wenigen aus Juda und Benjamin nichts daran, dass Gott das ganze Volk im Auge hat. Individuelle Schuld ist zugleich kollektive Schuld.
  • 27 Der Ausdruck „Esra, der Priester“ kommt insgesamt fünfmal vor (Esra 7,21; 10.10.16; Neh 8,2.9).
  • 28 Es fällt auf, dass die Nethinim hier nicht genannt werden. Auf sie traf die Anklage aus Kapitel 9,2 nicht zu: „So hat sich der heilige Same mit den Völkern der Länder vermischt.“ Sie waren wahrscheinlich nicht aus dem Volk Israel und standen deshalb unter einer geringeren Verantwortung (vgl. Lk 12,49).
  • 29 J. N. Darby: Absonderung vom Bösen, Gottes Grundsatz von Einheit (in: Bibelpraxis.de)
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