Fragen zu biblischen Themen
Gebahnte Wege
Der folgende Vers aus Psalm 84 ist sicher den meisten Kindern Gottes wohl bekannt:
„Glückselig der Mensch, dessen Stärke in dir ist, in deren Herzen gebahnte Wege sind“ (Vers 6).
Der erste Teil dieses Psalms (Verse 2–5) redet von den Wohnun- gen Gottes. Er zeigt die Glückseligkeit derer, die dort weilen und wohnen dürfen. Ab Vers 6 stellt der Psalmist die Glückseligkeit vor, die darin liegt, dass es Wege dorthin gibt, und deswegen spricht er nun wiederholt vom Gehen. Das ist immer die Weise Gottes: Zuerst weist Er auf das glückselige Ziel hin und erst dann auf den Weg, der dorthin führt.
Prophetisch haben wir in diesem Psalm die Sprache des treuen jüdischen Überrestes, der lange Zeit durch die Gefangenschaft in fremdem Land des Vorrechts beraubt war, in den Vorhöfen des Herrn zu weilen. Er sehnt sich nach dem Haus seines Gottes, und alles in ihm ruft laut nach dem lebendigen Gott. Für diesen Überrest haben die „gebahnten Wege“ eine besondere Bedeutung, wie wir noch sehen werden.
Doch zuerst wollen wir uns mit der übertragenen Bedeutung beschäftigen, die in diesen Worten für uns liegt. Auch wir haben Wohnungen vor uns, die vielen Wohnungen des Vaterhauses, und wir befinden uns auf dem Weg dorthin (Joh 14). Was bedeutet dann aber dieser Ausdruck „in deren Herzen gebahnte Wege sind“? Ich selbst habe lange geglaubt, dass damit ein bestimmter Herzenszustand gemeint ist, der Gott wohl gefällt – ein Herzenszustand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass wir in unseren Herzen Gott keinen Widerstand gegen Seinen Willen und Seine Führungen entgegensetzen und bereit sind, auf Seinen Wegen zu gehen. Insofern würden wir gebahnte Wege in unserem Herzen haben. Doch das scheint der Sinn dieses Ausdrucks nicht zu sein.
Wenn wir nämlich das in Psalm 84 verwendete Wort für ›gebahnter Weg‹ genauer untersuchen, ist festzustellen, dass im Hebräischen nicht das normale Wort für ›Weg‹ (heb. derek) steht. Dieses sehr häufig gebrauchte Wort bezeichnet im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn einen ›Weg‹, eine ›Straße‹, einen ›Pfad‹. Das erste Mal kommt es in 1. Mose 3, Vers 24, vor: „Weg zum Baum des Lebens“. Auch im übertragenen Sinn beschreibt es einen Weg, zum Beispiel den „Weg der Sünder“ in Psalm 1 oder den „Weg des Herrn“ in Psalm 27. Aber in Psalm 84 begegnet uns ein anderes Wort, das relativ selten vorkommt: mesillah. Es bezeichnet eine ›Hauptstraße‹, einen ›aufgeschütteten, gebahnten Weg‹. Diese Bedeutung wird aus Hiob 19 deutlich: „Sie bahnten ihren Weg (oder: schütteten ihre Straße auf) gegen mich“ (Vers 12). Auch das Vorkommen dieses Wortes in Jesaja ist aufschlussreich: „An jenem Tag wird eine Straße (oder: ein hoher, aufgeworfener Weg) sein von Ägypten nach Assyrien“ (Kap. 19, 23; vgl. auch Kap. 40, 3; 49, 11; 62, 10).
In 1. Chronika 26, Verse 16 und 18, wird mit ›mesillah‹ ein Aufgang an der Westseite des Tempels beschrieben.
Aus alledem wird ersichtlich, dass der Verfasser des 84. Psalms die „aufgeschütteten Straßen“, das heißt die Wallfahrts- straßen nach Jerusalem im Sinn hat: auf ihnen zum Heiligtum des Herrn hinaufzugehen, war der sehnliche Wunsch dieser gläubigen Menschen. Und so preist er die glückselig, die diese Straßen in ihrem Herzen hatten, die von dem Verlangen beseelt waren, wieder zum Heiligtum Gottes in Jerusalem hinaufzugehen.
Erfüllt auch unser Herz solch ein Wunsch? Wir haben heute das weit größere Vorrecht, im Namen des Herrn Jesus versammelt zu sein und Ihn persönlich zu erleben. Nehmen wir dieses Vorrecht mit glücklichem Herzen wahr? Oder beschämen uns die im Exil weilenden Israeliten, die die aufgeschütteten Straßen zum Heiligtum Gottes so treu im Herzen trugen? Und wenn wir gar an unser endgültiges „Hinaufgehen“ in den Himmel selbst denken, ist die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi unsere beständige Freude? Sind wir uns bewusst, direkt auf dem Weg zu Ihm zu sein, zu Dem, der uns so unaussprechlich liebt? In der Tat, dann sind wir wahrhaft glückselig zu nennen!