Dies ist das ewige Leben
Eine Auslegung des ersten Johannesbriefes
Merkmale des göttlichen Lebens
Der erste grosse Abschnitt im ersten Brief des Johannes (Kap. 1,1–2,2) hatte uns die eigentliche Lehre des Briefes vermittelt. Unter der Überschrift „Mit Gott im Licht“ haben wir seine drei Teile vor uns gehabt, die uns mit der Offenbarung des Lebens (Kap. 1,1–4), der Botschaft Gottes (Verse 5–10) und der Sachwalterschaft Christi (Kap. 2,1.2) bekannt gemacht haben. Wir können diese drei Teile auch folgendermaßen umschreiben: Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn, die Natur Gottes, und die Fürsprache Christi, wenn wir gesündigt haben.
Neuer Abschnitt – Gliederung und Einleitung
Mit Vers 3 von Kapitel 2 beginnt ein neuer Abschnitt in diesem Brief, und er geht bis einschließlich Vers 11. In diesem Abschnitt werden uns die Merkmale des göttlichen Lebens vorgestellt – des Lebens, das der Gläubige in Christus besitzt und das zu offenbaren er berufen ist.
Streng genommen, erstreckt sich dieser neue Abschnitt sogar bis Kapitel 3, Vers 23 einschließlich. In diesen Teil sind jedoch zwei Parenthesen (Einschaltungen) eingebettet, eine große (Kap. 2,12–27) und eine kleine (Kap. 3,1–3). In der großen Parenthese werden die geistlichen Wachstumsstufen unter den Kindern Gottes mit ihren Kennzeichen und Gefahren beschrieben. Dennoch wollen wir der besseren Übersicht wegen den weitläufigen Abschnitt (Kap. 2,3–3,23) „aufbrechen“ und die einzelnen Unterabschnitte für sich betrachten, nachdem nun der Gesamtzusammenhang deutlich gemacht worden ist.
Wenn nun der Apostel Johannes damit beginnt, die Wesenszüge des göttlichen Lebens vorzustellen: Gehorsam, Liebe und Gerechtigkeit, so sind es in der Hauptsache zwei Gefahren, die ihn dazu veranlassen. Die eine liegt darin begründet, dass Kinder Gottes eben noch sündigen können, und es leider auch tun. Das aber bietet dem Widersacher willkommene Gelegenheit, ihre Beziehungen zu Gott infrage zu stellen und so die Grundlagen ihres Glaubens und Glücks zu zerstören.
Und dann war da noch die Gefahr des Gnostizismus: Ungläubige Verführer, intellektuelle Erkenntnis als das höchste Gut ansehend, maßten sich an, größere Kenntnis von Gott zu haben als diese einfachen Christen. Damit verunsicherten sie die Gläubigen und zweifelten die Echtheit des göttlichen Lebens in ihnen an.
Deswegen gibt der Apostel die Charakterzüge des ewigen Lebens an, um auf diese Weise einerseits die Gläubigen in ihrer Glaubensgewissheit zu befestigen und andererseits die Verführer mit ihrem hohlen Bekenntnis zu entlarven. Gerade diese Zielsetzung ist es, die uns diesen Abschnitt, diesen ganzen Brief so kostbar, aber auch so unentbehrlich macht. Wenn wir sie verstanden haben, stört es uns auch nicht im Geringsten, dass der Schreiber nun erneut das Bekenntnis prüft, wie wir es ähnlich im ersten Kapitel gesehen haben. Das dreimalige „Wer sagt ...“ (Verse 4.6.9) und die entsprechenden „Tests“ dienen eben diesem Ziel.
Gehorsam – Quelle des Segens
„Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen (1. Joh 2,3).
Als Erstes spricht der Apostel von dem Erkennen Gottes: „... dass wir ihn kennen“. Da dieses Erkennen nur möglich ist, wenn man göttliches Leben besitzt (Joh 17,3), geht es bei der Frage, ob jemand Gott erkennt, letztlich um nichts anderes als um die Frage, ob jemand überhaupt geistliches Leben aus Gott besitzt.
Was würden wir nun antworten, wenn wir gefragt würden, was das hervorragende, erste Kennzeichen des ewigen Lebens ist?
Ich könnte mir vorstellen, dass die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich, sehr mannigfaltig ausfielen. Ist damit nicht die größte aller Tugenden, die Liebe, gemeint? Oder ist es Eifer für das Evangelium? Oder Mut im Bekennen des Herrn? Oder Kraft im Vollbringen mächtiger Glaubenstaten? Oder Ausharren in prüfenden Umständen?
Seltsam, dass die allerwenigsten von uns – wären wir nicht durch das Wort Gottes bereits darüber belehrt – die richtige Antwort geben würden! Selbst wahre Kinder Gottes würden von sich aus kaum den Charakterzug an die erste Stelle setzen, den Gott dorthin setzt: Gehorsam.
„Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten“ (Vers 3).
Bevor wir auf Einzelheiten dieses Verses näher eingehen, wollen wir einen Augenblick bei der Wichtigkeit des Gehorsams stehen bleiben. Bedenken wir: Die einzig angemessene Haltung des Geschöpfes dem Schöpfer gegenüber ist Gehorsam. Gott ist der Souverän, und der Mensch schuldet Ihm Gehorsam und Unterordnung unter Seinen Willen. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn Gott uns auf eine weit höhere Ebene der Beziehungen, die von Kindern zum Vater, erhebt. Auch als Seine Kinder ist das Erste, was wir unserem Gott und Vater schulden, Gehorsam. Wenn Gott in Seiner Gnade uns zu Sich zurückgebracht und uns dabei überaus glücklich gemacht hat, dann hat Er uns auch in eine Stellung der Abhängigkeit zurückgebracht, deren Ausdruck Gehorsam ist. Gehorsam ist der beherrschende Charakterzug göttlichen Lebens, so dass wir sagen können: Wo grundsätzlich kein Gehorsam vorhanden ist, da ist auch kein göttliches Leben vorhanden. Einige Beispiele mögen uns die Vorrangigkeit des Gehorsams verdeutlichen.
Saulus von Tarsus hatte noch keinen Frieden mit Gott. Er war gerade von neuem geboren worden. Noch liegt er im Staub vor Dem, der ihm in Herrlichkeit erschienen ist, und fragt nach Seinem Willen: „Was soll ich tun, Herr?“ (Apg 22,10). Fast instinktiv ist es sein Begehren, ist es das Verlangen des neuen Lebens in ihm, zu gehorchen.
In 1. Petrus 1 wird der Gehorsam vor der Blutbesprengung Jesu Christi genannt (Vers 2). Wir sind dazu auserwählt, auf dieselbe Weise zu gehorchen, wie der Herr Jesus gehorsam war, das heißt von Herzen – noch ehe wir unter dem Schutz des Blutes Christi die Heilsgewissheit erlangt haben. Das unterstreicht das soeben von Saulus Gesagte.
Was uns in den Tagen vor unserer Bekehrung kennzeichnete, war Ungehorsam; wir waren Söhne des Ungehorsams (Eph 2,2.3). Jetzt aber sind wir durch die Gnade Gottes Kinder des Gehorsams geworden (1. Pet 1,14). Das neue Verlangen, den Willen des Herrn zu tun, kommt nicht vom natürlichen Menschen. Von Natur aus bevorzugen wir es, unseren eigenen Willen zu tun, wünschen nichts mehr, als unseren eigenen Weg zu gehen. Aber von dem Augenblick an, da wir auf Christus vertrauen, ist es unsere Freude, Seinem göttlichen Willen zu folgen.
Der Ausdruck „Glaubensgehorsam“ zu Beginn und am Schluss des Römerbriefes (Kap. 1,5 und Kap. 16,26) bestätigt, dass unser Weg als Gläubige aus den Nationen mit Gehorsam aus Glauben beginnt. Es ist hier nicht von dem praktischen Glauben während unseres Glaubensweges die Rede. Vielmehr gebietet Gott den Menschen, dass sie überall Buße tun sollen (Apg 17,30); und Gehorsam ist es, was Gott von den Menschen auf Sein Gebot erwartet.
Das erhabenste Beispiel ist natürlich das des Herrn Jesus selbst. Der eigenen Erfahrung nach wusste Er nicht, was Gehorsam ist, ehe Er als Mensch auf die Erde kam. Er wusste es wohl im Blick auf Seine Geschöpfe, aber Er war kein Geschöpf, sondern der Schöpfer. Zu gehorchen war für Ihn etwas Neues, war Er doch gewohnt zu gebieten. In diesem Sinn war es nötig, dass Er „den Gehorsam lernte“ – an dem, was Er litt (Heb 5,8). Unermessliche Herablassung des Sohnes Gottes! Der Herr Jesus war der vollkommene Mensch, und Er wandelte in vollkommener Abhängigkeit von Seinem Gott. Sein Leben als Mensch war in erster Linie nicht durch Aktivität zum Guten, sondern durch Gehorsam gekennzeichnet. Er war in allem Seinem Vater unterworfen, und Dessen Wille war Sein höchster Beweggrund für alles, was Er tat und sagte. Seinem Vater zu gehorchen bedeutete „Speise“ für Ihn. Sein Leben war ein Leben des Gehorsams. Wie anbetungswürdig ist das alles! Selbst wenn der Teufel kam, um Ihn zu versuchen, begegnete Er dem Widersacher mit Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes: „Es steht geschrieben ..
