Fragen zu biblischen Themen
Freund
Schon mancher Leser der Evangelien mag sich darüber gewundert haben, dass der Herr Jesus Seinen Verräter, Judas Iskariot, mit ›Freund‹ anredete, als dieser sich anschickte, Ihn zu überliefern:
„Freund, wozu bist du gekommen!“ (Mt 26, 50).
War dieser Mann nicht ein „Teufel“, der „Sohn des Verderbens“ (Joh 6, 70; 17, 12)? So hatte der Herr selbst von ihm gesprochen. Warum nennt Er ihn nun „Freund“? Warum eine so freundliche Anrede, da dieser Mensch doch im Begriff stand, eine der scheußlichsten Taten zu vollbringen?
Die Lösung dieser Schwierigkeit wird durch zwei Feststellungen erleichtert. Die erste ist, dass der Herr Jesus hier ein anderes griechisches Wort für ›Freund‹ gebraucht als zum Beispiel in Johannes 15, wo Er die Seinen zweimal als ›phíloi‹, als ›Freunde‹, bezeichnet und sagt: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete. Ich nenne euch nicht mehr Knechte, denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut; euch aber habe ich Freunde genannt, weil ich alles, was ich von meinem Vater gehört habe, euch kundgetan habe“ (Verse 14.15).
›phílos‹ ist eigentlich ein Eigenschaftswort und bedeutet ›geliebt, wert, teuer, zugetan, befreundet‹. Als Hauptwort hat es dann die Bedeutung von ›Freund, Geliebter‹. Wenn der Herr von Lazarus als ›unserem Freund‹ spricht (Joh 11, 11); wenn Abraham ›Freund Gottes‹ genannt wird (Jak 2, 23); wenn der Apostel Johannes am Ende seines dritten Briefes Grüße von ›Freunden‹ und Grüße an ›Freunde‹ übermittelt, dann ist es stets das Wort ›phílos‹, das gebraucht wird. Es handelt sich jeweils um Menschen, die geliebt werden.
Doch Judas Iskariot redet der Herr Jesus nicht mit ›phílos‹, sondern nur mit ›hetaíros‹ an. Dieses Wort bedeutet zwar auch ›Freund‹, aber in dem Sinn von ›Genosse, Kamerad, Gefährte, Anhänger, Begleiter‹. Nun war Judas Iskariot ohne Frage ein Gefährte, ein äußerer Anhänger, ein Begleiter des Meisters gewesen. Insofern war im Blick auf ihn dieses Wort durchaus angemessen.
Aber eine zweite Feststellung wirft weiteres Licht auf unsere Frage. Das Wort ›hetaíros‹ kommt nur noch zweimal im Neuen Testament vor, beide Mal im Matthäus-Evangelium und beide Mal als Anrede gebraucht. Und in beiden Stellen ist es – im Bild – Gott, der es benutzt:
„Freund, ich tue dir nicht unrecht“ (Kap. 20, 13).
„Freund, wie bist du hier hereingekommen, da du kein Hochzeitskleid anhast?“ (Kap. 22, 12).
Es ist tatsächlich nicht einfach, an diesen Stellen eine gute deutsche Entsprechung für das griechische ›hetaíros‹ zu finden. Wenn es nicht der Heiland, wenn es nicht Gott wäre, der es gebraucht, wäre ›Kerl‹ oder ›Geselle‹ durchaus zutreffend. Am besten scheint mir hier die Wiedergabe mit ›Mensch‹ zu sein: „Mensch, ich tue dir nicht unrecht“ usw. Wir müssen unbedingt von der Vorstellung Abschied nehmen, es handele sich in diesen Fällen um mehr oder weniger freundliche Zurechtweisun- gen. Ganz im Gegenteil, es sind vernichtende Worte. Jeder dieser kurzen, mit ›Freund‹ eingeleiteten Sätze gleicht eher einem Peitschenhieb als einem freundlichen Appell. Entschieden und unwillig weist der ›König‹ im ersten Gleichnis den Vorwurf der Ungerechtigkeit zurück; und im zweiten Gleichnis kündet seine Frage unmittelbar bevorstehendes Unheil an, weswegen der Mensch auch sogleich „verstummte“.
Offenbar trägt auch der Ausruf des Herrn „Freund, wozu bist du gekommen!“ diesen ernsten, abschließenden Charakter. Mit ›Freund‹ wird also keineswegs eine freundliche Beziehung angedeutet, wie unser Sprachgebrauch es nahe legen mag. Nie hat der Herr Jesus einen anderen Seiner Jünger mit diesem Wort (hetaíros) angesprochen. Und ist es nicht bezeichnend, ja, erschütternd, dass das Wort an allen drei Stellen, wo es vorkommt, einen Menschen abweist? Das liegt jedoch nicht in dem Wort selbst begründet, sondern in dem Zusammenhang, in dem es gebraucht wird. Die Wiedergabe durch ›Freund‹ scheint jedoch dadurch gerechtfertigt zu sein, dass sich nun die Vorhersage von Psalm 55, Verse 13.14, erfüllt: „Nicht ein Feind ist es, der mich höhnt …, sondern du, ein Mensch wie ich, mein Freund und mein Vertrauter.“