Lebendiger Glaube
Eine Auslegung des Briefes des Jakobus
1. Merkmale des Glaubens (Kapitel 1,1–15)
Damit kommen wir zu den eigentlichen Versen unseres Briefes. In den ersten fünfzehn Versen lernen wir etwas über den Charakter und die Merkmale des Glaubens. Besonders im ersten Kapitel wird alles in Beziehung zu Gott gesehen. Der Herr Jesus wird nach dem Einleitungsvers nur noch einmal in einem speziellen Zusammenhang erwähnt. Er ist zwar hier schon Mittelpunkt und Inhalt allen Segens und der Führung des Volkes Gottes. Aber sie erkennen es noch nicht.
Wie schon in der Einleitung vermerkt, geht es auch im ersten Kapitel darum, vor Gott einen solchen Lebenswandel zu führen, dass der Glaube sich als wahr erweist. Dies ist dann der Fall, wenn wir Prüfungen erdulden und uns nicht mit dieser bösen Welt verbinden. So sieht wahrhaft praktisches Glaubensleben aus. Man hat in der Trübsal Freude und bewährt sich im Ausharren. Das ist das große Thema bis einschließlich Vers 12. Danach geht es stärker darum, alles das zu richten und zu lassen, was sich diesem Ausharren widersetzen will.
Abschließend noch ein Hinweis zur Struktur des ersten Kapitels. Ich habe den Eindruck, dass sich darin immer zwei Abschnitte ergänzen, indem gegensätzliche Schwerpunkte zu ein und demselben Thema gewählt werden:
Die Doppelabschnitte in Kapitel 1
- Verse 2–4 und 5–8 gehören zusammen. Nach dem Einleitungsvers geht es in den Versen 2–4 darum, in Prüfungen auszuharren und sich dem Willen Gottes unterzuordnen. In den Versen 5–8 lernen wir dann, dass dieses Ausharren nur möglich ist, wenn wir Gott um Weisheit in diesen Prüfungen bitten und Ihm unser Vertrauen schenken.
- Verse 9–11 und Vers 12 gehören ebenfalls zusammen. In den Versen 9–11 erfahren wir, dass alles Sichtbare auf dieser Erde vergänglich ist. An dem Sichtbaren und Vergänglichen sollen wir uns nicht festhalten. Unvergänglich ist jedoch derjenige, der die Prüfung erduldet. Sein Lohn ist nicht nur herrlich, sondern unzerstörbar. Er bleibt und wird in Ewigkeit gesehen: Sein Lohn ist die Krone des Lebens.
- Verse 13–15 und 16–18 gehören wieder zusammen. In den Versen 13–15 lernen wir, dass ein Nachgeben bei Begierden zu Tatsünden führt, deren Ende der Tod ist. Das ist der Weg der alten Natur. In den Versen 16–18 dagegen zeigt uns Gott, dass Er uns zum Guten leitet. Von Ihm kommt das Gute. Wir wissen, dass es sich bei der in uns wohnenden Sünde und der alten Natur im Gegensatz zu Gott nicht um einen „Fixstern“ handelt, auf den wir uns stützen können. Gott dagegen ist unveränderlich und schenkt nur Gutes. Das ist das Gegenteil von Sünden und Tod. Begierden führen zum Tod, Gott führt uns zum Leben. Er hat uns sogar eine neue Natur geschenkt, indem Er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt hat. So gehören wir schon jetzt der neuen Schöpfung an.
- Verse 19–21 und 22–25 gehören wieder zusammen. In den Versen 19–21 lesen wir, wie unser moralisches Leben aussehen soll: ohne Zorn, Groll und Unsauberkeit. Stattdessen soll es durch das uns eingepflanzte Wort geprägt sein. In den Versen 22–25 folgt eine Erklärung des Geistes Gottes, das eingepflanzte Wort betreffend: Es ist das vollkommene Gesetz der Freiheit, dem wir in unserem praktischen Leben zuhören sollen, um es zu tun. Und genau das wollen wir als solche tun, die von neuem geboren sind.
- Vers 26 und Vers 27: Zum Schluss haben wir dann noch zwei Einzelverse. Zuerst lernen wir, wodurch jeder Gottesdienst für Gott unbrauchbar wird: durch eine vorlaute Zunge, die aus der alten Natur genährt wird. In Vers 27 zeigt uns Gott schließlich, wie ein Ihm wohlgefälliger Gottesdienst aussieht. Man kann diese beiden Schlussverse auch als allgemeines Resümee des Kapitels sehen. Gott wünscht, dass wir wahren Gottesdienst ausüben. Das ist ein wunderbares Ergebnis wahren Glaubens.
Der Schreiber, die Empfänger und der Gruß (V. 1)
„Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus, den zwölf Stämmen, die in der Zerstreuung sind, seinen Gruß!“
Im ersten Vers werden uns der Schreiber des Briefes, die Empfänger und auch der Gruß des Schreibers genannt.
Der Schreiber
Wir haben uns schon mit dem Schreiber beschäftigt. Hier ergänze ich im Wesentlichen nur das, was über das bereits Geschriebene hinausgeht. Wir haben weiter oben gesehen, dass der Schreiber dieses Briefes sehr wahrscheinlich der Bruder des Herrn ist.
Jakobus stellt sich nicht als Bruder des Herrn vor, auch nicht als Apostel, nicht einmal als Führer in der Versammlung in Jerusalem. Andere hätten auf die natürlichen Beziehungen oder die persönliche Stellung verwiesen. Jakobus tut das nicht. Er zeigt sich hier als demütiger Mann. Er lässt andere sagen, dass er ein Bruder des Herrn ist (Gal 1,19) oder eine Säule der Versammlung (Gal 2,9). Für ihn besteht die höchste Ehre darin, Diener Gottes und des Herrn Jesus zu sein.
Das ist ein Beispiel dafür, sich zu weigern, Christus dem Fleisch nach zu kennen (vgl. Jak 2,1; 2. Kor 5,16) und sich darauf zu berufen. Er stellt sich einfach auf eine Stufe mit allen anderen (Jak 3,1.2).
Jakobus beruft sich nicht einmal auf seine Apostelschaft (vgl. Gal 1,19). Er war vermutlich kein Apostel im amtlichen Sinn des Wortes, auch wenn er Augenzeuge des Lebens und der Auferstehung Christi war (vgl. Apg 1,22; 1. Kor 15,7). Er war gegenwärtig, als Matthias als Ersatz für Judas gewählt wurde (Apg 1,14.15). Aber offensichtlich besaß er nicht die notwendige Qualifikation, um einer der zwölf Apostel zu sein (vgl. Apg 1,21.23).
Jakobus war auch niemand, der die eigentliche apostolische Aufgabe wahrnehmen sollte, als Ausgesandter die Auferstehung Jesu zu bezeugen. Jedenfalls lesen wir nichts davon. Es scheint, als sei Jakobus immer in Jerusalem geblieben.
Wenn Jakobus seine Beziehung zum Herrn erwähnt hätte, wäre sofort auch für nachfolgende Generationen klar gewesen, um wen es sich handelte. Aber Jakobus war offensichtlich so gut bekannt bei seinen Empfängern, dass er es nicht nötig hatte, sich anders als in seiner geistlichen Beziehung zu Gott und zum Herrn Jesus zu identifizieren. Es hilft uns zugleich, unsere Lektion zu lernen, was Demut und das Setzen richtiger Prioritäten betrifft.