Um die Wichtigkeit des Gehorsams noch deutlicher zu machen, wollen wir uns einmal kurz anschauen, welch verheerende Folgen sein Gegenstück, der Ungehorsam, hat. War es nicht – neben Misstrauen gegenüber dem Schöpfer – die Sünde des Ungehorsams, die den ersten Menschen und mit ihm das ganze nachfolgende Menschengeschlecht in den Tod stürzte (1. Mo 2,17; 3,11.17–19; Röm 5,12)? Durch den Ungehorsam des einen Menschen sind die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden (Röm 5,19). Kann etwas nachdrücklicher als dies zeigen, wie verhängnisvoll, wie voller Unheil und weit reichend Ungehorsam ist? Und wie beantwortete Gott den Ungehorsam gefallener Engel, die in Auflehnung gegen Ihn ihren ersten Zustand nicht bewahrt, sondern ihre eigene Behausung verlassen hatten (vgl. 1. Mo 6,4)? Er hat sie zum Gericht des großen Tages mit ewigen Ketten unter der Finsternis verwahrt (Jud 6).
Seine Gebote halten
Doch kommen wir wieder auf unseren Vers 3 in 1. Johannes 2 zurück! Wenn hier vom Halten Seiner Gebote die Rede ist, so weist das also auf den Gehorsam der Kinder Gottes hin – dieses erste Kennzeichen göttlichen Lebens.
Aber um wessen Gebote geht es, und was ist überhaupt mit Geboten gemeint?
Wir haben hier wieder einen der gleitenden Übergänge von Christus zu Gott und von Gott zu Christus, wie sie für unseren Brief charakteristisch sind. Sie sind ein starker Ausdruck der Gottheit Christi. Obwohl Christus Mensch wurde, ist Er und bleibt Er Gott – das „Wort“, das der Gottheit einen vollkommenen Ausdruck gibt (Joh 1,1.14.18). Johannes hatte soeben von Christus gesprochen als der Sühnung für unsere Sünden, so dass „seine Gebote“ unbedingt die Gebote Christi sind. Und doch sind es zugleich auch die Gebote Gottes, denn Christus ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15). Die Worte, die Er sprach, waren die Worte Seines Vaters, von Ihm hatte Er sie gehört (Joh 14,10; 15,15; 17,8.14).
Was nun den Ausdruck „Gebote“ angeht, so müssen wir dabei nicht an die sittlichen Gebote des mosaischen Gesetzes, die so genannten zehn Gebote, denken. Sie waren zwar „zum Leben“ gegeben worden (Röm 7,10), das heißt, wer sie hielt, würde leben (vgl. Gal 3,12). Aber niemand hielt sie. Wir aber haben ewiges Leben, um zu gehorchen – zu gehorchen, wie Christus gehorchte (1. Pet 1,2).
Wenn Johannes vom Halten Seines Gebots oder Seiner Gebote spricht, so zitiert er damit direkt den Herrn Jesus, der diesen Ausdruck wiederholt verwendet hat (vgl. Joh 14,15.21; 15,10; Mt 28,20). Eng damit verbunden ist das Halten Seines Wortes (Joh 14,23.24; 17,6–8). Und wie der Herr das Halten Seiner Gebote neben das Halten Seines Wortes stellt, so tut es auch der Apostel in seinem Brief. Das Halten Seiner Gebote (Kap. 2,3) verknüpft er mit dem Halten Seines Wortes (Vers 5). Ein wenig später sagt er sogar: „Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt“ (Vers 7).
Das zeigt uns, dass wir aus Seinem Gebot oder Seinen Geboten auf der einen Seite und Seinem Wort auf der anderen in unserer Vorstellung nicht zwei unterschiedliche Dinge machen sollten. Es sind zwei Seiten ein und derselben Sache. Bei „Gebot“ steht mehr die Autorität, stehen mehr die Einzelheiten des göttlichen Lebens im Vordergrund, während „Wort“ den Ausdruck der Gedanken Gottes als Ganzes bezeichnet und insofern etwas umfassender ist. Beide sind indes die Wahrheit, wie ein Vergleich der nachfolgenden Stellen zeigt (Kap. 1,8; 2. Joh 4–6; 3. Joh 3; Joh 17,17), und beide schließen Gehorsam ein.
Als der Herr Jesus hier auf der Erde war, war Er den Geboten Seines Vaters ebenso unterworfen wie Seinem Wort („Gebot“: Joh 10,18; 12,49.50; 14,31; 15,10; „Wort“: 8,55). Auf diese Weise offenbarte Er in Vollkommenheit die Wahrheit, offenbarte Gott, und zwar sowohl durch Seine Worte als auch durch Sein Leben. So sehr war das der Fall, dass Er sagen konnte, Er sei durchaus das, was Er auch zu ihnen redete (Joh 8,25). Zwischen Seinen Worten und Seinem Leben bestand keine Diskrepanz (Missverhältnis). Sie waren gleichermaßen der Ausdruck des ewigen Lebens (Kap. 6,68). Und das Leben des Herrn war, wie wir uns erinnerten, ein gehorsames Leben, ein Leben des Gehorsams (Kap. 4,34; 6,38; 8,29).
Bei uns ist das grundsätzlich nicht anders. In der neuen Geburt haben wir Sein Leben empfangen, und das ist eine wunderbare Sache, für die wir Gott nie genug danken können. Aber dieses Leben in uns ist nicht autark (sich selbst genügend, selbstständig). Es bedarf der Speisung und Leitung durch seine Quelle – eben durch Seine Gebote, Sein Wort, durch die Wahrheit. Das, was über die Lippen unseres Heilands kam, soll uns nun auf dem Weg des Gehorsams leiten und Autorität über uns ausüben. Das ist es, was wir hier lernen sollen. Sein Leben in uns, den Gläubigen, muss sich in Gehorsam dem Willen Gottes gegenüber äußern. Wenn das also der Fall ist, dass „wir Seine Gebote halten“, dann können wir daran erkennen, dass wir Ihn, Gott, kennen.
Gott erkennen
Es ist etwas sehr Großes, zu wissen, dass wir Christus, dass wir Gott kennen. Die Voraussetzung dafür ist der Besitz des ewigen Lebens, das sich durch Gehorsam kundgibt. Das haben wir gesehen. Aber die Sache selbst, die Erkenntnis Gottes, ist doch noch etwas anderes, ist etwas weitaus Höheres.
Der Apostel Johannes begegnet hier einer Schwierigkeit, die schon manche von uns, besonders die Jüngeren unter uns, beschäftigt, wenn nicht gequält hat. Wodurch wissen wir, dass wir Gott kennen? Erheben andere (siehe den nächsten Vers) nicht denselben Anspruch mit derselben Gewissheit? Haben wir eine größere Sicherheit als sie? Und wie steht es mit den vielen Religionen in dieser Welt? Beanspruchen sie nicht ebenfalls, die Kenntnis des wahren Gottes zu haben? Sind wir selbst nicht nur deswegen Christen, weil wir in einer christlichen Familie aufgewachsen sind? Wenn wir als Mohammedaner oder als Juden erzogen worden wären, würden wir nicht mit derselben Sicherheit glauben, dass wir den wahren Gott kennen? Ist das nicht alles eine sehr subjektive, persönliche Angelegenheit, bei der letzten Endes nichts beweisbar ist?
Nun, die Antwort auf diese Fragen finden wir hier. Sie ist so einfach, wie sie beglückend ist: Gott hat sich offenbart, hat sich uns zu erkennen gegeben. Er tat dies in der Person Seines Sohnes, der zu diesem Zweck, wie wir am Ende des Briefes erfahren, „gekommen ist und uns Verständnis gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen erkennen“ (Kap. 5,20).Jene kennen Ihn, jene wissen, dass sie Ihn kennen, die Seine Gebote halten! Unbeschreibliches Vorrecht, Christus und in Ihm Gott zu erkennen! Und wie schlicht, aber zwingend die Begründung: „Wenn wir seine Gebote halten“!
Atme auf, liebes Kind Gottes! Deine Sicherheit beruht auf dem Allergrößten, das es im Weltall Gottes gibt: auf Seiner Offenbarung in Christus. Und wenn du das Verlangen hast, dem Willen Gottes zu gehorchen, so beweist das, dass du zu denen gehörst, die Ihn kennen. Sollte der Teufel dich trotzdem mit Zweifeln versuchen: Schau hinein in die Offenbarung Gottes, in Sein göttliches Wort, und das Licht Seiner Offenbarung wird dich umstrahlen und dich befestigen und mit Glück erfüllen!
Eine textliche Besonderheit > Kennen – wissen
Johannes benutzt in seinen Briefen zwei unterschiedliche griechische Wörter für „kennen – wissen", was mitunter für die Auslegung nicht ohne Belang ist. In dem Satz „Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen“ (1. Joh 2,3) begegnet uns das eine von diesen beiden Wörtern, gindsko. Auffällig ist, dass es das eine Mal mit „wissen“, das andere Mal mit „kennen“ übersetzt wurde – zu Recht, wie wir sogleich sehen werden. Dieses griechische Wort bezeichnet ein Kennenlernen durch persönliche Erfahrung und Beziehung. Es kommt allein in unserem Kapitel noch in den Versen 4, 5,13,14,18 und 29 vor.
Davon zu unterscheiden ist das andere griechische Wort „oida“, das mehr ein inneres, bewusstes Wissen beschreibt, ein unmittelbares Erkennen ohne Reflexion (Betrachtung). In unserem Kapitel wird es in den Versen 11, 20, 21 und 29 gebraucht.
Doch noch einmal zurück zu Vers 3! Das Verb (Tätigkeitswort) „gindsko“ kommt hier in verschiedenen Zeitformen vor. Das erste Mal steht es im Präsens (Gegenwartsform), womit ein kontinuierlicher (fortdauernder) Vorgang beschrieben wird: Wir wissen, wissen beständig. Beim zweiten Mal wird die Perfekt- Form benutzt, was auf das Ergebnis, auf Vollständigkeit hinweist: Wir sind dahin gekommen, Ihn zu erkennen, und wir kennen Ihn nun. Das erklärt die unterschiedliche Übersetzung ein und desselben Wortes in unserem Vers.
