Siehe, dein König kommt
Eine Auslegung zum Propheten Sacharja
Der Zustand des Volkes und Gottes Plan
Mit Kapitel 7 kommen wir zum zweiten Teil des Propheten Sacharja. Die ersten sechs Kapitel waren durch Nachtgesichte gekennzeichnet. In acht Visionen war dem jungen Propheten in bildhafter Form etwas von der Herrlichkeit des kommenden Messias und seiner Herrschaft vermittelt worden. Der zweite Teil des Buches enthält ganz ausdrückliche und direkte Vorhersagen über Christus: sein Kommen als Mensch, seine Verwerfung, seine Leiden, seinen Sühnungstod und schließlich seine Erscheinung in Macht und Herrlichkeit und sein Friedensreich.
In den Kapiteln 1–6 heißt es immer wieder „ich erhob meine Augen“ und „ich sah“. In den Kapiteln 7–14 ist der Ausdruck „das Wort des Herrn“ charakteristisch (Kap. 7,1.4.8; 8,1.18; 9,1; 11,11; 12,1).
Dabei haben die Kapitel 7 und 8 einleitenden und vorbereitenden Charakter. Kapitel 7 deckt den Zustand des Volkes auf (der nicht gut war) und Kapitel 8 spricht von dem Segensratschluss Gottes, der – trotz allem – feststeht. Werfen wir einen kurzen Blick auf Kapitel 7.
Sollen wir fasten?
„Und es geschah im vierten Jahr des Königs Darius, da erging das Wort des HERRN an Sacharja, am Vierten des neunten Monats, im Monat Kislev, als Bethel Sarezer und Regem-Melech und seine Männer sandte, um den Herrn anzuflehen und um den Priestern des Hauses des Herrn der Heerscharen und den Propheten zu sagen: Soll ich im fünften Monat weinen und mich enthalten, wie ich schon so viele Jahre getan habe?“ (V. 1–3).
„Sollen wir fasten?“ Das war der Kern der Frage, mit der einige Männer – wohl aus Bethel (V. 2) – nach Jerusalem gekommen waren. Das geschah im vierten Jahr des Königs Darius, also etwa zwei Jahre nach den Botschaften Haggais (Hag 1,1.15; 2,10) und etwa zwei Jahre, bevor der Tempelbau abgeschlossen wurde (Esra 6,15). Das macht die Frage verständlich: Man war ja wieder im Land, man hatte wieder einen Altar (Esra 3), der Bau des Tempels ging voran – war es nun noch nötig zu fasten?
Hinzu kam, dass es bei dem Fasten im fünften und im siebten Monat des Jahres nicht um eine gesetzliche Vorschrift ging, sondern um eine Gewohnheit. Es ist anzunehmen, dass das Fasten im fünften Monat die Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar in Erinnerung bringen sollte (2. Kön 25,8). Das Fasten des siebten Monats sollte wahrscheinlich an den Mord erinnern, der an ihrem Landpfleger Gedalja verübt worden war (Jer 41,1.2). Beides lag nun viele Jahrzehnte zurück und es hatte ein gewisses Maß an Wiederherstellung gegeben.
Außerdem wurde der positive Eindruck dadurch bestärkt, dass diese Männer kamen, um „den Herrn anzuflehen“ und auch „um den Priestern … und den Propheten“ diese Frage vorzulegen. Aber Gott sah tiefer und gab eine erstaunliche Antwort.
Gottes Antwort geht tiefer
„Und das Wort des Herrn der Heerscharen erging an mich, indem er sprach: Rede zum ganzen Volk des Landes und zu den Priestern und sprich: Wenn ihr im fünften und im siebten Monat gefastet und gewehklagt habt, und zwar schon siebzig Jahre, habt ihr irgendwie mir gefastet? Und wenn ihr esst und wenn ihr trinkt, seid nicht ihr die Essenden und ihr die Trinkenden? Kennt ihr nicht die Worte, die der HERR durch die früheren Propheten ausrief, als Jerusalem bewohnt und ruhig war und seine Städte rings herum und der Süden und die Niederung bewohnt waren?“ (V. 4–7).
Gott antwortete durch den Propheten Sacharja. Dabei machte Er klar, dass die Antwort nicht nur den Männern aus Bethel mitgeteilt werden sollte, sondern dem „ganzen Volk des Landes“ und „den Priestern“. Man merkt sofort, dass Gottes Antwort – wie so oft – tiefer geht als die Frage, die gestellt wird. Das Volk hatte über viele Jahre diese Fastenzeiten eingehalten, aber es war eine Form ohne Inhalt, ein Ausdruck ohne Eindruck, eine Zeremonie, deren Grund und Ursache man vergessen hatte. Man erinnerte sich an Unglücke in der nationalen Geschichte und hatte „gewehklagt“, aber die tiefere Ursache schien man mehr oder weniger vergessen zu haben. Daher Gottes Gegenfrage: „Kennt ihr nicht die Worte, die der Herr durch die früheren Propheten ausrief …?“ Wie hatten Jesaja und direkt vor der Wegführung noch Jeremia das Volk gewarnt und auf sein Fehlverhalten aufmerksam gemacht (vgl. 2. Chr 36,15.16)! Was Gott suchte, waren nicht Zeremonien oder Riten, sondern ein zerbrochenes Herz und einen zerschlagenen Geist.