Knecht sein
Jakobus nennt sich schlicht „Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus“. Im Grundtext steht eigentlich: „von Gott und dem Herrn Jesus Christus sein Knecht“. Diese Reihenfolge macht die Identität seiner himmlischen Herren bedeutsam: Der Herr Jesus ist Gott. Jakobus‘ Beziehung zu Gott als Knecht war für ihn von höchster Bedeutung. Seine Worte hatten nicht deshalb Kraft, weil er ein Bruder Jesu, sondern weil er ein Knecht Gottes und des Herrn Jesus war.
Dieser Mann Gottes nennt sich zuerst Knecht Gottes: Das ist ein sehr weiter Blickwinkel, den auch ein Jude haben konnte. Die Juden bezogen sich auf Gott. Dann aber nennt sich Jakobus zusätzlich Knecht des Herrn Jesus Christus. Das konnten und wollten diejenigen Juden, die keine Christen geworden waren, ausdrücklich nicht sagen. Dazu musste man Jesus als Retter annehmen. Daher würde dieser Titel des Jakobus sofort eine Meinungsverschiedenheit unter den Juden bewirken. Die Masse der Israeliten würde solch einen Dienst und diese Beziehung zu dem, den sie nicht als ihren Messias anerkannten, sofort zurückweisen. Trotzdem schreibt Jakobus an beide. An die einen als Ermunterung, an die anderen als Mahnung und Warnung. So entlarvt er von Anfang an jeden, der keinen wirklichen Glauben besaß.
Jakobus ehrt Jesus als Herrn und Messias und verbindet seinen Namen auf direkte Weise mit dem des ewigen Gottes. Allein schon dadurch, dass diese beiden Namen direkt nebeneinandergestellt werden, macht Jakobus deutlich, dass Jesus Gott ist. Sonst könnte er sie nicht nebeneinanderstellen. Während des Erdenlebens Jesu hatte Jakobus Zweifel an der einzigartigen Stellung und Person Jesu (Joh 7,5). Davon lesen wir jetzt nichts mehr. Offenbar waren diese Zweifel bei Jakobus durch den Tod und die Auferstehung Jesu ein für alle Mal beseitigt.
Leibeigener und Hingabe
Jakobus nennt sich also wie Paulus, Johannes, Petrus und Judas Knecht. Es ist eine schöne Übereinstimmung aller Briefschreiber, dass sie sich so bezeichnen. Der Titel „Knecht“ oder „Sklave“ drückt die absolute Hingabe des Schreibers an Gott und den Herrn Jesus Christus aus. Jakobus war Knecht im Blick auf beide. Er ehrte den Sohn, wie er den Vater ehrte (vgl. Joh 5,23). Das war es, was gerade die Israeliten lernen mussten: wahre Knechte Gottes und des Herrn Jesus zu werden. Jakobus suchte für sie das, was wirklich gut für sie war. Möglichst viele von ihnen sollten Jesus als Retter annehmen.
Der Wille eines Sklaven hat keine Bedeutung. Er tut das, was sein Meister ihm sagt. Dieser Titel unterstreicht, dass der Diener das exklusive Eigentum seines Herrn ist und sich nicht mehr selbst gehört (vgl. 1. Kor 6,19.20). Damit folgt Jakobus seinem Meister. Sogar unser Herr war unter den Seinen wie der Dienende (vgl. Lk 22,27; Joh 13,15–17). Das offenbart seine Demut. Später würde Jakobus die Gläubigen ermahnen, demütig zu werden (Jak 4,6.10). Hier ist er ihnen darin ein Vorbild.
Die praktische Frage ist, ob die Empfänger bereit sein würden, von Herzen Knechte zu werden, und zwar mit einem freudigen Herzen. Ein Diener muss gehorsam sein. Wir finden in diesem Brief auch ein Gesetz, nämlich das der Freiheit (Kap. 1,25), dem der Knecht Gehorsam leistet. Aber Jakobus geht es nicht um ein Sklavendasein unter Gesetz, sondern darum, gewissermaßen in Freiheit Knecht Gottes und des Herrn Jesus zu sein.
Wenn wir diese Worte von Jakobus in ihrer praktischen Bedeutung für uns überdenken, müssen wir uns fragen: Sind wir wirklich treue Diener des Herrn, die Ihm in allen Dingen gehorchen? Übergeben wir Ihm unseren Willen in jedem Bereich unseres Lebens? Jakobus hatte eine echte Ehrfurcht vor Dem, den er früher nur als seinen Bruder angesehen hatte, der aber jetzt zu seinem Herrn geworden war. Im Unterschied zu vielen in unserer Zeit spricht er nicht einfach von „Jesus“, sondern vom „Herrn Jesus Christus“. Das wollen auch wir so halten.
Jakobus ist im Übrigen für jeden Diener des Herrn heute ein echtes Vorbild in seiner Haltung. Dabei wollen wir festhalten, dass nicht nur im öffentlichen Dienst stehende Gläubige „Diener des Herrn“ sind, sondern wir alle, die wir unserem Herrn dienen wollen. Wir sehen hier auch, dass Jakobus die Hinweise des Herrn Jesus über den Dienst eines Knechtes in Markus 10,43–45 und Johannes 12,26 verwirklichte. Er suchte nicht, Menschen zufriedenzustellen (vgl. Gal 1,10).
Der Herr Jesus Christus
Bevor wir im Einzelnen über die Merkmale des Glaubens in diesem Kapitel nachdenken, sehen wir uns die beiden Vorkommen des Namens unseres Herrn in diesem Brief an. Sowohl hier als auch in Kapitel 2,1 – und nur an diesen beiden Stellen – benutzt Jakobus den vollen Namen seines Herrn: Herr Jesus Christus. Alle drei Namen entfalten die wahre Natur seines Herrn.
- Jesus ist sein „menschlicher“ Name, der Name des Menschen, der als Baby in diese Welt geboren wurde (Mt 1,21.25). Es ist der Name, den der Engel Gabriel Maria nannte (Lk 1,31) für den, der als Mensch unter Menschen lebte und am Ende seines Lebens mit ungefähr 33 Jahren am Kreuz von Golgatha starb. Sein Name wurde Ihm somit bereits vor seiner Geburt von Gott gegeben. Jesus bedeutet übersetzt: Der Herr ist Rettung. Das ist eine wunderbare Zusammenfassung der Botschaft des Evangeliums des Mannes von Nazareth.
- Christus ist der griechische Ausdruck für Messias und König (Ps 2,2.6; Apg 4,26). Gemeint ist der Gesalbte, den Gott als seinen Repräsentanten und König hier auf dieser Erde eingesetzt hat. Für die jüdischen Empfänger war damit die Erfüllung der alttestamentlichen messianischen Verheißungen verbunden. Die ungläubigen Juden lehnen es bis heute ab, Jesus Christus mit diesen alttestamentlichen Vorhersagen in Verbindung zu bringen. Das galt auch zur Zeit von Jakobus. Für die Juden stellt das sogar Blasphemie dar: Sie werden zornig, wenn man Jesus als den von Gott geschenkten Messias bezeichnet.
Für Jakobus und die frühe Kirche enthielt der Name „Jesus Christus“ dagegen den Glauben, dass die messianische Erlösung durch den menschgewordenen Jesus bewirkt worden war. Schon die Jünger lernten Jesus während seines irdischen Dienstes unter diesem Titel kennen (Joh 1,41; Mt 16,16), und das wurde auch nach seiner Auferstehung bestätigt (Apg 2,32.36). Diese Tatsache, dass Jesus der Christus ist, wurde dann auch zum frühen christlichen Bekenntnis (Apg 2,36; 3,20; 5,42; vgl. Joh 20,30.31).
Paulus entfaltet später, dass „Christus“ auch den erhöhten, verherrlichten Herrn meint, das Haupt des Leibes der Versammlung, den Verherrlichten, mit dem wir in Ewigkeit untrennbar verbunden sein werden.
