Siehe, dein König kommt
Eine Auslegung zum Propheten Sacharja
Der Mann zwischen den Myrten
Ein Appell
In Sacharja 1 stoßen wir auf das erste Nachtgesicht des jungen Propheten. Der Hintergrund, den wir in der Einleitung geschildert haben, hilft uns zu verstehen, warum dieses Nachtgesicht, das den Mann zwischen den Myrten vorstellt, so trostreich war. Doch zuerst appelliert Sacharja an das Herz und Gewissen des Volkes (V. 1–6): Sie sollten nicht so handeln, wie es ihre Väter getan hatten, sondern ihre Herzen öffnen für die Botschaft, die Gott an sie richten wollte.
Dann folgt die trostreiche Botschaft über den Mann zwischen den Myrtenbäumen.
Ein wichtiges Jahr
„Am vierundzwanzigsten Tag, im elften Monat, das ist der Monat Schebat, im zweiten Jahr des Darius, erging das Wort des Herrn an Sacharja, den Sohn Berekjas, des Sohnes Iddos, den Propheten, indem er sprach …“ (V. 7).
Das zweite Jahr des Königs Darius war äußerst ereignisreich gewesen, besonders was prophetische Mitteilungen anging:
- 6. Monat, 1. Tag: Haggai spricht seine erste Botschaft aus (Hag 1,1)
- 6. Monat, 24. Tag: Der Bau des Hauses wird wieder aufgenommen (Hag 1,15)
- 7. Monat, 21. Tag: die zweite Botschaft Haggais (Hag 2,1)
- 8. Monat: die erste Botschaft Sacharjas (Sach 1,1)
- 9. Monat, 20. Tag: die dritte Botschaft Haggais (Hag 2,10)
- 9. Monat, 24. Tag: die vierte Botschaft Haggais (Hag 2,20)
- 11. Monat, 24. Tag: die zweite Botschaft Sacharjas (Sach 1,7)
Diese dichte Abfolge von Prophezeiungen gerade im Jahr der Wiederaufnahme der Arbeit zeigt uns, wie wichtig der prophetische Dienst ist. Dazu wird klar, dass die nun folgende Botschaft des Trostes erst ausgesprochen werden konnte, nachdem die Juden ihre Haltung geändert hatten und wieder fleißig ihrer noblen Aufgabe nachgingen.
Die Begegnung im Tal
„Ich schaute in der Nacht, und siehe, ein Mann, der auf einem roten Pferd ritt; und er hielt zwischen den Myrten, die im Talgrund waren, und hinter ihm waren rote, hellrote und weiße Pferde. Und ich sprach: Mein Herr, wer sind diese? Und der Engel, der mit mir redete, sprach zu mir: Ich will dir zeigen, wer diese sind. Und der Mann, der zwischen den Myrten hielt, antwortete und sprach: Diese sind es, die der Herr ausgesandt hat, um die Erde zu durchziehen. Und sie antworteten dem Engel des Herrn, der zwischen den Myrten hielt, und sprachen: Wir haben die Erde durchzogen, und siehe, die ganze Erde sitzt still und ist ruhig“ (V. 8–11).
In seinem ersten Nachtgesicht sieht der Prophet einen Mann, der auf dem roten Pferd reitet und dann zwischen Myrten anhält. Ein Blick auf Vers 11 zeigt uns, dass es sich dabei um keinen anderen als den Engel des Herrn handelte. Er wird klar von dem „Engel“ unterschieden, der mit Sacharja redete und bestimmte Erklärungen abgab (V. 9.14). Wir wissen aus anderen Stellen, dass der Herr Jesus vor seiner Menschwerdung verschiedenen Personen als Engel des Herrn erschienen war (s. z. B. 2. Mo 3,2–18; Ri 6,11–22 und 13,3–21). Im Verlauf unseres Abschnitts werden wir mehrere Umstände entdecken, die diese Sichtweise bestärken.