Aus dem Gesagten wird aber auch deutlich, dass die Wörter „kennen“ und „wissen“ für den ersten Brief des Johannes charakteristisch sind. Der Schreiber stellt damit bewusst einen Gegensatz zu der angemaßten, falschen Kenntnis der Gnostiker her.
Wodurch „Lügner“ sich offenbaren
„Wer da sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht“ (1. Joh 2,4).
Um was für einen Menschen handelt es sich, der behauptet, Gott zu kennen, aber Seine Gebote nicht hält? Um einen Lügner, in dem die Wahrheit nicht ist. Wie schon im ersten Kapitel beschreibt der Apostel nicht einen Gegensatz zwischen treuen und untreuen Gläubigen, sondern zwischen Gläubigen und bloßen Bekennern. Das Bekenntnis, Gott zu kennen, wird geprüft, und zwar anhand des Grundsatzes, der uns die ganze Zeit beschäftigt hat: Ist Gehorsam da? Hier ist der Punkt, wo der ungläubige Bekenner immer versagt. Wie hoch er sich in seinen Behauptungen auch versteigen, wie viel er für die Menschheit auch vollbringen und leisten mag – er ist dabei nie Gott gehorsam. Es ist ein untrüglicher „Test“.
Zugegeben, auch Kinder Gottes gehorchen nicht immer, gehorchen nicht vollkommen, wie Christus allein es tat. Dennoch ist bei ihnen der Grundsatz des Gehorchens vorhanden – ein Indiz (Anzeichen) für das göttliche Leben. Denn dieses Leben ist ein gehorsames Leben; und wenn Christus unser Leben ist, sind die Grundsätze Seines Lebens in uns dieselben. Der Wille des natürlichen Menschen dagegen ist ungerichtet, und so tut der Mensch grundsätzlich, was er will, nicht was Gott will. Wir werden noch finden, dass dies der eigentliche Grundsatz der Sünde ist (Kap. 3,4).
Ein Mensch mag sich zum Christentum bekennen und eine äußere Form der Gottseligkeit haben – und dennoch deren Kraft verleugnen (2. Tim 3,5). Warum? Weil er kein göttliches Leben, weil er nicht Christus besitzt. Den Test des Gehorsams wird solch ein Mensch nie bestehen. Nicht ein einziges Mal ist er bei allem Gott gehorsam.
Stelle diesen Test an, so oft du willst! Du wirst ihn stets bestätigt finden. Gehorsam zu sein bedeutet eben nicht nur, eine Sache zu tun, weil sie recht ist, sondern weil es der Wille Gottes ist. Das allein gibt Gott den Ihm gebührenden Platz und stellt den Menschen an den ihm gebührenden Platz. Alles andere ist nur die Verherrlichung des eigenen Ichs.
„In diesem ist die Wahrheit nicht“
Solch ein Mensch wird ein Lügner genannt. Im Besonderen hat der Apostel Verführer im Auge, die fein gesponnene Spekulationen ins Christentum einführten und neuartige, bisher nicht entdeckte Wahrheiten zu besitzen vorgaben. Doch wenn jemand vorgibt, Gott zu kennen, hält aber Seine Gebote nicht, dann ist er ein schrecklicher Lügner. Denn er behauptet, Gott zu kennen und mit Ihm in Gemeinschaft zu sein; aber das, was Sein Wille ist, interessiert ihn nicht. Nun, dann ist die göttliche Wahrheit nicht in ihm. Das bedeutet nichts anderes als dies: Er ist nicht wahrhaft ein Christ.
Zwischen dem sechsten Vers von Kapitel 1 und dem vierten Vers von Kapitel 2 bestehen interessante Parallelen, die ich einmal aufzeigen möchte:
Kap. 1,6:
- Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit Ihm haben,
- und wandeln in der Finsternis,
- so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
Kap. 2,4:
- Wer sagt: Ich kenne Ihn,
- und hält Seine Gebote nicht,
- ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht.
Wenn wir noch die Verse 8 und 10 von Kapitel 1 in den Vergleich mit einbeziehen, so ergibt sich in Bezug auf den wahren Zustand des Bekenners, auf seine erschreckende Falschheit, eine Zuspitzung der Aussagen:
- Jemand tut nicht die Wahrheit (1, 6).
- Die Wahrheit ist nicht in ihm (1,8).
- Er macht Gott zum Lügner (1,10).
- Er ist selbst ein Lügner, und in ihm ist die Wahrheit nicht (2,4).
Beachten wir auch die Wortstellung im letzten Satzteil von (4). Im Gegensatz zu (2) wird „in ihm“ nach vorn gezogen, was dieser Wendung mehr Gewicht verleiht. Es heißt jetzt nicht nur: „Die Wahrheit ist nicht in uns“ (1,8), sondern: diesem (Menschen) ist die Wahrheit nicht“ (2,4) – nein, in diesem nicht!
Noch eben ein Wort zu dem Nachsatz „In diesem ist die Wahrheit nicht“. Als der Herr Jesus in dieser Welt war, war Er der vollkommene Ausdruck dessen, was Gott ist. Deswegen nennt Er sich selbst „die Wahrheit“ (Joh 14,6). Über das, was Er hier offenbart hat, kann nichts und kann niemand hinausgehen. Wenn wir Vollkommenheit, wenn wir die Wahrheit in einem Menschen sehen wollen, dann müssen wir zurückblicken auf das, was Christus in dieser Welt war. Wer den Anspruch erhebt, darüber noch hinausgelangt zu sein, ist ein Lügner, und in ihm ist die Wahrheit nicht.
Christus ist die Verkörperung von Wahrheit. Da auch das Wort Gottes (als Instrument) die Wahrheit (Joh 17,17) und auch der Heilige Geist (als tätige Kraft) die Wahrheit ist (1. Joh 5,6), bedeutet die Aussage „In ihm ist die Wahrheit nicht“ nichts Geringeres, als dass weder Christus, noch das Wort Gottes, noch der Heilige Geist in solch einem Menschen ist. Vernichtendes Urteil!
Die Liebe Gottes – vollendet
Doch jetzt kommen wir zu dem genauen Gegenteil. Wir hätten allerdings erwartet, dass der Schreiber etwa Folgendes dagegen gesetzt hätte: „Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Wahrheit/' Das hätte dem Gedankengang von Vers 4 entsprochen. Aber er stellt den Gegensatz anders dar und sagt:
„Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet“ (1. Joh 2,50).
Damit legt der Geist Gottes das Gewicht nicht nur auf irgendeinen persönlichen Charakterzug in dem Gläubigen, sondern vielmehr auf das Werk der Liebe Gottes in ihm. Und das ist ungleich mehr. Doch wenden wir uns zunächst dem ersten Satzteil zu.
„Wer aber irgend sein Wort hält ...“ Hier liegt (im Griechischen) die Betonung auf „hält“, in Vers 4 lag sie auf „Gebote“. Wir sehen erneut, dass der Heilige Geist durch Johannes nicht einfach „spiegelbildliche“ Aussagen trifft. Er liebt es, bei aller Gegenüberstellung, einmal mehr die eine Seite und ein anderes Mal mehr eine andere hervorzuheben. Er spricht jetzt also von dem Fall, dass jemand Sein Wort hält oder bewahrt.
Das muss ebenfalls abstrakt verstanden werden, wie wir es zuvor beim Gehorsam gesehen haben. Es geht um das grundsätzliche Bewahren der Gedanken Gottes. Denn niemand von uns hält es in jedem einzelnen Stück, bewahrt es zu jedem Augenblick.
Und was den Ausdruck „Sein Wort“ angeht, so handelt es sich um Sein Wort (gr. logos) als ein Ganzes, wovon einzelne Teile „Seine Gebote“ bilden. Wir haben hier also an die Summe dessen zu denken, was uns durch göttliche Inspiration als „Heilige Schrift“ gegeben worden ist
Eine textliche Besonderheit > Objektiver, subjektiver Genitiv
Um den Nachsatz „in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet“ verstehen zu können, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was mit der Liebe Gottes gemeint ist. Das scheint unnötig zu sein, ist es aber nicht.
Der Ausdruck „die Liebe Gottes“ kann nämlich im objektiven wie im subjektiven Sinn verstanden werden. Im ersten Fall würde es unsere Liebe zu Gott und im zweiten Fall die Liebe Gottes zu uns bedeuten. Diese Doppelbedeutung ist typisch für Konstruktionen mit dem Genitiv (Wesfall, 2. Fall), wenn dadurch der Handelnde oder die Handlung näher beschrieben wird. In unserem Beispiel wird die „Liebe“ mit „Gott“ in Verbindung gebracht, es geht also um die Liebe Gottes. Doch erst der textliche Zusammenhang entscheidet darüber, ob hier ein objektiver oder ein subjektiver Genitiv vorliegt. Ist Ersteres der Fall, dann ist unsere Liebe gemeint, die ihren Gegenstand, ihr Objekt, in jemand anderes, hier in Gott, findet (objektive Bedeutung); im zweiten Fall ist es die persönliche Liebe Gottes, die Ihm eigen ist und mit der Er selbst liebt (subjektive Bedeutung).
Nun wird von der Liebe Gottes, des Vaters, auch noch an folgenden Stellen in unserem Brief gesprochen: Kap. 2,15; 3,17; 4,12; 5,3. Doch nur bei der letzten Stelle erfordert der Zusammenhang, dass wir „Liebe Gottes“ als objektiven Genitiv auffassen: Es ist unsere Liebe zu Gott. „Denn dies ist die Liebe Gottes (in dem Sinn, dass wir Gott lieben: die Liebe zu Gott) dass wir seine Gebote halten.“ Alle anderen Stellen reden von der subjektiven Liebe Gottes zu uns – zweifellos auch die erhabenere Seite.