- Für die Erlösten, die alle zur Versammlung des lebendigen Gottes gehören, ist dieser auferstandene Retter zum Herrn geworden. Als Retter und Meister hat Er nun Anspruch bei den Seinen auf absolute Treue und Hingabe im Dienst aus ganzem Herzen.
Für die jüdischen Leser verband sich der Titel Herr mit seiner Gottheit. In der Septuaginta ist „Herr“ die Übersetzung des aus Sicht der Juden nicht auszusprechenden Namens Jahwe (Jahve, Jehova). Er spricht von der Souveränität und Allmacht Gottes, besonders von seiner Beziehung zu Menschen bzw. zu seinem Volk. Der Titel Herr (kyrios) kommt 14-mal in diesem Brief vor: Kapitel 1,1.7; 2,1; 3,9; 4,10.15; 5,4.7.8.10.11 (2x).14.15. Nur hier und in Kapitel 2,1 wird dieser Titel direkt mit Jesus Christus verbunden.
Die Empfänger
Jakobus schreibt an das alte Volk Gottes in seiner Gesamtheit. Dieses Zwölfstämmereich lebte nun schon lange in der Zerstreuung. Selbst die Rückkehr aus Babylon unter Serubbabel, Esra und Nehemia hatte dies nicht grundlegend geändert. Nur ein kleiner Teil war aus dem Exil zurückgekehrt. Darüber haben wir bereits in der Einleitung nachgedacht.
Jakobus schreibt an die Israeliten als jemand, der selbst Israelit ist bzw. war, der aber den Herrn jetzt in der Fülle des Auferstehungslebens kennengelernt hatte. Dadurch bekamen seine Worte eine besondere Autorität. Er spricht zu solchen, deren Väter schon unter die Nationen zerstreut worden waren und die jetzt selbst weit zerstreut lebten.
Zerstreuung
Die Zerstreuung war ein Gerichtsurteil Gottes. In 5. Mose 4,25 ff. (vgl. auch die vielen Sprachen und Mutterländer der Juden in Apg 2,9–11) hatte Gott noch vor dem Einzug des Volkes Israel in das Land angekündigt, dass Er sie wieder aus dem Land vertreiben würde, wenn sie untreu wären. Gott würde sie unter die Nationen zerstreuen. Leider wandten sie sich ständig und auf Dauer gegen Gott, führten Götzendienst ein und trieben Unzucht, so dass Gott seine Gerichtswarnungen wahrmachen musste. So wurden sie als Israeliten Zerstreute.
Das aber war nicht ihr einziges „Problem“. Weil sie Juden waren, wurden sie auch von den Heiden abgelehnt. Weil sie Judenchristen waren, wurden sie von ihren eigenen Landsleuten abgelehnt. So waren einige der Briefempfänger wie ein verachtetes und verfolgtes Häufchen. Dieser Brief deutet zudem darauf hin, dass viele unter ihnen arm waren und einige von ihnen auch noch von den Reichen unterdrückt wurden.
Wir wissen, dass schon im ersten Jahrhundert wie auch noch heute der größte Teil der Nation der Israeliten nicht in Palästina ansässig war, sondern in nichtjüdischen Territorien. Zur Zeit Jesu wohnte nur ein Drittel der Juden in Israel. Der Rest lebte irgendwo in der Zerstreuung. Zerstreuung scheint im Übrigen eine spezielle Bezeichnung für diejenigen Juden zu sein, die außerhalb Palästinas lebten (vgl. Joh 7,35).
Das sybillinische Orakel sagte im zweiten Jahrhundert von diesen zerstreuten Juden: „Jedes Land und jedes Meer ist voll von ihnen.“ Aber ich wiederhole noch einmal, weil es oft so leicht übersehen wird: Auch wenn dieser Brief zunächst an die Zerstreuten aus Israel ging, hat er auch uns viel zu sagen. Das Wort Gottes hat eine zeitlose Botschaft und Relevanz. Je besser wir den konkreten historischen Hintergrund verstehen, aus dem ein bestimmter Teil der Schrift kommt, desto besser können wir die Bedeutung des jeweiligen Abschnitts verstehen und in angemessener Weise auf unser Leben beziehen.
Die 12 Stämme
Damit kommen wir zu der interessanten Tatsache, dass sich Jakobus an alle 12 Stämme wandte. Gerade, weil sie in der Zerstreuung waren, ist es bis heute unmöglich, sie ausfindig zu machen. Das war auch damals schon nicht anders. Es wird ein Wunder sein, wenn Gott diese Zerstreuten von den vier Winden der Erde sammelt und in das Land Kanaan (Israel) zurückbringt (vgl. Mt 24,31; Jes 11,12; 66,20.21; Hes 20,34).
Der Glaube betrachtet die Dinge, wie Gott sie sieht. So sah auch Jakobus Israel noch als Ganzes vor sich, wie es in seinen früheren Beziehungen zu Gott stand. Das war immer der Blick echter Glaubensmänner. Daniel betete für das „ganze Israel“, nicht nur für Juda (Dan 9,7). Esra opferte zwölf Sündopfer „nach der Zahl der Stämme Israels“ (Esra 6,17). So spricht Jakobus hier wie ein Prophet des Alten Testaments zu dem ganzen Volk, was noch einmal eine Bestätigung des alttestamentlichen Charakters dieses Briefes ist.
Gott sieht auch das Volk Gottes heute in seiner ganzen Schönheit, trotz des traurigen Zustands (vgl. 4. Mo 24,5). Auch wir sollten die Versammlung wie Christus als Ganzes sehen (vgl. 1. Kor 12,12). Das nimmt die traurigen Parteiungen und Zersplitterungen im Blick auf das praktische Handeln nicht weg. Aber es bewahrt uns einen Blick, wie der Herr ihn hat und wie wir die Versammlung in Kürze auch in vollkommener Harmonie bei Ihm sehen werden. In diesem Sinn sollten auch wir die Versammlung immer als eine Einheit sehen, auch wenn diese äußerlich nicht mehr sichtbar ist. Aber es gibt sie für Gott und damit auch für uns.
Kennzeichen des Glaubens (1): die richtige Haltung zu Gott/dem Herrn Jesus und zum Volk Gottes (V. 1)
Bevor wir uns mit dem Gruß beschäftigen, wollen wir das erste Kennzeichen wahren Glaubens in Jakobus 1 erkennen: die richtige Haltung Gott gegenüber.
Zunächst muss man eine Beziehung zu Gott und dem Herrn Jesus haben. Das ist der grundlegende und erste Glaubensschritt, von dem zum Beispiel Paulus in Römer 3,25; 5,1 spricht. Man muss glauben, dass Gott uns Menschen verurteilen muss, weil wir Sünder sind. Unser Gericht ist der ewige Tod, die Hölle. Aber Gott hat seinen Sohn, Jesus Christus, auf diese Erde gesandt, der für unsere Sünden gestorben ist und die Strafe für die Sünden derjenigen getragen hat, die an Ihn glauben. Ihn so als Retter anzunehmen, sich zu bekehren und eine echte Sinnesänderung (Buße) im Leben vorzunehmen, ist dieser Schritt des Glaubens.
Aber damit ist der praktische Glaube, von dem Jakobus in der Regel spricht, noch nicht ausreichend beschrieben. Auch in unserem Leben als Gläubige müssen wir die richtige Perspektive im Blick auf Gott haben. Diese wird in unserem Vers dadurch beschrieben, dass Er und Jesus jeweils als unser Herr gesehen werden. Wir sind Knechte Gottes und des Herrn Jesus. Echter Glauben sieht sich somit nicht selbstbestimmt, sondern erkennt die Rechte Gottes und des Herrn Jesus über sich an. Diese Unterordnung unter seinen Willen muss in unserem Leben sichtbar werden. Das ist die Botschaft von Jakobus.