Der Ort, an dem der Reiter anhält, ist interessant: zwischen den Myrten, und zwar im Tal. Myrten sind immergrüne Bäume oder Sträucher, die prächtig blühen und angenehm duften. Sie kommen noch an drei anderen Stellen im Alten Testament vor. Aus diesen Versen können wir die schöne Bedeutung dieser Pflanzen erkennen:
- Jesaja teilt uns mit, dass Gott folgende Verheißungen gab: „Ich werde Zedern in die Wüste setzen, Akazien und Myrten und Olivenbäume, werde in die Steppe pflanzen Zypressen“; und: „Statt der Dornsträucher werden Zypressen aufschießen, und statt der Brennnesseln werden Myrten aufschießen. Und es wird dem Herrn zum Ruhm, zu einem ewigen Denkzeichen sein, das nicht ausgerottet wird“ (Jes 41,19 und 55,13). In der ersten Stelle geht es darum, dass diese immergrüne Pflanze einmal wachsen wird, wo es bisher nur Wüste gab. Die zweite Stelle betont den Charakter des Segens im Gegensatz zum Fluch, dessen Folge die Dornen ja waren.
- In Nehemia 8 verwenden die Juden unter anderem Myrtenzweige, um das Laubhüttenfest zu feiern, das ja von der Zeit des Segens und der Freude im 1000-jährigen Reich spricht.
Damit wird klar, dass Myrten in der Bibel mit Segen und Wiederherstellung zusammenhängen. Der Umstand, dass der Engel des Herrn erscheint und zwischen den Myrten hält, lässt schon vermuten, dass der junge Prophet mit einer ermutigenden Botschaft rechnen darf. Wir werden sehen, dass das tatsächlich der Fall ist: Sacharja darf „gute Worte, tröstliche Worte“ hören (V. 13).
Allerdings standen diese Myrten „im Talgrund“. Das Wort, das hier benutzt wird, kommt sonst im Alten Testament so nicht vor, bedeutet1 aber so viel wie „niedriger Punkt“, „Tal“ oder auch „Schatten“, vermutlich deshalb, weil Täler oder niedrig gelegene Orte viel länger im Schatten liegen als Bergspitzen. Die Bedeutung „Tiefe“ oder „tief gelegener Punkt“ wird auch dadurch gestützt, dass ein verwandtes Wort die Tiefe des Meeres bezeichnet (11x im AT, z.B. in 2. Mo 15,5; Ps 69,16; Jona 2,4; Mich 7,19). Das Volk Israel befand sich an einem der Tiefpunkte seiner nationalen Geschichte. Aber der Mann auf dem roten Pferd kommt bis in den Talgrund und bringt gerade dort eine Botschaft des Trostes.
Der Mann ritt auf einem roten Pferd. Pferde stehen in der Bibel für Macht, insbesondere militärische Macht. Viel spricht dafür, in diesen Pferden – wie auch in Kapitel 6,1–8 – ein Bild der vier Weltreiche2 zu sehen, von denen Daniel schon gesprochen hatte (Dan 2 und 7). Aus der Sicht eines treuen Juden waren diese Weltreiche mehr als nur Störfaktoren. Es waren Mächte, die dem Volk Israel in vieler Hinsicht weit überlegen waren und unter denen es für sie viele Feinde gab. Sie hatten das Heiligtum Gottes und die „Stadt des großen Königs“ zerstört. Aber hier lernen wir die tröstliche Wahrheit, dass selbst diese Weltreiche nicht willkürlich handeln konnten, sondern von Gott gesteuert werden: „Diese sind es, die der Herr ausgesandt hat, um die Erde zu durchziehen“ (V. 10).
Exkurs: Anwendung für Christen
Manchmal erwecken Umstände und Entwicklungen den Eindruck, alles liefe in die falsche Richtung und der Herr kümmere sich nicht darum. Genauso sah es zur Zeit Sacharjas aus (den heidnischen Weltreichen ging es gut, das Volk Gottes befand sich in einer schwierigen Lage).
Aber der Schein trügt. Gott greift oft nicht sofort ein. Er bewegt sich hinter der Szene. Dennoch hält Er die „Zügel“ in seiner Hand.