Ein Beispiel im Neuen Testament dafür, dass beide Genitive, der objektive wie der subjektive, gleichsam kombiniert vorliegen, ist 2. Korinther 5: „Die Liebe des Christus drängt uns“ (Vers 14). Beides macht Sinn, und beides mag gemeint sein: Was uns drängt, ist unsere Liebe zu Christus und Seine Liebe zu uns, zu den Menschen.
Doch kommen wir nach dieser Erörterung über den Genitiv auf das Werk der Liebe Gottes in uns zurück.
Wenn jemand Sein Wort hält, in diesem, wird gesagt, ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet oder zur Vollkommenheit gebracht; das heißt, sie hat in der betreffenden Person ihr Ziel erreicht.
Die Gnostiker damals und falsche Lehrer heute halten weder Seine Gebote noch Sein Wort. Sie leugnen stattdessen die Gottheit Jesu, die Wirkung Seines Blutes, die Sühnung unserer Sünden.
Aber hat sich nicht gerade darin die unermessliche Liebe Gottes gezeigt? Und wenn Gott in Seinem Wort von der Sündhaftigkeit des Menschen und davon spricht, welche Vorsorge Er dafür getroffen hat (vgl. Joh 3,16), so bedeuten ihnen Sünde und Sünden nichts. Nein, Menschen wie sie halten nicht Sein
Wort. Deshalb wissen sie auch nichts von der Liebe Gottes. Denn dieses Wort ist Liebe, ist die Offenbarung Seiner Selbst.
Das ist ein köstlicher Gedanke. Das Wort Gottes (wir können auch sagen: das Wort Christi) enthüllt die Liebe Gottes, und die Kinder Gottes erkennen das – mehr oder weniger; aber grundsätzlich wissen sie darum und erfreuen sich der Liebe Gottes. Weil sie Sein Leben haben und Seine Gebote halten, kennen sie Ihn (Vers 3), und weil sie Sein Wort halten, beglückt Seine Liebe ihr Herz: Die Liebe Gottes hat in dieser Hinsicht ihr Ziel in ihnen erreicht (Vers 5).
Das ist natürlich wieder eine absolute Aussage. In der Praxis mögen wir darin versagen, Sein Wort zu halten. Doch der Apostel redet abstrakt, zeigt, was die Wahrheit in sich selbst ist, ohne auf Einschränkungen einzugehen, die sich aus unserem Versagen ergeben können. Das, was er sagt, ist unbedingt wahr, und wir erfahren es in dem Maß, wie wir Sein Wort in unserem Herzen bewahren. Ein banales (alltägliches) Beispiel mag das verdeutlichen. Der Satz „Wer im Regen steht, wird nass“ ist durchaus wahr. Aber ich erfahre seine Wahrheit nur entsprechend dem Maß, wie ich damit umgehe. Wenn ich mich nur kurzzeitig dem Regen aussetze, werde ich auch nur geringfügig die Wahrheit des Satzes erfahren und nur wenig „nass“ werden. So ist es auch im geistlichen Bereich. Entsprechend der Innigkeit, mit der ich Sein Wort bewahre, werde ich auch die Liebe Gottes genießen, die Sein Wort mir bringt. Insofern ist dann in mir die Liebe Gottes zur Erfüllung gekommen.
Es ist derselbe Gedanke, den der Herr Jesus einmal so ausgedrückt hat: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe“ (Joh 15,10). Anders als wir, genoss Er beständig und vollkommen die Liebe Seines Vaters,
Er blieb darin. Aber es ist das, was die Liebe auch bei uns erreichen will: dass wir darin bleiben.
In IHM sein
Noch etwas fügt der Apostel hinzu:
„Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind“ (1. Joh 2,5b).
Schon zu Beginn des neuen Abschnittes (Vers 3) hatte er gesagt: „Und hieran wissen wir .. .“ Dort war das „Hieran“ eindeutig nach vorn gerichtet, auf das, was er im Begriff stand darzulegen. Hier scheint es umgekehrt zu sein. Wir können es so auffassen, dass er sich mit dem „Hieran“ zurückwendet zu dem, was er soeben ausgedrückt hat: „In Verbindung damit (mit dem soeben Gesagten) wissen wir, dass wir in ihm sind.“ Beziehen wir jedoch den nächsten Vers in unsere Betrachtung mit ein („Wer da sagt, dass er in ihm bleibe ...“), so ist es wahrscheinlich korrekter anzunehmen, dass er auch hier mit dem „Hieran“ vorwärts blickt und einen neuen Gedankengang einführt. Tatsächlich erweitert sich dieser jetzt beträchtlich.
Der Apostel hatte von Gemeinschaft mit dem Vater gesprochen und davon, dass wir Gott kennen. Jetzt geht er noch weiter und sagt, dass wir in Ihm sind. Gott ermutigt den, der von Herzen gehorsam ist, durch das Bewusstsein, nicht nur, dass wir „Ihn kennen“, sondern dass wir „in Ihm sind“. Dies ist eine der großen, zentralen Wahrheiten des christlichen Glaubens. Schon im Evangelium nach Johannes wird sie voll entfaltet (Kap. 14,20; 15,4; 17,10.21.23). Wir können hier die genannten Stellen nicht alle einzeln erläutern. Doch wenn wir sie lesen,
fallen uns zwei Blickrichtungen auf: Er in uns – wir in Ihm. Das ist auch im Blick auf den Herrn Jesus als Mensch wahr: der Vater in Ihm – Er in dem Vater. Wenn die Blickrichtung von Gott auf den Menschen ist (Er in uns), dann spricht das von Offenbarung: Gott will sich im Menschen offenbaren. Wenn die Blickrichtung von uns auf Gott ist (wir in Ihm), dann drückt dies Beziehung und deren Genuss aus. Wenn wir diese „Regel“ beachten, werden wir diese Stellen weitaus besser verstehen lernen. Weiter unten kommen wir noch einmal ausführlicher darauf zu sprechen.
In unserem Vers geht es um die zweite Blickrichtung: dass wir in Ihm sind. Wir sind in eine geistliche Beziehung zu Gott gekommen, die der Einheit des Lebens entspricht. Glückseliges Teil: Wir sind „in Ihm“! Wir haben nicht nur neues Leben, haben nicht nur das Auferstehungsleben Christi, sondern eine himmlische Stellung, einen Platz intimer Nähe, gekannt schon hier auf der Erde.
Wir sind, um die Worte eines anderen zu benutzen, in Gott, „wie das Küchlein in seinem Ei ist“. Er ist unser Bergungsort für Freude und Leid. In Ihm wohnen wir. Und so genießen wir die Freude göttlicher Zuneigungen. Eine höhere Segnung ist nicht vorstellbar, und es ist gewiss nicht von ungefähr, dass der Brief auch am Ende wieder diesen Gipfelpunkt erreicht: „Wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus“ (Kap. 5,20).
In IHM bleiben
Noch ein weiterer „Test“ prüft die Echtheit unseres Bekenntnisses:
„Wer sagt, dass er in ihm bleibe, ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt ist“ (1. Joh 2,6).
Sprach der Apostel soeben von der Gewissheit, dass wir in Ihm sind, verändert er jetzt den Ausdruck und redet von unserem Bleiben in Ihm. Das vertieft noch den Gedanken, intensiviert ihn.
„Bleiben“ kann man genauso gut mit „wohnen“ wiedergeben. Es ist ein weiteres Schlüsselwort in den Schriften des Johannes. Allein in Johannes 15, Verse 4–7, kommt es siebenmal vor: unser Bleiben in Ihm (Christus), Sein Bleiben in uns, das Bleiben Seiner Worte in uns. Dass dieses Wort tatsächlich auch „wohnen“ bedeutet, macht das Beispiel aus Kapitel 14, Vers 2, deutlich: „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen (wörtlich: Bleiben)“.
In Ihm zu bleiben oder zu wohnen schließt ein, Ihn zum Heim unserer Seele zu haben für jede Freude und Sorge, für jede Gefahr und Schwierigkeit. Es spricht von einer gewohnheitsmäßigen Gemeinschaft als dem Ergebnis davon, dass wir in Ihm sind.
„In Ihm“ – in Gott oder in Christus? Der Apostel gibt sich erneut keine Mühe, das zu unterscheiden. Er sieht in Christus so sehr den Ausdruck Gottes selbst, dass er die Wendung, ohne Verwirrung zu stiften, für Beide benutzen kann und benutzt. „In Ihm bleiben“ – sicher, das ist, in Gott bleiben; denn er sprach soeben von Gott („Liebe Gottes“).
Dennoch bedeutet es auch, in Christus zu bleiben; denn er redet jetzt von Seinem Wandel. In Gott bleiben – in Christus bleiben: Es ist dasselbe.
Christus – der vollkommene Maßstab
Um den Nachsatz „... ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie er gewandelt hat“ besser verständlich zu machen, komme ich noch einmal auf die beiden „Blickrichtungen“ zurück, die ich in Verbindung mit Vers 5 nur angedeutet hatte. Wir können darunter nämlich auch die beiden Seiten oder Teile des ewigen Lebens in uns verstehen. Die eine Seite ist, dass wir in Christus sind, die andere, dass Christus in uns ist. Wenn wir wirklich Gläubige sind, ist beides von uns wahr. In Christus zu sein und in Christus zu bleiben bedeutet, in der Stellung zu sein, in die Gott Ihn gesetzt hat. In uns selbst, von Natur aus, sind wir elende Sünder, aber in Christus sind wir geliebte Kinder Gottes, eins mit Ihm. Und in dem Maß, wie wir uns dessen erfreuen, bleiben wir in Ihm.