Zu der richtigen Haltung Gott gegenüber gehört auch die richtige Blickrichtung bezüglich des Volkes Gottes.
Wir haben gesehen, dass Jakobus alle zwölf Stämme ansprach und dass es für uns wichtig ist, das Volk Gottes als Einheit zu sehen. Dazu bedarf es wahren Glaubens, da diese Einheit äußerlich nicht mehr zu sehen ist. Dieser Blick aber ist wichtig und notwendig, um die „Einheit des Geistes im Band des Friedens“ (vgl. Eph 4,3) verwirklichen zu können. So ist echter Glaube durch das Bewusstsein gekennzeichnet, Knecht Gottes und Bruder unter Brüdern zu sein.
Der Gruß
Zum Abschluss des ersten Verses finden wir dann noch den Gruß von Jakobus an die Briefempfänger. In keinem anderen Brief finden wir einen derart kurzen Gruß. Es handelt sich nicht um den Gruß, den wir aus den Briefen von Paulus und den anderen Aposteln so gut kennen. Es ist vielmehr genau die Form des Grußes, die in dem bekannten Brief in Apostelgeschichte 15,23 von den Aposteln und Ältesten in Jerusalem benutzt wurde. Diese schrieben an die Versammlungen aus den Nationen, um sie vor Gesetzlichkeit zu bewahren. Vielleicht war Jakobus, wie gesagt, derjenige, der den Brief diktiert hat.
In beiden Fällen ging es um jüdische Gewohnheiten und Einrichtungen. Das Ziel des Geistes Gottes war es offenbar, für die zwölf Stämme insgesamt eine abschließende Mahnung zu geben. Er benutzt denjenigen, der vielleicht einen herausragenden Platz in der Versammlung in Jerusalem im Blick auf alle Israeliten einnahm, wo auch immer sie sich befanden. Jakobus verkündet weder in Apostelgeschichte 15 noch in diesem Brief seine private Meinung. Er sagt und schreibt das, was Gott über die verschiedenen Themen vermittelt haben wollte.
Jakobus konnte im Unterschied zu den anderen Briefschreibern des Neuen Testaments keine Gnade und keinen Frieden wünschen, weil er sich auch an Ungläubige richtete. Das taten die anderen Apostel nicht.
Das Wort für „Gruß“ kommt von einem Verb, das eigentlich bedeutet: wünschen, sich freuen, freudig sein. Der Imperativ wurde immer wieder als griechischer Gruß verwendet, wie zum Beispiel auch in Lukas 1,28 oder Matthäus 26,49 (Judas). Man könnte ihn in Jakobus 1 übersetzen mit: Jakobus wünscht zu grüßen, freut sich zu grüßen.
Keiner der anderen neutestamentlichen Briefe benutzt diese Form des Grußes. Aber wir finden ihn neben Apostelgeschichte 15,23–29 auch in dem Brief des Obersten, der als römischer Soldat rund 600 Soldaten befahl: Klaudias Lysias, in Apostelgeschichte 23,26. Übrigens spricht auch diese Form des Grußes für ein frühes Abfassungsdatum des Jakobusbriefes. Es ist gut möglich, dass Jakobus mit diesem „Gruß“ zugleich schon das Thema der Freude in Vers 2 einführen möchte, das im Griechischen dieselbe Wortwurzel hat (Freude, sich freuen).
Damit sind wir am Ende der kurzen „Einleitung“ dieses Briefes. Die Kürze lässt vermuten, dass Jakobus den Empfängern seines Briefes gut bekannt war. Er möchte sofort zum Thema kommen. Diese Kürze ist im Übrigen auch sein Stil im ganzen Brief. Das aber hat auch für uns Vorbildcharakter. Auch wir sollten uns auf das Wesentliche konzentrieren, wenn wir uns an andere wenden, gerade wenn es um geistliche Themen geht.
Kennzeichen des Glaubens (2): Ausharren (V. 2–4)
„Haltet es für lauter Freude, meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Prüfungen fallt, da ihr wisst, dass die Bewährung eures Glaubens Ausharren bewirkt. Das Ausharren aber habe ein vollkommenes Werk, damit ihr vollkommen und vollendet seid und in nichts Mangel habt.“
Wir finden im Unterschied zu den meisten anderen Briefen an dieser Stelle keinen Dank und keine weitere Einleitung in Form eines Gebets. Der Brief enthält auch keinen Hinweis auf konkrete persönliche Kontakte von Jakobus zu seinen Empfängern. Von Anfang an schreibt Jakobus sehr direkt und mit vergleichsweise zugespitzten Worten, wobei er sofort zur Sache kommt. So endet der Brief im Übrigen auch, geradezu abrupt.
In den Versen 2–4 lernen wir etwas über das Ausharren als wichtiges Kennzeichen des Glaubens. Man fragt sich, warum Jakobus unmittelbar mit diesem für unser praktisches Leben herausfordernden Thema beginnt. Aber wir können wohl annehmen, dass die Lebensrealität vieler Briefempfänger genauso aussah. Sie hatten mit vielen Prüfungen und Verfolgungen zu tun. Daher spricht Jakobus diese besondere Schwierigkeit sofort an.
In Vers 2 lernen wir, was auf uns zukommt (Prüfungen) und in welcher Haltung wir sie annehmen sollen (mit Freude). In Vers 3 fügt Jakobus hinzu, was das Ergebnis ist, wenn man diese Prüfungen aus der Hand Gottes annimmt: ausharrender Glaube. In Vers 4 spricht der Geist Gottes von dem Ziel der Prüfungen: ein praktisch vollkommenes Leben ohne Mangel.
In Vers 5 finden wir den Weg, um dieses Ziel zu erreichen: das ist die bewusst ausgedrückte Abhängigkeit von Gott. Er möchte uns Weisheit schenken. Daher gehen wir im Gebet zu Ihm. Vers 6 zeigt die falsche Art und Weise auf dem Weg der Prüfungen: Wie leicht lassen wir Zweifel und Misstrauen in unseren Herzen aufkommen. So werden wir das Ziel Gottes für unser Leben nicht erreichen. Das wird in Vers 7 deutlich: Eine falsche Haltung führt zu dem traurigen Ergebnis, dass wir nichts von dem Herrn empfangen. Gottes Urteil über einen solchen Menschen wird uns dann in Vers 8 vorgestellt. So jemand ist ein wankelmütiger, doppelherziger Mensch.
Man könnte, was die ersten drei Verse betrifft, sicher auch Folgendes sagen: Gott führt uns in den Prüfungen (V. 2) auf dem Weg des Ausharrens (V. 3) zu einem wunderbaren, vollkommenen Ziel und Ende (V. 4).
In Prüfungen fallen – und Freude haben (V. 2)
In den ersten Versen finden wir sofort das zentrale Thema des Briefes: Jakobus stellt uns die Entfaltung eines wirklich christlichen Charakters inmitten eines großen und leblosen Bekenntnisses vor. Der Apostel beginnt mit einer Ermunterung. Er ruft uns auf, uns der Versuchungen zu erfreuen. Diese sind eine Gelegenheit, das praktische Leben mit einer Haltung der Gottseligkeit zu verwirklichen. Unser Verhalten in Prüfungen lässt erkennen, ob wir wirklichen Glauben besitzen.
Wir sehen aus diesen Worten sofort, dass wir uns auf einem sehr praktischen Boden befinden. Es geht Jakobus um die Offenbarung der Gottesfurcht im Blick auf Gott und auf Menschen. Erstaunlicherweise ruft uns Jakobus auf zu jubeln, und dies in schwierigen Umständen. Er wendet sich besonders an solche, die in Gefahr standen, durch Übungen und Verfolgungen ängstlich zu werden und aufzugeben.