Bist du „im Tal“, an einem Tiefpunkt? Genau da möchte der Herr uns begegnen und „gütige und tröstliche Worte“ hören lassen. Er blickt „auf den Elenden“ und wohnt „bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15; 66,2). Das gilt auch heute noch.
Wenn wir Christus in diesem Engel des Herrn entdecken, ergibt sich ein schönes und in der Tat tröstliches Bild: Er hat und behält die Kontrolle über diese Reiche. Er sitzt auf dem roten Pferd, das heißt, Er lenkt und kontrolliert es, und die anderen Pferde folgen. Wenn auch noch mehrere Jahrhunderte vergehen mussten, bevor Er tatsächlich als Messias zu seinem Volk kommen würde (und noch viele Jahrhunderte mehr, bevor Er diese Reiche endgültig richten würde), war Er doch schon jetzt derjenige, der den Lauf der Weltgeschichte kontrollierte.
Die Fürsprache und die Antwort
Allerdings schien es den Nationen sehr gut zu gehen. Sie hatten Ruhe. Sie sagen: „Wir haben die Erde durchzogen, und siehe, die ganze Erde sitzt still und ist ruhig“ (V. 11). Es gab auch nicht das geringste Anzeichen, dass sich an ihrer Machtposition etwas ändern würde. Doch vernimmt Sacharja noch einmal die Stimme des Engels des Herrn:
„Da hob der Engel des Herrn an und sprach: Herr der Heerscharen, wie lange willst du dich nicht über Jerusalem und die Städte Judas erbarmen, auf die du zornig warst diese siebzig Jahre?“ (V. 12).
Hier sehen wir Christus als Fürsprecher. Er verwendet sich bei Gott für das Volk. Natürlich weiß Er, was Gott tun wird und wann, aber Er drückt aus, was die Treuen in Gottes Volk empfinden. Diese Tatsache erinnert uns daran, dass der Herr sich auch für uns verwendet, das heißt, dass Er uns vertritt und unsere Angelegenheiten vor Gott bringt (Röm 8,34 und Heb 7,25).
„Und der Herr antwortete dem Engel, der mit mir redete, gute Worte, tröstliche Worte. Und der Engel, der mit mir redete, sprach zu mir: Rufe aus und sprich: So spricht der Herr der Heerscharen: Ich habe mit großem Eifer für Jerusalem und für Zion geeifert“ (V. 13.14).
Die Fürsprache des Engels des Herrn bleibt nicht ohne Wirkung. Sacharja hört nun „gute Worte, tröstliche Worte“, das heißt Worte, die die Güte Gottes zeigen und gleichzeitig Trost bringen. Der Engel des Herrn hatte sich an den Herrn der Heerscharen, das heißt an den Gott, dem gewaltige Armeen unterstehen, gewandt, aber die Antwort kam von dem Herrn (Jehova).
Diese Antwort, die zuerst einmal an den Engel gerichtet wurde, der mit Sacharja sprach, zeigt, dass der äußere Anschein der Dinge nur trügen konnte: Es sah so aus, als sei Gott auf der Seite der Nationen. Nun darf Sacharja hören, dass es sich in Wirklichkeit ganz anders verhielt: Für eine Weile ließ Gott diese Weltreiche gewähren (V. 11), aber in Wirklichkeit war Er zornig auf sie gewesen diese 70 Jahre (V. 14.15). Und Jerusalem war Ihm absolut nicht gleichgültig: Er „eiferte mit großem Eifer“ für diese Stadt. Er hatte beschlossen, dass sein Haus dort wieder gebaut werden sollte und die Stadt und das Volk wieder gesegnet werden sollten. Dieses Gesicht von dem Mann zwischen den Myrtenbäumen musste eine gewaltige Ermutigung sein.
Eine Botschaft des Trostes
Diese Tatsache, nämlich dass Gott in Wirklichkeit Erbarmen für Jerusalem hat, aber zornig auf die Nationen ist, ergibt eine gewaltige Schlussfolgerung, die mit dem Wort „darum“ eingeleitet wird.