Aber es gibt noch die andere Wahrheit: dass Christus in uns bleiben, sich in uns offenbaren will. Denken wir einmal darüber nach, was das bedeutet! Wie würde Christus leben, wenn Er heute auf der Erde wäre? Würde Er auf dieselbe Weise leben und „wandeln“ wie damals? Unbedingt! Niemand wird wohl behaupten wollen, dass Er, müsste Er noch einmal über die Erde gehen, ein anderes Leben führen würde als einst. Täte Er es nämlich, so würde Er damit zeigen, dass Sein Leben verbesserungsfähig ist; dass das ewige Leben über das, was Er davon einst offenbarte, noch hinausgehen kann. Doch dann wäre es nicht vollkommen gewesen. Deshalb: Wenn Christus noch einmal hier lebte, Er würde genauso leben wie das erste Mal. Vielleicht sagst du: „Was soll das? Er ist ja nicht hier!“ Doch, Er ist hier. Er ist in dir, Er ist in mir. Und wenn Er in mir ist, wenn das Leben Christi in mir ist, dann muss sich das Leben in mir in derselben Weise zeigen wie beim Herrn Jesus. Wir werden in Seinen Fußstapfen wandeln, werden „wandeln, wie Er gewandelt hat“.
Das ist sogar unsere Schuldigkeit. Wir sind verantwortlich, so zu wandeln, wie Er es tat. Das bedeutet, dass für unser tägliches Leben Christus unser alleiniger Maßstab ist, wie sehr uns dies praktisch auch demütigen mag. Denn es ist ein vollkommener Maßstab, ein Maßstab, den wir nie ganz erreichen. Dennoch, Gott gibt uns keinen anderen. Es geht nicht darum, zu sein, was Christus war; denn Er war ohne Sünde, und Er war der Heilige Gottes. Aber wir sollen nicht nach dem Fleisch wandeln. Das Fleisch ist zwar in uns, doch das ist kein Grund, danach zu wandeln. Wenn wir jedoch in irgendeiner Weise in unserem Leben von dem Leben Jesu abweichen, dann ist es das Leben des Fleisches. Doch der Herr Jesus möchte, dass Sein Leben Tag für Tag in uns aufs Neue sichtbar wird. Es ist eine geistliche Verpflichtung, die sich aus unserer geistlichen Beziehung zu Ihm, zu Gott, ergibt. Wenn diese Beziehung besteht, dann wird sich grundsätzlich auch dieses Ergebnis einstellen. In der Praxis wird unser Wandel nicht an den des Herrn Jesus heranreichen, aber es wird doch ein Wandel von derselben Art sein. Das ist bei allem recht tröstlich.
Liebe zu den Brüdern
Bis hierher hat der Apostel von dem ersten Kennzeichen des ewigen Lebens in uns gesprochen, dem Gehorsam. Jetzt weitet er den Gedanken aus und zeigt, dass das neue Leben auch durch Liebe zu den Brüdern gekennzeichnet ist. Beide Züge offenbarte Christus in Seinem Leben, offenbarte sie vollkommen.
Nach wie vor hat der Schreiber Verführer im Blickfeld. Sie priesen das an und prahlten mit dem, was „neu“ ist. Johannes dagegen rühmt sich dessen, was „alt“ ist.
Alles, was wir bisher betrachtet haben, können wir auf einen einzigen Gedanken oder eine Segnung zurückführen: Gemeinschaft mit Gott. Diese Gemeinschaft ist wesentlich. Häretiker (Ketzer) beanspruchen, sie zu besitzen. Doch Johannes zeigt, dass ihr Anspruch Lüge ist. Die Kinder Gottes jedoch haben sie wirklich – mit all den gesegneten Folgen, die wir angeschaut haben.
Aber mit Gott Gemeinschaft zu haben schließt auch ein, dass die Kinder Gottes miteinander Gemeinschaft haben (Kap. 1,7). Das ist der Punkt, auf den der Apostel nun zu sprechen kommt. Denn er weiß um die Bemühungen des Widersachers, diese Gemeinschaft unter den Kindern Gottes zu zerstören – dadurch zu zerstören, dass er sie zum Abfall vom Glauben und zum Hass gegenüber den Brüdern verleitet. Deswegen legt er jetzt den Nachdruck auf gegenseitigen Beziehungen und darauf, wie sie nach dem Willen des Herrn aufrechterhalten werden sollen.
Die Verse 7 und 8 stellen eine feierliche Einleitung zu den Versen 9 bis 11 dar.
Ein altes Gebot
„Geliebte, nicht ein neues Gebot schreibe ich euch) sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet. Das alte Gebot ist das Wort) das ihr gehört habt“ (1. Joh 2,7).
Der Schreiber leitet den neuen Gedankengang mit einer bisher nicht gebrauchten Anrede ein: Geliebte. Ist sie nicht angemessen, wenn wir in unserem Text zurückdenken an die Liebe Gottes und voraus an die Liebe zu den Brüdern? Auch wir sind Geliebte – geliebt von Gott und geliebt von den Brüdern. Dass diese Anrede im Besonderen auch die Liebe des Apostels zu seinen Lesern ausdrückt, ist natürlich unbestritten.
Die Verse 7 und 8 haben schon vielen Lesern Schwierigkeiten gemacht. Was ist gemeint mit dem „alten Gebot“ und was mit dem „neuen Gebot“? Wie ist es zu verstehen, dass Johannes ihnen „nicht ein neues Gebot“ schrieb (Vers 7) und dass er ihnen doch „ein neues Gebot“ schrieb (Vers 8)? Das klingt durchaus widersprüchlich, ist es aber nicht.
Beschäftigen wir uns zunächst einmal mit den Ausdrücken „neu“ und „alt“ und „von Anfang an“. Von Anfang an“ ist eben nicht „neu“. Eins schließt das andere aus. Das ist schon ein Teil der Erklärung. Wir haben in Verbindung mit dem ersten Vers des Briefes gesehen, was „von Anfang an“ bedeutet: von der Zeit an, als Christus hier offenbart wurde. Es ist der Anfang des Christentums in der Person Christi selbst. Nun, in diesem Sinn war das, was die Jünger von Anfang an gehört hatten, alt.
„Gut so“, sagt der Apostel gleichsam. „Falsche Lehrer bemühen sich zwar, neue Dinge, neue Lehren euch, dem Volk Gottes, aufzuzwingen. Aber prüft einmal dies: Wurden diese Dinge von Anfang an gelehrt? Nein? Dann ist es nicht das Alte, ist es nicht wahres Christentum, sondern etwas Neues: eine Fälschung.“ In dieser Hinsicht ist das, was neu ist, nicht wahr, und das, was wahr ist, nicht neu. Wir müssen das Christentum nicht immer wieder neu entdecken. Es ist von Anfang an offenbart worden – in der Person des Sohnes Gottes und in der Kraft des Heiligen Geistes. Und so kann der Apostel sagen: „Nicht ein neues Gebot schreibe ich euch, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an hattet.“
Und warum sagt er „Gebot“? Hier darf ich auf das verweisen, was wir bei der Auslegung von Vers 3 unter der Überschrift „Seine Gebote halten" gesagt haben. Dort wird zwar von Seinen Geboten in der Mehrzahl gesprochen, während sie hier durch den Singular (Einzahl) als Ganzes zusammengefasst werden. Der Gedanke jedoch ist derselbe. Das, was der Herr Jesus auf der Erde geäußert hat – und Er war auch das, was Er redete (Joh 8,25) –, soll nun auch uns auf dem Weg des Gehorsams leiten. Deswegen der Ausdruck „Gebot“. Das „alte Gebot“ ist das Wort des Herrn Jesus Christus, ist das, was Er hier auf der Erde offenbart hat. Die Jünger hatten davon Kenntnis erlangt. Und so sagt Johannes: „Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt.“
Und was hat der Herr hier offenbart, welchen Zügen des ewigen Lebens hat Er in erster Linie Ausdruck gegeben? Er war stets der vollkommen Gehorsame, und Er liebte mit göttlicher Liebe. Gehorsam und Liebe – das ist die Richtschnur des göttlichen Lebens in ihren beiden wichtigsten Formen – eine Richtschnur, die nun auch unser praktisches Leben bestimmen soll. Gewiss, das göttliche Leben ist in uns, und dieses entspricht seiner Natur nach (gleichsam „von Haus aus“) diesem Gebot. Dennoch ist Sein Wort ein Gebot für uns, weil Er uns dadurch leiten und führen will.
Man hat gefragt, ob der Apostel Johannes mit dem „alten Gebot“ nicht an das Gebot des Herrn im Evangelium denkt: dass die Jünger einander lieben sollen (Joh 13,34). Denn damals, als Er dieses Gebot aussprach, war es neu („Ein neues Gebot gebe ich euch“). Jetzt aber war es alt, weil sie es von einem auf der Erde lebenden Herrn gehört hatten. – Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Johannes auf dieses Gebot anspielt, weil er tatsächlich auf diesen Gegenstand zu sprechen kommen will. Aber mehr als eine Anspielung kann ich darin nicht sehen. Der Zusammenhang zeigt, dass der Gedankengang als solcher unbedingt über dieses eine bestimmte Gebot des Herrn hinaus- geht.
Fassen wir diesen Vers noch einmal ganz schlicht zusammen. Der Apostel führt seine Leser (und damit auch uns) erneut zu dem Anfang zurück, zu Christus und Seinem Wort. Das allein ist die Wahrheit, nicht das, was Irrlehrer als neue Erkenntnisse anpreisen. Dieses Wort des Herrn soll uns auf unserem Weg leiten, damit das göttliche Leben auch in uns einen Ihm gemäßen Ausdruck finde – in Gehorsam und Liebe. Das aber führt uns bereits zum nächsten Vers.
Ein neues Gebot
„Wiederum schreibe ich euch ein neues Gebot, das, was wahr ist in ihm und in euch, weil die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht schon leuchtet“ (1. Joh 2,8).