Prüfungen – Versuchungen (peirasmos)
An dieser Stelle müssen wir uns über die Arten von Prüfungen Gedanken machen, die wir in diesem Brief und an anderer Stelle des Wortes Gottes finden. In der Elberfelder Übersetzung (CSV) hat man versucht, eine Unterscheidung zwischen Prüfung und Versuchung zu machen. Beide Wörter sind die Übersetzung eines einzigen griechischen Wortes (peirasmos). Dieses Wort bezieht sich im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten von Prüfungen:
- Prüfungen sind schwierige Umstände von außen, die Gott erlaubt, um unseren Glauben zu prüfen (Jak 1,2.3). Die Nöte können sich auf verschiedene Bereiche unseres Lebens beziehen. Wir können persönlich betroffen sein, als Ehepaar oder als Familie. Nöte und Verfolgungen kommen aber auch in der örtlichen Versammlung vor und darüber hinaus. Es gibt gesundheitliche Probleme, wir haben es beispielsweise mit beruflichen Nöten zu tun, sogar seelische Bedrückungen kennen wir.
Es gibt Prüfungen, die deshalb entstehen, weil wir Menschen sind, Nachkommen eines in Sünde gefallenen Menschen: Krankheit, Hunger, Unfälle, Enttäuschungen, sogar augenscheinliche Tragödien. Auch Armut (vgl. Jak 1,9) gehört zu solchen Prüfungen. Andere Herausforderungen kommen, weil wir Christen sind (1. Pet 4,12). Satan kämpft gegen uns, die Welt widersteht uns, und das trägt zu einem Leben mit Kampf bei. Prüfungen sind nie dumme Zufälle oder nur Unfälle.
Im Blick auf alle diese Prüfungen verwendet sich unser Herr als Hoherpriester für die Gläubigen, damit sie in diesen Prüfungen nicht sündigen (vgl. Heb 4,15; 7,25).
- Versuchungen kommen von innen hervor, aus der in uns wohnenden Sünde (vgl. Röm 7,18.20), die uns zum Sündigen bringen möchte (vgl. Jak 1,13–15). Satan kennt unsere Schwachstellen und greift uns an, damit wir uns durch die alte Natur leiten lassen. Darin findet er einen wichtigen Bundesgenossen, genauso wie die Welt, die unter seiner Herrschaft steht.
Wenn wir in solche Versuchungen gefallen sind und gesündigt haben, dürfen wir uns bewusst machen, dass wir einen Sachwalter haben, Jesus Christus, den Gerechten (1. Joh 2,1.2). Er wird für uns tätig, wenn wir gesündigt haben, damit wir wieder zurückfinden in den Genuss der Gemeinschaft, den wir durch die Sünde verloren haben. Er bringt uns dazu, die Sünde überhaupt zu erkennen, zu bekennen und zu lassen.
Aus dieser Unterscheidung lernen wir, dass ein und dasselbe Wort, das an verschiedenen Stellen der Schrift und selbst in einem einzelnen Brief mehrfach vorkommt, nicht immer dasselbe bedeutet. Wir müssen uns immer den Zusammenhang anschauen, um zu erkennen, was dieses Wort an der jeweiligen Stelle genau bedeutet. Das ist ein Grundsatz, den wir im Blick auf das Verständnis und die Auslegung des Wortes Gottes immer im Auge behalten müssen.
Unterschiedliche Arten von Prüfungen
An dieser Stelle möchte ich noch eine zweite Unterscheidung im Blick auf die Prüfungen der ersten Art machen, also die Prüfungen von außen.
- Es gibt Prüfungen, die Gott uns vorsorglich sendet, damit wir vor einem falschen Schritt in unserem Leben bewahrt werden. Paulus in 2. Korinther 12 ist dafür ein gutes Beispiel. Ihm wurde ein Dorn für das Fleisch gegeben, damit er sich nicht überhebe.
- Es gibt Prüfungen, die mich in meinem Fehlverhalten korrigieren oder mir eine Wurzel in meinem Leben aufzeigen sollen, die böse ist. Das finden wir bei den Hebräern, die in keinem guten Zustand waren und die Gott in seiner Liebe erziehen wollte und musste (Heb 12). Wir denken auch an Hiob, der in seinem äußeren Lebenswandel vollkommen, aber innerlich leider davon überzeugt, selbstüberzeugt war (Hiob 3–42).
- Es gibt Prüfungen, die Folge eines Fehltritts sind, wie wir sie im Leben Davids wiederholt finden. Man kann an den Tod seines kleinen Kindes denken, an die Verfolgung durch Absalom. Auch das Eingehen des Apostels Paulus auf die Forderungen von Jakobus und den Ältesten, das falsch war, (Apg 21,20.26.27) war im Nachhinein mit dieser Art von Prüfung für Paulus verbunden; er geriet in Gefangenschaft.
- Es gibt Prüfungen, die Gott dazu benutzen möchte, einer anderen Person Einsicht und Umkehr zu schenken. Ein Beispiel dafür ist, dass Gott Mose anfiel, offenbar, um dessen Frau zu bewegen, endlich der Beschneidung der Söhne zuzustimmen (vgl. 2. Mo 4,24 ff.).1
- Besonders im Alten Testament gibt es (ausnahmsweise) auch Prüfungen im Leben einiger Propheten, um symbolisch Beziehungen Gottes zu seinem Volk darzustellen oder Dinge, die dem Volk begegnen würden, für die es im Leben dieser Propheten selbst keine Ursache gab.
Hesekiel wurde vorhergesagt, dass Gott seine Frau wegnehmen würde, der Prophet aber darüber nicht trauern dürfe (Hes 24,15–27). Man kann sich gut vorstellen, wie schwer diese Prüfung für den Mann Gottes war. Gott erklärt ihm, dass diese Prüfung ein Gleichnis ist für das, was dem untreuen, bösen Volk Gottes geschehen würde. Andere Beispiele dafür sind die angeordnete Hochzeit Hoseas mit einer (vermutlich späteren) Prostituierten sowie die vorgeschriebenen Namen seiner Kinder, die auch eher schmachvoll für die Namensträger waren (vgl. Hos 1,2–9; siehe auch den Namen des Sohnes Jesajas in Jesaja 8,3).
- Es gibt Prüfungen, die Gott einfach dazu benutzt, das Gold des Glaubens sichtbar zu machen. Die Prüfung Abrahams in 1. Mose 22 ist geradezu ein Paradebeispiel.
Prüfungen der ersten Kategorie (hier in den Punkten 1–5 erklärt) stehen in den Versen 1–12 vor uns. Die Versuchungen der zweiten Kategorie kommen dann in den Versen 13–15 vor uns.
In unseren Versen geht es also um von außen kommende Übungen. Sie sind in keiner Weise die furchtbaren Ungeheuer, die der Unglaube aus ihnen gerne machen möchte. Man denke an die Situation, als das Volk Israel aus der Wüste ins Land einziehen wollte und maßlos übertrieb, was die Fähigkeiten der Einwohner Kanaans betraf (4. Mo 13.14).
Für Juden
Da die Juden besonders nach den äußeren Merkmalen göttlicher Gunst Ausschau hielten, konnten sie an dauerhaften Prüfungen verzweifeln. Allerdings hätten sie schon aus den Psalmen und Propheten erkennen können, dass Leiden nicht immer Gericht Gottes über Sünden bedeuten. In Gottes Wegen der Leiden offenbarten sich auch zuvor tiefere Wahrheiten. Jakobus geht weiter als die Psalmisten. Er stellt das eigentliche Ziel der Prüfungen und Leiden vor.