Das zweite „Wort des Herrn“ an Sacharja in diesem Kapitel (V. 8–14) verdeutlicht die erste Botschaft, indem es die „Worte der früheren Propheten“ zusammenfasst: Sie hatten darauf hingewiesen, dass Gott Wahrheit, Güte und Barmherzigkeit sucht (V. 9.10). Aber das Volk hatte sich geweigert zu hören. Gott sagt, dass sie ihr Herz „zu Diamant“ gemacht hatten. Es geht hier nicht um den Wert des Diamanten, sondern um seine extreme Härte. Diamant ist bis heute der härteste natürliche Stoff, der uns bekannt ist. Die nationalen Katastrophen des Volkes (an die die Fastenzeiten erinnern sollten) waren eine direkte Konsequenz ihrer Handlungen und ihrer Herzenshärte gewesen: Gott hatte in „großem Zorn“ gehandelt (V. 12) und dann auch nicht mehr auf sie gehört, als sie zu Ihm riefen (so wie sie früher nicht auf Ihn gehört hatten; V. 13). Stattdessen hatte Er in Zucht mit ihnen gehandelt und sie vertrieben (V.14).
Natürlich ist Fehlverhalten nicht die einzige Ursache von Schwierigkeiten im Volk Gottes bzw. im Leben von Gläubigen. Gott schickt auch aus ganz anderen Gründen Schwierigkeiten, zum Beispiel um Glauben zu erproben (1. Pet 1,7). Aber hier war es der Fall gewesen.
Vorbereitung auf das prophetische Wort
Bleibt noch die Frage zu beantworten, warum dieses Kapitel notwendig ist in einem Propheten, der so sehr den kommenden Messias, Christus, und seine Herrlichkeit vorstellt. Dazu zwei Bemerkungen:
- Sacharja 7 dient dazu, uns zu zeigen, dass das Volk versagt hatte. Selbst der Überrest, der nach Jerusalem zurückgekehrt war, befand sich in einem schlechten Zustand. Sie hatten also weder Anspruch auf das Kommen des Messias noch konnten sie einen Verdienst vorweisen. Dennoch würde Gott seinen Ratschluss wahr machen – und genau davon spricht Kapitel 8: „Ich eifere für Zion mit großem Eifer … Ich kehre nach Zion zurück und will inmitten Jerusalems wohnen; und Jerusalem wird ‚Stadt der Wahrheit’ genannt werden und der Berg des Herrn der Heerscharen ‚der heilige Berg’“ (V. 2.3). Gott ist treu. Seine „Gnadengaben sind unbereubar“ (Röm 11,29). Dabei haben wir zwei wichtige Seiten vor uns, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen: Einerseits sollte ein niedriger geistlicher Zustand für uns Anlass sein, Selbstgericht zu üben und Versagen einzugestehen und zu bekennen. Andererseits gilt, dass Gottes Plan zustande kommt – und das aus reiner Gnade.
- Zweitens zeigt uns Kapitel 7, dass Gott unseren Zustand kennt, so wie Er den Zustand des Überrests zur Zeit Sacharjas kannte. Der Prophet muss sie auf ihren niedrigen Zustand hinweisen, bevor er im Einzelnen von der kommenden Herrlichkeit des Messias berichten kann. Das gilt auch für uns: Wir müssen im richtigen Zustand sein, um etwas von Christus aufnehmen und genießen zu können.
Somit geben die Kapitel 7 und 8 den richtigen Ausgangspunkt für die detaillierten messianischen Zusagen der folgenden Kapitel.
Sollen wir fasten?
Manche Leser fragen sich vielleicht, wie die Frage der Besucher aus Bethel heute zu beantworten wäre: „Sollen wir fasten?“ Dazu zwei Anregungen:
- Das Neue Testament spricht mehrfach vom Fasten, nicht nur in den Evangelien, sondern auch in der Apostelgeschichte und in den Briefen (Apg 13,2; 14,23; 2. Kor 6,5; 11,27). Diese Stellen enthalten keine ausdrückliche Aufforderung zu fasten, aber sie sprechen doch in positiver Weise davon. Oft steht Fasten in Verbindung mit Gebet und besonderen Herzensübungen oder Entscheidungen, die getroffen werden mussten. Fasten kann nützlich sein, um uns zu helfen, uns neu bewusst zu machen, dass wir ganz vom Herrn abhängig sind und sein sollen. Daher kann Fasten uns dazu bringen, den Herrn inständiger um seine Hilfe zu bitten.
- Andererseits zeigt das Neue Testament, dass Fasten eine persönliche Sache ist, die nicht „an die große Glocke gehängt“ wird. Andere brauchen davon gar nichts mitzubekommen (Mt 6,16–18). Wichtig ist auch, dass Fasten kein „Verdienst“ darstellt und man dadurch nichts von Gott erzwingen kann. Nicht zuletzt wäre auch der Hinweis aus Sacharja 7 zu bedenken: „Wenn ihr … gefastet … habt, … habt ihr irgendwie mir gefastet?“ (V. 5).
Zusammenfassung
Einige Männer waren aus Bethel nach Jerusalem gekommen, um zu beten und um die Frage zu stellen, ob es immer noch nötig sei, bestimmte Fastenzeiten einzuhalten. Die Antwort Gottes war ernüchternd: Ihr Fasten war mehr aus Tradition als aus Trauer geschehen. Sie hatten die Ursache ihrer nationalen Katastrophen aus dem Auge verloren: ihre eigene Untreue. Der niedrige Zustand des Volkes muss aufgedeckt werden, um zu zeigen, dass es reine Gnade ist, wenn Gott seine Segensabsichten in Christus erfüllt.