Mit dem „Wiederum“ führt Johannes eine andere Betrachtungsweise dessen ein, was er soeben gesagt hat. Das Gebot, das in einem Sinn alt – nicht veraltet, aber alt – ist, ist in einem anderen Sinn neu, obgleich dasselbe.
Um das besser verstehen zu können, müssen wir uns zunächst die Struktur des Satzes etwas näher ansehen. Johannes schreibt ihnen „ein neues Gebot“, aber dieses Gebot ergänzt oder beschreibt er mit dem Relativsatz „das, was wahr ist in ihm und in euch“. Das Relativpronomen (rückbezügliches Fürwort) „das“ bezieht sich grammatisch jedoch nicht auf „Gebot“; denn „Gebot“ ist im Griechischen weiblich, „das“ aber sächlich. Wir können den Satz also folgendermaßen formulieren: „Wiederum schreibe ich euch ein neues Gebot – die Sache, die wahr ist in ihm und in euch.“
Das Gebot ist also deswegen neu, weil die Sache, von der Johannes schreibt, neu ist. Und um welche Sache handelt es sich? Um das ewige Leben, um die göttliche Natur. Das ist ja sein großes Thema. Wir müssen bei dem Relativsatz das „und“ betonen, um zu erkennen, was neu ist: „Die Sache, die wahr ist in ihm und in euch.“ Es ist dasselbe Leben, ob es in Christus gesehen wird oder in uns. Aber neu ist die Wahrheit, dass es in Ihm und in uns ist. Von Anfang an war es nur in Christus, deswegen ist das Gebot „alt“. Aber durch die Gnade ist durch den Heiligen Geist das Leben Christi auch uns mitgeteilt worden, so dass die Sache nun wahr ist in Ihm und in uns. Großartige Aussage!
Bleiben wir noch einen Augenblick dabei stehen! Als der Herr Jesus auf der Erde war, war es Sein tiefstes Verlangen, den Willen Gottes, Seines Vaters, zu tun. Er hatte keinen anderen Gedanken, keinen anderen Beweggrund als diesen – zu tun, was Sein Vater Ihm geboten hatte. Jetzt aber wohnt Christus in uns. Wenn wir wahre Christen sind, ist uns Sein Leben mitgeteilt worden. Und so spricht Johannes von Seinem Gebot und nennt es neu – neu in dem Sinn, dass nun auch wir das göttliche Leben besitzen, so dass die Sache sowohl in Ihm als auch in uns wahr ist. Dennoch ist es für uns ein Gebot, dem die ganze Autorität des göttlichen Willens innewohnt. Der Herr erwartet von dem wiedergeborenen Menschen, dass er nach dem Willen Gottes fragt und nur das tut, was Er möchte. Das aber ist gerade das, wonach das neue Leben in ihm ohnehin verlangt.
Ein Beispiel für diese Art von Gehorsam mag das verdeutlichen. Ein kleines Kind ist ernstlich erkrankt. Die besorgte Mutter ruft den Arzt. Der untersucht das Kind und stellt eine gefährliche Krankheit fest. Dementsprechend verschreibt er die notwendigen Arzneimittel und schärft der Mutter, bevor er weggeht, ein, auf die genaueste Einhaltung der Vorschriften bei der Verabreichung der Medikamente zu achten. Wird die Mutter nicht von Herzen alles tun, was der Arzt angeordnet hat, weil sie ihr Kind über alles liebt? Fällt es ihr in irgendeiner Weise schwer, die Anordnungen des Arztes zu befolgen? Wie könnte es denn! Er erwartet ja von ihr nur das, was zu tun ihr innigstes Anliegen ist.
So ist es auch mit uns. Was in dem Herrn Jesus wahr ist, ist jetzt auch in uns wahr. Wir besitzen Sein Leben und lieben es jetzt, die Dinge zu tun, die Er wünscht; wir haben Wohlgefallen an dem Willen Gottes. Deswegen sind Seine Gebote „nicht schwer“ (Kap. 5,3), liegen sie doch ganz auf der Linie dessen, was das neue Leben in uns zu tun verlangt. Wunderbares Teil, derart gehorchen zu dürfen! Wie sehr steht es in Gegensatz dazu, unter Gesetz zu sein!
Wie die Finsternis vergeht
Zur Begründung dessen, was der Apostel bisher über das neue Gebot ausgeführt hat, kommt er noch einmal auf den Gedanken von Licht und Finsternis zurück, der schon in Kapitel 1, Verse 5–7, vor uns war. Er weitet ihn jetzt wesentlich aus und sagt als Erstes:
„... weil die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Lieht schon leuchtet“ (1. Joh 2, 8).
Mit diesen Worten begründet oder erklärt der Schreiber also das, was er soeben gesagt hat – das, was wahr ist in Ihm und in uns. Oder anders ausgedrückt, er zeigt zwei besondere Wirkungen der gerade vorgestellten Wahrheit, dass das ewige Leben nun auch in uns ist: Die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht leuchtet schon. Beachten wir jedoch zuerst, dass er nicht sagt, die Finsternis sei vergangen. Weit entfernt davon! In der Welt ist noch viel Finsternis. Dennoch – triumphierende Feststellung! – die Finsternis vergeht. Es handelt sich, wie die Präsens-Form zeigt, um einen im Verlauf befindlichen Vorgang, ebenso wie beim Leuchten des wahrhaftigen Lichts.
Finsternis ist der natürliche Zustand des sündigen Menschen ohne Gott. Gott ist Licht, aber der natürliche, von Ihm abgefallene Mensch ist „verfinstert am Verstand, entfremdet dem Leben Gottes wegen der Unwissenheit, die in ihnen ist“ (Eph 4,18). Zwischen Leben und Licht besteht eine innige Verbindung. Ist göttliches Leben da, ist auch geistliches Licht vorhanden. Aber der Mensch von Natur aus ist tot in seinen Vergehungen und Sünden, ist tot für Gott (Kap. 2,1). Deswegen ist er im Blick auf Gott und Seine Gedanken auch unwissend, verfinstert. In unserem Vers wird durch den Artikel vor „Finsternis“ („die Finsternis“) auf diese spezielle Finsternis hingewiesen: die der Unwissenheit über Gott. Sie ist kennzeichnend für die Welt, über die der Teufel Fürst und Gott ist.
Und wenn wir unseren Blick zurückrichten, so waren die Menschen schon über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg in dieser geistlichen Finsternis. Aber dann kam Christus. Er war das wahrhaftige Licht, „das, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9). In Ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen (Vers 4). Beachten wir auch hier die Verbindung zwischen Leben und Licht! Doch obwohl das Licht in der Finsternis schien, hat die Finsternis es nicht erfasst (Vers 5). Das zeigt, wie tief die geistliche Finsternis ist: Sie kann das Licht der Offenbarung Gottes nicht erfassen; sie versuchte vielmehr, es auszulöschen. Dennoch, solange der Herr Jesus in der Welt war, war Er das Licht der Welt (Kap. 9,5). Er war hier die vollkommene Offenbarung des Wesens und der Gedanken Gottes. Wunderbare Tatsache, die wir ewig bewundern werden und die uns schon heute mit Glück erfüllt!
Aber als Christus diese Welt verließ und zu Seinem Vater zurückging – hat damit das wahrhaftige Licht aufgehört zu leuchten? Unser Vers sagt, dass es nicht so ist. „Weil das wahrhaftige Licht schon leuchtet". Die Gläubigen haben, wie wir gesehen haben, Teil an der Natur Christi. Dadurch leuchtet jetzt das wahrhaftige Licht in den Seinen. Oder anders ausgedrückt: Durch die Offenbarung des neuen Lebens und durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Gläubigen strahlt das wahrhaftige Licht in die dunkle Welt hinein. Gewiss, die Kinder Gottes haben kein Licht in sich selbst. Sie sind vielmehr wie Himmelskörper, die ihr Licht von der Sonne erhalten, sie sind „Licht in dem Herrn“ (Eph 5,8). In diesem Sinn wird von ihnen in Philipper 2 gesprochen: „... damit ihr untadelig und lauter seid, unbescholtene Kinder Gottes inmitten eines verdrehten und verkehrten Geschlechts, unter dem ihr scheint wie Lichter in der Welt, darstellend das Wort des Lebens“ (Verse 15.16). Auch hatte der Herr Jesus schon in der Bergpredigt von Seinen Jüngern gesagt: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Mt 5,14).
So leuchtet tatsächlich auch heute das wahrhaftige Licht, leuchtet „schon“, wie hinzugefügt wird. Das lenkt unseren Blick auch nach vorn, nach oben in die zukünftige Herrlichkeit. Heute ist alles, was wir vom göttlichen Licht offenbaren, durch Schwachheit gekennzeichnet. Einmal wird jedoch alles in Vollkommenheit geschehen. Es wird im Himmel kein anderes Licht geben, aber dort gibt es keine Wolken mehr. Dennoch leuchtet das wahrhaftige Licht schon heute. Und das ist über die Maßen tröstlich.
So ist es auch mit der noch vorher erwähnten Tatsache: „... weil die Finsternis vergeht.“ Wie außerordentlich ermutigend ist auch dies! Die Finsternis in der Welt mag noch so tief sein – sie vergeht bereits, oder: Sie steht im Begriff, zu vergehen! Wie kann man das erklären? Mit jedem Menschen, der sich „von der Finsternis zum Licht“ bekehrt (Apg 26,18)! Wo immer die Gnade Gottes wirkt – wenn jemand von neuem geboren wird, verschwindet insoweit die Finsternis. Der einzelne Gläubige wird aus dem Bereich der Finsternis herausgenommen und in das Licht der Offenbarung Gottes gebracht (2. Kor 4,6). Gott offenbart sich heute im Licht des Evangeliums. Wo es im Glauben aufgenommen wird, vergeht (im Blick auf den einzelnen Gläubigen) die Finsternis.