Die gläubigen Juden, die den Herrn Jesus als ihren Messias angenommen hatten, machten allesamt Prüfungen durch. Der erste Petrusbrief, der an gläubige Juden geschrieben worden ist, berichtet ebenfalls über diese äußeren Prüfungen. Ihr Glaube wurde wie durch Feuer schwer erprobt (vgl. 1. Pet 1,6.7). Petrus schrieb später als Jakobus, aber auch die Empfänger des Jakobusbriefes sollten sich durch die Prüfungen nicht betrüben oder beunruhigen lassen. Im Gegenteil, sie sollten das Hineingeraten in diese Versuchungen für lauter Freude achten. Denn diese Versuchungen waren zugleich die Beweise ihrer Sohnschaft und der Liebe des Vaters zu ihnen (vgl. Heb 12,5–11) sowie der Echtheit ihres Glaubens. Sie sind Teil der Berufung des Christen (vgl. 1. Pet 2,21).
Wir sind oft so leidensscheu und meinen, dass äußerer Friede ein wichtiges Ziel sei. Schon immer war der Wunsch nach einer gewissen Art des Friedens in den Herzen der Menschen vorhanden. Satan hat das ausgenutzt, um Menschen vorzugaukeln, dass da, wo dieser äußere Friede nicht vorhanden ist, etwas nicht stimmt. Man müsse nur sein Leben ändern, dann würde sich dieses Problem der Leiden und Prüfungen sofort ändern. Nun ist das erste Jahrhundert, was Verfolgungen betrifft, nicht mit unserer Zeit in Deutschland zu vergleichen. Und doch gibt es manche Ähnlichkeiten. Mit all seinem sozialen und moralischen Verderben in der damaligen Zeit hofften viele auf eine neue und bessere Welt, aber ohne die Beachtung Gottes und seiner Aussagen wird es das nicht geben.
Diesen Gedanken nahmen sogar heidnische Autoren wie der vorchristliche Schreiber Virgil auf. In verborgener Weise schrieb er von einem kommenden Herrscher und einem goldenen Zeitalter. So unterschiedlich die Zeiten sein mögen, ist nicht genau das auch die falsche Hoffnung heute, nach der Ausschau gehalten wird angesichts der moralischen Zustände, die wir erleben? Auch in unserer Gesellschaft gibt es manche, die den Werteverfall erkennen und die Kriege leid sind. Sie warten auf das Bessere.
Tatsächlich wird der Fürst des Friedens kommen. Wenn Er aber erscheinen wird, unser Herr Jesus Christus, wird es für jeden, der Ihn nicht als Retter angenommen hat, zu spät sein. Daher möchte Gott durch Jakobus die Gläubigen jeder Zeit daran gewöhnen, dass Prüfungen und Verfolgungen bestehen bleiben bis zum Kommen des Herrn (Jak 5,8). Wir sollen nicht auf eine Besserung der Lage in unserer Zeit warten, sondern in Prüfungen Gott ehren.
Freude in Prüfungen
Trotzdem ist die Aufforderung in unserem Vers, das Fallen in Prüfungen für lauter Freude zu halten, überraschend. Wir sollen durch diese Ermahnung aufgeweckt werden. Tatsächlich tun die meisten Christen genau das Gegenteil von dem, was hier steht. Sie machen Schwierigkeiten zu einer Gelegenheit des Murrens, Beschwerens und Beklagens über ihre harten Umstände.
Aber Jakobus erinnert uns, dass Prüfungen mit Freude angenommen werden sollten. Das ist für Gott die Gelegenheit, sich selbst in mächtiger Weise zu zeigen. Er möchte uns, wenn wir die Lektion gelernt haben, aus solchen Nöten retten. Das führt dann zu einem wahrhaft siegreichen Leben. Allerdings sind wir uns bewusst, dass man darüber leichter sprechen kann, als es auszuleben.
Hier steht nicht, dass wir uns über die Prüfung als solche freuen sollen. Gott erwartet nicht, dass wir uns Prüfungen herbeiwünschen. Das wird schon durch das Wort in Prüfungen „fallen“ deutlich. Dieser Ausdruck weist darauf hin, dass diese Prüfungen ohne unseren Willen geschehen. Wir suchen die Prüfungen nicht. Wir bitten auch nicht heute um Gnade für Prüfungen, die uns noch gar nicht bekannt sind. Das werden wir dann tun, wenn wir in Erprobungen hineinkommen.
Für Freude halten
Wir haben also viel Anlass, uns in Prüfungen zu freuen. Das wird in unserem Vers durch die Aufforderung „haltet“ es für lauter Freude ausgedrückt. Halten meint einschätzen. Halten ist für uns keine wirklichkeitsferne Spekulation, sondern ein nüchternes Einschätzen, Anrechnen und Bilanzieren. Es ist das Anlegen des richtigen, nüchternen Maßstabs an diese Prüfungen. Dieser Maßstab muss durch das Wort Gottes geeicht sein.
Von einem solchen „Halten“ spricht auch Paulus in Philipper 3 dreimal (Phil 3,7.8). Wenn wir uns die Prüfungen des Lebens ansehen, müssen wir sie im Licht dessen bewerten, was Gott für uns ist und tut. Wenn wir das Materielle und das Physische höher schätzen als das Geistliche, werden wir niemals alles für lauter Freude achten können. Wenn wir nur für die Gegenwart leben und die Zukunft vergessen, werden uns die Prüfungen bitter machen und nicht glücklich.
In diesem Zusammenhang wollen wir uns bewusst machen, dass „Halten“ und Einschätzen oft nicht mit einem „Wissen“ verbunden sind. So wie in unserem Abschnitt (V. 3), kommt das Verstehen vielfach erst nach einer längeren Erprobungszeit. Aber die richtige Haltung dürfen und sollen wir von Anfang an haben, zur Ehre unseres Herrn. Gott jedenfalls wünscht das so.
Die in diesem Vers benutzte Zeitform (Aorist Imperativ) enthält das Bewusstsein einer Dringlichkeit, und zwar im Blick auf eine ganz konkrete Handlung. So wird den Gläubigen hier nicht gesagt, dass sie eine ständige „Haltung“ bewahren sollten, sondern dass sie dann, wenn eine Herausforderung auf sie zukommen würde, diese freudige Wertschätzung verwirklichen sollten. Der Heilige Geist wünschte ein solches Verhalten. Diese Haltung bedeutete, dass sie Prüfungen nicht nur akzeptieren oder für teilweise erträglich halten sollten, sondern für lauter, das heißt reine Freude. Man könnte auch übersetzen: rundherum für Freude halten. Eine andere Reaktion sollte bei einem Christen ausgeschlossen sein.
Prüfungen werden kommen
Kein Glaubender kann ein wirkliches Glaubensleben führen, ohne Schwierigkeiten zu erfahren. Wir haben diese Prüfungen sogar nötig. Kein Gläubiger kann ohne „seinen“ Dorn für das Fleisch (2. Kor 12) auskommen. Denn die Glaubenssiege werden von denen erzielt, die sich bewusst sind, dass sie keine Kraft besitzen. Gott gibt demjenigen Kraft, der sich nicht anmaßt, diese selbst zu besitzen. Solche Prüfungen werden uns helfen, unseren Eigenwillen nach und nach zu überwinden.
Zudem ist wahr, dass jeder von uns seine Last zu tragen hat, die er nicht der ganzen Welt mitteilt. Aber niemand sollte von anderen Gläubigen denken, sie hätten nichts zu tragen. Das gibt es nämlich nicht. Ein Leben der Prüfungen wird uns auf Gott werfen. Wenn wir uns allerdings gegen Prüfungen auflehnen oder entmutigen lassen, werden wir Segen verlieren. Wenn wir mit unserem Herrn leben, wird unsere erste Regung angesichts einer Prüfung sein, zu Ihm zu rufen. Gott ist ein Gott für gute und für schwierige Tage.