„Darum, so spricht der Herr: Ich habe mich Jerusalem mit Erbarmen wieder zugewandt; mein Haus, spricht der Herr der Heerscharen, soll darin gebaut und die Mess-Schnur über Jerusalem gezogen werden. Rufe ferner aus und sprich: So spricht der Herr der Heerscharen: Meine Städte sollen noch überfließen von Gutem; und der Herr wird Zion noch trösten und Jerusalem noch erwählen“ (V. 16.17).
Der erste Teil dieser Antwort (V. 16a) bezieht sich auf das, was schon zur Zeit Sacharjas zutraf: Gott hatte sich bereits über Jerusalem erbarmt. Dann folgt der Hinweis auf den Bau seines Hauses und die Mess-Schnur. Einerseits wurde der Bau schon durchgeführt; andererseits wird es einen zukünftigen Bau geben, wo auch die Mess-Schnur, das Zeichen des aufmerksamen Interesses Gottes an diesem Ort, wieder benutzt werden wird (vgl. Hes 40,3 ff.; Off 11,1.2; Sach 4,8–10). Insofern hat Vers 16b eine doppelte Anwendung.
Aber der restliche Teil der Antwort (V. 17) hat eine rein zukunftsbezogene Bedeutung, denn zu Lebzeiten Sacharjas konnte davon, dass Gottes „Städte noch von Gutem überfließen“ würden, nicht die Rede sein. Bevor Gott sein Erbarmen vollständig und endgültig erweisen konnte, musste erst der Messias kommen und leiden und sterben und schließlich von einem (auch heute noch zukünftigen) Überrest des Volkes unter Buße angenommen werden. Diese Auffassung, dass Vers 17 auf die damals noch ferne Zukunft abzielt, wird durch die einleitenden Worte „Rufe ferner aus und sprich“ gestützt. Außerdem ändert sich nun die Ausdrucksweise: Während es in Vers 16 einfach hieß, „soll gebaut werden“, lesen wir in Vers 17 dreimal, dass etwas „noch“ geschehen soll oder wird. Auch dieser Umstand deutet darauf hin, dass es zurzeit zwar noch nicht der Fall war, aber dennoch einmal geschehen würde. Drittens wird es durch den Zusammenhang unterstrichen, denn die Rückkehr aus Babylon kann hier nicht gemeint sein (sie war bereits geschehen) und es ging ja gerade darum, dass die Nationen noch herrschten, dass Jerusalem noch in Trümmern lag und Israel keinen König hatte, sondern den Weltreichen unterstand. Das wird sich erst dann ändern, wenn der „Stein“ aus Daniel 2 das Bild Nebukadnezars schlägt, das heißt, wenn Christus in Macht und Herrlichkeit erscheint. Wenn die Prophetie Ereignisse vorstellt, die noch in ferner Zukunft liegen, dann soll das immer eine Auswirkung in der Gegenwart haben. So auch hier. Die glühenden Voraussagen über den zukünftigen Segen Jerusalems dienen dazu, den Überrest zur Zeit Sacharjas zu ermutigen.
Alle diese Aussagen, ob in Bezug auf Gegenwart oder ferne Zukunft, waren eine Antwort auf die Fürsprache des Mannes zwischen den Myrtenbäumen im Tal. Er war derselbe, der auch heute noch in unsere Umstände hineinkommt und Fürbitte für uns tut – und zwar nicht mehr als Engel des Herrn, sondern als nach vollbrachtem Erlösungswerk verherrlichter Christus zur Rechten Gottes!
Zusammenfassung
Sacharja spricht auffallend oft von Christus. Im ersten Kapitel sieht er Ihn in einem Gesicht als einen Mann, der auf einem roten Pferd reitet und zwischen den Myrten im Tal anhält. Myrten sprechen von Wiederherstellung und Segen. Der Mann ist Christus, der als Engel des Herrn beschrieben wird. Er wendet sich an Gott, und zwar in Fürsprache für Jerusalem. Als Antwort darauf hört Sacharja tröstende Worte. Auch heute noch kommt der Herr Jesus zu uns ins Tal. Er ist unser Fürsprecher, und Gott antwortet mit Trost und Ermutigung.
Fußnoten