Wir sollten diese Betrachtungsweise mehr auf unser Herz einwirken lassen! Gerade in unseren Tagen des Abfalls vom Christentum und der wachsenden Anarchie in der Welt haben wir nötig, daran erinnert zu werden, dass trotz allem die Finsternis vergeht und das wahrhaftige Licht schon leuchtet. Gott sei dafür gepriesen! Und in dem Maß, wie wir der neuen Natur und dem Heiligen Geist in uns Raum geben und um das Hereinbringen von verlorenen Seelen besorgt sind, nehmen wir aktiven Anteil an diesem Vorgang. Einmal jedoch, Geliebte, wird die Finsternis nicht nur vergehen, sondern vollständig vergangen sein. Das wird indes erst in der zukünftigen Welt Wirklichkeit werden. Doch was jetzt schon geschieht, sind die sicheren Vorboten dafür.
Wenn man seinen Bruder hasst
Nach dieser großartigen Ein- oder Überleitung (Verse 7 und 8) kommt der Apostel nun direkt auf die Bruderliebe zu sprechen, das heißt zuerst auf deren genaues Gegenstück, den Hass gegenüber Brüdern:
„Wer sagt, dass er in dem Licht sei, und hasst seinen Bruder, ist in der Finsternis bis jetzt“ (1. Joh 2,9).
Ehe wir uns mit den Einzelheiten dieses bemerkenswerten Verses befassen, sei bemerkt, dass wir hier zum fünften Mal eine Diskrepanz (Nicht-Übereinstimmung) zwischen Bekenntnis und Wirklichkeit (oder Wandel) finden. Im Ganzen werden sechs solcher „Bekenntnisse“ in diesem Brief genannt und auf ihre Echtheit hin geprüft:
- das Bekenntnis oder die Behauptung, mit Gott Gemeinschaft zu haben (Kap. 1,6);
- das Bekenntnis oder die Behauptung, sündlos zu sein (Kap. 1,8);
- das Bekenntnis oder die Behauptung, nicht gesündigt zu haben (Kap. 1,10);
- das Bekenntnis oder die Behauptung, Gott zu kennen (Kap. 2,4);
- das Bekenntnis oder die Behauptung, im Licht zu sein (Kap. 2,9);
- das Bekenntnis oder die Behauptung, Gott zu lieben (Kap. 4,20).
Die Gegensätze hierbei sind eindeutig definiert (bestimmt): Licht und Finsternis, Wahrheit und Unwahrheit, Liebe und Hass. Gemeinschaft mit Gott dagegen drückt sich in einem Wandel im Licht, in der Wahrheit und in der Liebe aus. Zu den beiden bereits genannten Charakterzügen (Leben und Licht) kommt nun also ein dritter hinzu: Liebe. Dieses Dreigestirn göttlicher Tugenden ist tatsächlich unauflöslich miteinander verbunden. Die Wichtigkeit dieser Bemerkung wird uns sogleich einleuchten.
Wenn jemand den Anspruch erhebt, „in dem Licht“ zu sein, so gibt es einen sehr einfachen Test, die Echtheit dieses Anspruchs zu prüfen: Liebt derjenige seinen Bruder? Es ist eben nicht Ungehorsam allein, wodurch offenbar wird, dass jemand nicht wirklich von neuem geboren ist, sondern auch Hass gegenüber den Brüdern. Die Verführer entfalteten wohl tiefe Kenntnisse und große Gelehrsamkeit, aber sie suchten dabei sich, nicht die Brüder. Das Licht, das zu haben sie beanspruchten, erschöpfte sich in der Erfindung immer neuer Gedanken und Ideen. Doch das völlige Fehlen von Bruderliebe – und das ist die Bedeutung von „Hass“ – machte deutlich, dass sie nicht in dem wahren göttlichen Licht waren und somit auch nicht göttliches Leben besaßen. Hier sehen wir die Bedeutung der Dreierkette von Licht – Leben – Liebe. Diese drei Stücke gehen immer miteinander. Wo eines von ihnen fehlt, sind auch die anderen nicht wahr.
„Aber“, mag jemand einwenden, „es wird doch von seinem Bruder gesprochen. Wie kann er dann selbst ein Ungläubiger sein?“ Das ist eine gewisse Schwierigkeit, die viele empfunden haben. Doch sie löst sich schnell, wenn wir bedenken, unter welchem Blickwinkel hier der „Bruder“ gesehen wird: dem des Bekenntnisses. Jeder wird „getestet“ entsprechend den Beziehungen, die zu haben er vorgibt. Wenn jemand den Anspruch erhebt, im Licht Gottes zu sein, aber es fehlt ihm – grundsätzlich – die Zuneigung zu dem, von dem er sagt, es sei „sein Bruder“, dann liegt der hier geschilderte Fall vor.
Beachten wir, dass von diesem Menschen nicht als von einem wahren Gläubigen gesprochen wird – einem Gläubigen, der durch Sünde in die Finsternis gefallen ist. Sondern es heißt: „Wer da sagt, dass er in dem Licht sei, und hasst seinen Bruder, ist in der Finsternis bis jetzt.“ Er war tatsächlich noch nie irgendwo anders, er war noch nie in dem Licht. Hasst er seinen Bruder, dann ist er in der Finsternis und wandelt in der Finsternis (Vers 11). Eine ähnliche Aussage finden wir in Kapitel 3, Vers 14: „Wer den Bruder nicht liebt, bleibt in dem Tod.“ Es ist unmöglich, den Heiligen Geist zu besitzen, durch den die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen (Röm 5,5), und unseren Bruder zu hassen. In Verbindung mit Kapitel 1, Vers 7, haben wir zudem gesehen, dass Kinder Gottes dem Grundsatz nach in dem Licht wandeln. Das ist ihre Stellung: Sie bewegen sich im Licht dessen, was Gott von Sich im Neuen Testament offenbart hat.
Dennoch sei hier eine Anwendung der – wie üblich – abstrakt vorgestellten Wahrheit erlaubt. Ich möchte jedoch ausdrücklich betonen, dass es sich um eine Anwendung handelt, nicht um die Erklärung dieser Schriftstelle. Trotzdem müssen wir sicherlich solche Anwendungen machen. Denn Gott gibt sich nicht damit zufrieden, dass wir eine Wahrheit oder einen Grundsatz gut verstanden haben, sondern Er will, dass wir dies auch auf unser Herz und Gewissen anwenden, selbst dann, wenn die eigentliche Erklärung der Schriftstelle eindeutig auf Ungläubige abzielt.
So ist es durchaus möglich, dass auch ein Kind Gottes gegenüber einem anderen Kind Gottes so etwas wie Hass empfindet. Haben wir dies nicht schon unter den Brüdern erlebt, vielleicht sogar in unserem eigenen Herzen erfahren? In gewissen Teilbereichen unseres Herzens hatte uns Hass erfüllt, nicht Liebe. Das ist etwas außerordentlich Ernstes, und wir sollten uns vor Gott in diesem Punkt aufrichtig und rückhaltlos prüfen. Denn wenn wir in einem Teilbereich unseres Herzens Hass gegenüber unserem Bruder dulden, so ist dieser bestimmte Bereich von Finsternis gekennzeichnet. Eine ernste Warnung an uns alle! Deshalb lasst uns auf der Hut sein vor unguten, feindseligen Gefühlen unserem Bruder gegenüber! Sein Verhalten mag unsere Liebe auf eine harte Probe stellen, die Bruderliebe aber muss trotzdem „bleiben“ (Heb 13,1). Andernfalls wird das Licht, das in uns ist, zur Finsternis (vgl. Lk 11,35).
Wenn man seinen Bruder liebt
Doch kommen wir nun wieder auf die abstrakte Darstellung der Wahrheit in unserem Brief zurück – eine Darstellung, die es uns ermöglicht, die Wahrheit, wie sie wirklich ist, zu erfassen.
„Wer seinen Bruder liebt, bleibt in dem Lieht, und kein Ärgernis ist in ihm“ (1. Joh 2,10).
„Der seinen Bruder Liebende“, so die wörtliche Übersetzung, beschreibt einen andauernden, für die Person charakteristisehen Zustand. Liebe gegenüber den Brüdern ist ebenso eine Offenbarung des ewigen Lebens wie Gehorsam Gott gegenüber. Der Gläubige ist im Licht, bleibt im Licht und kennt so Gott als völlig offenbart. Nun, Gott ist Liebe, und wir können nicht einen Teil von Gott haben ohne den anderen. Wir können nicht Gott gehorchen, ohne auch die Brüder zu lieben. Christus war nicht nur das Licht der Welt, sondern auch Liebe. Wenn wir also Ihn als unser Leben haben, werden auch wir beides haben. Die Liebe zu den Brüdern ist der Beweis dafür, dass wir göttliches Leben besitzen. So wird es später in Kapitel 3 gezeigt (Vers 14). Das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein dieser Charakterzüge – Gehorsam und Liebe – unterscheidet die beiden Familien, von denen wir in unserem Brief noch mehr hören werden: die Familie Gottes und die des Teufels. Welche Ermunterung gerade für die „einfachen“ Kinder Gottes liegt in diesen Worten und welch ein Hilfsmittel zur Bloßstellung von Verführern!
Der Zusatz „und kein Ärgernis ist in ihm“ bedarf noch einer Erklärung. „Kein Ärgernis“ kann man auch mit „kein Anlass zum Anstoß, kein Fallstrick wiedergeben. Der griechische Ausdruck für „Ärgernis“, skändalon, bezeichnete ursprünglich ein unter Spannung stehendes Stellholz in einer Falle. Wurde es auch nur leicht berührt, schnappte die Falle zu. Das Wort hat also nichts mit Ärger oder Ärgerlichsein zu tun, sondern es beschreibt eine Gefahr – eine Gefahr für einen selbst oder für einen anderen.