Der Herr Jesus hat seinen Jüngern schon gesagt, dass sie Prüfungen erwarten sollten. In der Welt hatten sie Bedrängnis (Joh 16,33). Aber da ihr Herr die Welt überwunden hatte, würden auch sie Überwinder in Ihm sein können. Paulus bestätigt das noch einmal ausdrücklich und sagt zu seinen Mitgläubigen, „dass wir durch viele Trübsale in das Reich Gottes eingehen müssen“ (Apg 14,22).
Freude und Prüfungen bei den neutestamentlichen Schreibern
Jakobus ist nicht der einzige Schreiber des Neuen Testaments, der Leiden und Prüfungen mit Freude verbindet. Der Herr hatte schon in der Bergpredigt im Blick auf Leiden gesagt: „Freut euch und frohlockt, denn euer Lohn ist groß in den Himmeln; denn ebenso haben sie die Propheten verfolgt, die vor euch waren“ (Mt 5,12). Noch ein Stück stärker wird das von Lukas wiedergegeben: „Glückselig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen und wenn sie euch ausschließen und schmähen und euren Namen als böse verwerfen um des Sohnes des Menschen willen; freut euch an jenem Tag und hüpft vor Freude, denn siehe, euer Lohn ist groß in dem Himmel“ (Lk 6,22.23).
Die Apostel verwirklichten das. Wir lesen in Apostelgeschichte 5,41, dass sie voller Freude waren, gewürdigt zu werden, für den Namen Christi Schmach zu tragen. Paulus unterstreicht diese Haltung und schreibt an die Römer: „Wir rühmen uns auch der Trübsale, da wir wissen, dass die Trübsal Ausharren bewirkt“ (Röm 5,3). So verbindet er die Trübsale wie Jakobus mit Ausharren und Bewährung.
Später bescheinigt der Schreiber des Hebräerbriefs seinen Empfängern: „Ihr habt sowohl den Gefangenen Teilnahme bewiesen als auch den Raub eurer Güter mit Freuden aufgenommen, da ihr wisst, dass ihr für euch selbst einen besseren und bleibenden Besitz habt“ (Heb 10,34). Er ermahnt sie, jetzt auch weiter auszuharren (Heb 10,35.36) mit dem Ausblick auf den Kommenden (Heb 10,37). Daher sollten sie aus Glauben leben (Heb 10,38).
Später zeigt der Schreiber, dass Prüfungen in sich selbst keine Freude darstellen, sondern Traurigkeit bewirken. „Aber danach gibt sie [die Züchtigung] die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt worden sind“ (Heb 12,11). Damit verbindet sich die Belehrung aus Psalm 84,7.8: „Wenn sie durchs Tränental gehen, machen sie es zu einem Quellenort; ja mit Segnungen bedeckt es der Frühregen. Sie gehen von Kraft zu Kraft; sie erscheinen vor Gott in Zion.“
Petrus bestätigt diesen Gedanken in 1. Petrus 4,13.14: „Insoweit ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid, freut euch, damit ihr auch in der Offenbarung seiner Herrlichkeit mit Frohlocken euch freut. Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr! Denn der Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch.“
Das Ziel und der Wert von Prüfungen
Wenn wir versuchen, diese Stellen zu ordnen, sehen wir, dass Prüfungen, während wir sie erleben, keine Freude auslösen (Heb 12). Dennoch kann man sie mit Freude erdulden (Heb 10), da der Gläubige weiß, dass er viel mehr als materielle Güter und auch physisches Leben besitzt. Er hat Christus und den Glauben an Ihn, der den Erlösten durch alle Umstände hindurchbringt. Er freut sich in dem Wissen, durch Übungen ermutigt und nicht entmutigt zu werden. Zugleich weiß der Gläubige, dass er für das Ausharren belohnt wird (Mt 5; Lk 6). Auf diese Belohnung freut er sich.
Zugleich führen Prüfungen zu geistlichem Wachstum (Röm 5). Freuen wir uns nicht, wenn der Herr uns zu Erwachsenen reifen lässt? Das ist auch der Gedanke von Jakobus. Der Schreiber des Hebräerbriefs fügt dem noch hinzu, dass wir uns in den Prüfungen, die dort Erziehungsmittel sind, stärker als sonst der Liebe des Vaters bewusst werden. Ist nicht auch dies ein Grund zur Freude? Schließlich führt die Bewährung in Prüfungen dazu, die Herrlichkeit unseres Herrn vor Menschen sichtbar zu machen. Ist das nicht wahres Glück?
Prüfungen sind also bei weitem nicht immer ein Hinweis auf göttliches Missfallen. Im Gegenteil! Nicht selten sind sie der Ausdruck seines Wohlgefallens am Leben der Seinen. Wer bekennt, Glauben an den Herrn Jesus zu haben, kann sicher sein, dass dieses Bekenntnis geprüft wird. Wie schade ist es daher, dass wir in den Stunden der Prüfung so schnell unseren Mut verlieren und verzagen. Dabei schenkt uns Gott die Gelegenheit zu erkennen, dass gerade diese Zeit geeignet ist, im Vertrauen zu unserem himmlischen Vater zu kommen. Er hat immer ein Ziel mit uns im Auge, das auf einem anderen Weg anscheinend nicht erreicht werden kann.
Von Natur aus sind wir ungeduldig und mürrisch. Selbst Christen können sich manchmal gegen die Wege Gottes auflehnen, wenn diese ihren eigenen Wünschen entgegenstehen. Wer dagegen lernt, sich Gott unterzuordnen, was auch immer Gott in seinem Leben zulässt, ehrt Ihn, der alles nach seinem eigenen Willen bestimmt.
Einander in Prüfungen helfen
Wenn wir uns für einen Augenblick einmal vorstellen, wir wären in solchen Umständen, wie würden wir reagieren, wenn uns ein Bruder eine solche Ermahnung zurufen würde? Würden wir nicht leicht beleidigt antworten? Hiob sagte zu seinen Freunden: „Leidige Tröster seid ihr alle!“ (Hiob 16,2). So jedenfalls hatte er sich Trost nicht vorgestellt.
Leider können auch wir solche leidigen Tröster sein. Wir wollen uns daher gegenseitig ermuntern, uns durch den Herrn führen zu lassen, um dann wirklich Instrumente des Segens für einen leidenden Freund sein zu können. Jemand kann sogar in einer Lage sein, in der er nicht einmal über sein Leid reden kann (vgl. Spr 14,10). Es kann Empfindungen geben, in die man den anderen nicht hineinschauen lassen möchte. Wir sollten einer solchen Seele helfen, wieder neu den Genuss der Gemeinschaft mit ihrem Herrn und damit Freude, Trost und Ermunterung zu finden. Wir sollten ihn auch ermuntern, den Kontakt mit seinen Mitgläubigen wieder zu suchen.
Am besten bringen wir in demütiger Gesinnung einer solchen Person Gott selbst. Es ist das Geheimnis jedes christlichen Dienstes: Christus bringen. Wenn wir Ihn nicht bringen wollen oder können, sollten wir lieber zu Hause bleiben und beten. Das wäre dann ein besserer Dienst. Nur der Herr kann eine Seele innerlich heilen und verbinden.