Tatsächlich kann auch die Feststellung „Kein Ärgernis ist in ihm“ in zweifacher Weise verstanden werden; und es scheint, dass der Heilige Geist auf beide Bedeutungen hinweisen will.
Einerseits bezieht sich diese Aussage auf den Gläubigen selbst. Weil er (grundsätzlich) seinen Bruder liebt und somit in dem Licht bleibt, stößt er nicht an. Das steht ganz im Gegensatz zu dem, was im nächsten Vers von dem gesagt wird, der seinen Bruder hasst und somit in der Finsternis ist und in der Finsternis wandelt. Die Augen des einen sind im Licht Gottes geöffnet; er sieht die Gefahren und stößt nicht an. Die Augen des anderen sind durch die Finsternis verblendet; er weiß nicht, wohin er geht, und er stößt an. Der Herr Jesus hat diese beiden Gruppen von Menschen einmal so beschrieben: „Wenn jemand am Tag wandelt, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht wandelt, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist“ (Joh u, 9.10). [Das griechische Wort für „anstoßen“, skandalizo, gehört zum gleichen Wortstamm wie skdndalon = Ärgernis, Anstoß.] Wohl denen, die zur ersten der beiden Gruppen gehören! Von ihnen sagt schon der Psalmdichter: „Großen Frieden haben die, die dein Gesetz lieben, und kein Fallen gibt es für sie“ (Ps 119,165).
Aber andererseits kann „Kein Ärgernis ist in ihm“ auch bedeuten, dass der, der seinen Bruder liebt, nicht anderen zum Anstoß wird, ihnen keinen Anlass zum Anstoß gibt. Es ist unmöglich, dass durch die Offenbarung der Natur Gottes jemand anders zum Straucheln gebracht wird. Dieser Hinweis ist wichtig, besonders auch im Blick auf Verführer von damals und heute, die gerade das taten und tun: Sie suchen mit ihren Ideen wahren Kindern Gottes einen Fallstrick zu legen.
Wenn sich jedoch jemand an Christus stößt, so ist es sein eigener Fehler. Christus ist auch heute noch ein „Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses“ (1. Pet 2,8). An Ihm scheiden sich die Geister. Wenn jemand dem Wort Gottes nicht gehorsam ist, so ist er gesetzt, sich an dem Wort zu stoßen. Diesem Urteil kann sich in gewisser Hinsicht auch kein Gläubiger entziehen. Wenn er nämlich, wie es seine Bestimmung ist, Christus offenbart, so werden die Menschen dieser Welt dadurch in ihrem Stolz verletzt, sie werden sich daran stoßen. Das können wir nicht verhindern. Versuchten wir es, so würden wir untreu sein. Wir können das Ärgernis und die Torheit des Kreuzes (1. Kor 1,23) nicht wegnehmen. Aber das Anstoßgeben dieser Art hat nichts mit dem zu tun, wovon in unserem Vers die Rede ist. Dieser Unterschied ist bedeutsam. In einer gewissen Weise müssen wir eben Anstoß geben, in einer anderen Hinsicht dürfen wir es nicht (Mt 18,7).
Unser gütiger Gott möge uns helfen, die Grundsätze auch dieses Verses in die Praxis umzusetzen! Wie unendlich viel wäre gewonnen, wenn wir unsere Brüder in Tat und Wahrheit liebten und dadurch daran gehindert würden, ihnen in irgendeiner Weise ein Anstoß zu sein! Ohne dieses heilige „Ö1“ der Bruderliebe wird ein gedeihliches Miteinander in der Familie Gottes nicht gelingen. Ist es jedoch vorhanden, werden selbst ernste Schwierigkeiten überwunden.
Noch einmal: Bruderhass und seine Folgen
„Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wohin ergeht, weil die Finsternis seine Augen verblendet hat“ (1. Joh 2,11).
Zu Beginn des elften Verses begegnet uns dieselbe Konstruktion wie im Vers zuvor: „der seinen Bruder Hassende.“ Die Prä- sens-Form (Gegenwartsform) beschreibt hier also einen Menschen, der ständig in diesem Zustand ist, dass er seinen Bruder hasst. Dieser Hass ist für ihn charakteristisch. Was „sein Brüden bedeutet, haben wir schon in Vers 9 gesehen.
Der elfte Vers ist eine Ergänzung des neunten Verses und vervollständigt fürs Erste den Gegensatz zwischen echt und unecht. Auf der einen Seite ist der wahre Gläubige, der im Licht ist und im Licht wandelt und dies dadurch offenbart, dass er seinen Bruder liebt. Auf der anderen Seite ist der falsche Bekenner, der in der Finsternis ist und in der Finsternis wandelt und dies dadurch offenbart, dass er seinen Bruder hasst. Eine neutrale Stellung dazwischen gibt es nicht. Wo nicht Liebe ist, ist Hass. Er mag versteckt sein, aber er ist da.
Gottes gerechtes Gericht
Wir haben schon wiederholt von der „Finsternis“ gesprochen als dem Zustand, in dem sich der nicht wiedergeborene Mensch von Natur aus befindet. Doch müssen wir verstehen lernen, dass das, was der Mensch von Natur aus ist, nicht die Grundlage dafür bildet, wie Gott mit ihm im Gericht verfahren wird. Nein, so redet die Schrift nicht. Der Mensch wird sich vielmehr für seine Werke verantworten müssen: „Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse“ (Joh 3,19). Aufgrund dessen, was „er in dem Leib^rzw hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“, wird der Mensch das gerechte Urteil Gottes empfangen (2. Kor 5,10), nicht, weil er von Natur aus böse ist.
Vielleicht liest jemand diese Zeilen, der noch nicht von neuem geboren und somit noch in seinen Sünden ist. Lass dich warnen! Der Teufel will dir einflüstern, dass Gott ungerecht sei, weil Er dich für etwas verantwortlich macht, was du von Natur aus bist und wofür du gar nichts kannst. Aber das ist nicht so.
Du bist vor Ihm dafür verantwortlich, wie du dich dem Heiland gegenüber verhältst: ob du das Licht verwirfst oder es annimmst. Gott zieht dich nicht dafür zur Rechenschaft, weil du in Finsternis geboren und „am Verstand verfinstert“ bist (Eph 4,18). Wenn du aber das Licht verwirfst, das durch das Wort Gottes zu dir kommt, dann wirst du einmal gerade dieses Wort als Richter gegen dich haben. „Wer mich verwirft und meine Worte nicht annimmt, hat den, der ihn richtet: das Wort, das ich geredet habe, das wird ihn richten am letzten Tag“, sagt der Herr Jesus (Joh 12,48).
Halten wir, liebe Freunde, fest: Aufgrund dessen, was wir von Natur aus sind, sind wir verloren, aufgrund dessen, was wir getan haben, werden wir gerichtet. Gott aber sei ewig Dank: Unser Heiland ist im Blick auf beides gestorben! Er hat am Kreuz das Gericht Gottes erduldet sowohl für das, was wir von Natur aus sind, als auch für das, was wir als verantwortliche Menschen an Bösem getan haben. Allerdings erstrecken sich die gesegneten Folgen Seines Sühnungswerkes nur auf die, die an Ihn glauben.
Finsternis in Ewigkeit
Die Finsternis hat für den, der darin ist und darin wandelt, verheerende Folgen: Sie macht ihn blind. Denn es wird hinzuge- fügt: „Weil die Finsternis seine Augen verblendet hat.“
Wenn man ein Tier oder auch einen Menschen lange genug in der Finsternis lässt, geht unweigerlich das Augenlicht verloren. An anderer Stelle gebraucht der Apostel Paulus dasselbe Bild, wenn er von denen, „die verloren gehen“, sagt: „... in denen der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus“ (2. Kor 4,4). Der Teufel will um jeden Preis den Menschen in der Finsternis halten, damit er nicht das Licht sieht, das in dem Herrn Jesus leuchtet. Und das Ergebnis des Blindseins ist, dass der Mensch „nicht weiß, wohin er geht“. Nicht nur hält er sich dort auf, wo alles dunkel ist, wo man nichts von Gott kennt, sondern auch seine eigenen Augen sind dunkel.
So kann er aus einem doppelten Grund nicht sehen, wohin es mit ihm geht.
Erschütterndes Los! Der kluge, der moderne Mensch, der heute in mancher Beziehung mehr weiß als die Menschen früher – das Wichtigste weiß auch er nicht: wohin er geht. Bleibt er in diesem beklagenswerten Zustand, so ist es nur noch ein einziger Schritt, und es ereilt ihn die ewige Finsternis. Gottes Wort sagt von den „Irrsternen“, dass ihnen „das Dunkel der Finsternis in Ewigkeit aufbewahrt ist“ (Jud 13).
Noch gibt es ein Entrinnen aus diesem entsetzlichen Zustand. Denn Christus ist als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an Ihn glaubt, „nicht in der Finsternis bleibe“ (Joh 12,46). Nur durch den Glauben an Ihn, das Licht, kann man selbst in das Licht kommen. Und man muss es tun, solange das Licht noch zugänglich ist: „Während ihr das Licht habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet“ (Vers 36).
Haben alle Leser dieses Licht im Glauben angenommen? Dann wohl ihnen! Sie dürfen dann als Söhne des Lichts einen Weg gehen, der dem, der in die ewige Finsternis führt, völlig entgegengesetzt ist. Denn auch dies sind die Worte unseres Herrn und Heilands: „Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben“ (Joh 8,12). Über alle Finsternis triumphierend können die Gläubigen schon heute wissen und bekennen:
„Denn bei dir ist der Quell des Lebens,
in deinem Licht werden wir das Licht sehen“
(Ps 36,10).
Licht und Finsternis – es ist der Unterschied zwischen Himmel und Hölle.