Meine Brüder
Bislang habe ich im Blick auf diese ersten Verse immer nur von Gläubigen gesprochen. Die Anrede, die Jakobus wählt, belegt, dass dies richtig ist. Es gibt im zweiten Teil des Briefes Stellen, in denen sich Jakobus direkt an Ungläubige richtet. Hier spricht er aber ausschließlich von Erlösten, denn wie sollten sich Ungläubige in Prüfungen grundsätzlich freuen können? Das ist unmöglich. Trotzdem enthalten diese Verse zugleich eine Botschaft für Ungläubige.
Mit dem Ausdruck „meine Brüder“, den wir in diesem Brief zwölfmal finden (15-mal Brüder insgesamt), richtet sich Jakobus an alle, die, der Abstammung nach, seine Volksgenossen waren (vgl. Apg 7,1; 23,1). Das sind, wie wir gesehen haben, Israeliten, aber jetzt solche, die den lebendigen Glauben an den Herrn Jesus angenommen hatten.
Es war der Glaube an den Herrn Jesus und dieser allein, der die erlösten Juden, die somit Christen geworden waren, zur damaligen Zeit von der ungläubigen Masse der Juden unterschied. Einem zufälligen Betrachter mochten alle Christen gleich erscheinen. Sie alle übten damals in Jerusalem dieselben Tempeldienste aus und gingen in dieselben Synagogen. Dennoch gab es diese tiefgehende innerliche Spaltung.
Wir haben bereits gesehen, dass nur die Minderheit an Christus glaubte, die Mehrheit dagegen verwarf Ihn. Diese Spaltung existierte bereits, als der Herr Jesus noch auf der Erde lebte: „Es entstand nun seinetwegen eine Spaltung in der Volksmenge“ (Joh 7,43). Es gab diese Zerrissenheit noch immer, als Jakobus lebte. Es waren nicht zuletzt die ungläubigen Israeliten, von denen die zum Glauben gekommenen Juden verfolgt wurden.
Jakobus liegt es nun daran, diesen inneren Glauben der Minderheit bei „seinen Brüdern“ deutlicher sichtbar zu machen. Später ermahnte der Schreiber des Hebräerbriefs diese Christen aus dem Judentum ausdrücklich, sich auch äußerlich von ihren alten Bundesgenossen zu trennen. Sonst würden sie zusammen mit diesen im Gericht Gottes umkommen, das über Jerusalem kommen sollte.
Der Ausdruck „meine Brüder“ bezieht sich also im Wesentlichen auf Brüder im Herrn, auch wenn diese früher Bundesgenossen waren. Das aber steht nach der Bekehrung nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Jakobus benutzt diese direkte Ansprache „meine Brüder“ gerne. Sie zeigte seine persönlichen Gefühle zugunsten der Leser des Briefes. Es ist schön, dass Jakobus hier die Worte des Herrn aus Matthäus 23,8 verwirklicht, dass sie einander Brüder nennen sollten. Keiner sollte Meister, Lehrer oder Vater sein wollen.
Wenn-Prüfungen und mancherlei-Prüfungen
Jakobus spricht davon, dass diese Haltung der Freude dann vorhanden sein soll, „wenn“ man in Prüfungen fällt. Dieses „wenn“ ist ein zeitliches „wenn“ und keine Ursache-Wirkung-Bedingung (wenn, dann). Mit anderen Worten: Es ist sicher, dass diese Prüfungen kommen. Es handelt sich nicht um ein „falls“. Diese Übungen kommen zu einer unerwarteten, zumindest jedenfalls unbekannten Zeit und sind unausweichlich. Und wenn dann diese Prüfungen kommen, darf uns Freude erfüllen. Damit ist kein Lachen gemeint, sondern das tiefe Vertrauen zu Gott, dass Er weiß, was Er tut und dass dies zu unserem Nutzen, ja zu unseren Gunsten ist (vgl. Röm 8,28).
Wir haben schon gesehen, dass es unterschiedliche Prüfungsarten gibt. Das wird in diesem Vers auch ausdrücklich betont. Es sind „mancherlei“, das heißt verschiedenartige Prüfungen. Die Prüfungen des Lebens sind nicht alle gleich: Jemand hat einmal gesagt, sie sind wie bunt gefärbtes Garn, das der Weber benutzt, um einen schönen Teppich herzustellen. Wir sehen diesen Teppich oft nur von unten. Aber Gott ruft uns an dieser und den genannten anderen Stellen auf, einmal gewissermaßen von Gottes Seite aus, diesen Teppich zu betrachten. Gott ordnet und mischt die Farben und Erfahrungen des Lebens. Das Endprodukt ist etwas Wunderbares, ein herrlicher Teppich unseres Glaubenslebens, und zwar zur Verherrlichung Gottes.
Wir finden in diesem Vers das Gegenstück zu den Glückseligpreisungen der Bergpredigt in Matthäus 5,1–12 und Lukas 6,20–23. In seinen Augen sind diejenigen gesegnet, die in dieser Welt nichts wert sind und um der Gerechtigkeit willen und für Christus leiden. Sie werden aufgerufen, sich zu freuen und sogar zu frohlocken. Ihr Lohn ist groß in den Himmeln. Gott wirkt in dieser Welt der Sünde und des Ruins nicht nur in Gnade, sondern führt eine Zucht der Seelen aus und benutzt alle Arten von Prüfungen zum Segen der Seinen. Aber nicht nur das, sie sind zugleich ein Mittel in seiner Hand, um uns durch diese Welt zu führen.
Wir dürfen auch die Gnade Gottes nicht aus den Augen verlieren. Jede Erprobung wirft uns auf Ihn. Es fällt kein Spatz auf den Boden ohne Gott (Mt 10,29). Er hat sogar die Haare unseres Kopfes gezählt. Alles ist in seiner Hand, der uns für seine Herrlichkeit bestimmt hat. Der Glaube wird hier auf der Erde geprüft, damit wir Ausharren zu seiner Verherrlichung lernen.
Bewährung des Glaubens: Ausharren (V. 3)
Schon in Vers 3 finden wir den Glauben das erste Mal in diesem Brief erwähnt. Insgesamt kommt er 16-mal in diesem kurzen Brief vor. Das zeigt, dass dieser Begriff für diesen Brief und auch für das christliche Leben zentral ist. Jakobus geht es darum, dass der christliche Glaube mehr ist als ein reines Bekenntnis. Glaube ist aus der Sicht Gottes eine solch wichtige Sache für die Kinder Gottes, dass er geprüft wird. Der Gläubige soll erweisen, dass in seinem Leben wirklich Glaube vorhanden ist. Dieses Vertrauen muss bei uns Gläubigen, die wir noch die alte Natur in uns tragen, gereinigt und gestärkt werden.
Jakobus setzt das Vorhandensein des Glaubens bei denen voraus, an die er sich richtet. Dieser Glaube war in den von neuem geborenen Juden vorhanden, ehe sie an Jesus glaubten. Denn neues Leben gibt es nicht erst für neutestamentlich Gläubige. Auch Abraham und die vielen alttestamentlich Gläubigen besaßen diesen Glauben. Jetzt wurde jedoch eine höhere Art des Glaubens hinzugefügt. Denn der Glaube an und in Verbindung mit Christus ist etwas Besonderes.
Paulus erkannte den Glauben von Lois und Eunike an (vgl. 2. Tim 1,5) und stellte den Glauben von Timotheus dem Glauben dieser Frauen gleich. Es ist die gleiche Art von Glauben. Und doch geht der christliche Glaube weiter und ist durch mehr Einsicht geprägt.
Jakobus geht es nicht so sehr um die besondere, christliche Art des Glaubens. Er setzt diese allerdings voraus. Sein Thema ist die Lebenspraxis. Prüfungen stärken den Glauben und leiten ihn an, auf Gott mit Ausharren zu vertrauen. Erprobungen sind also ein Instrument in der Hand Gottes, um unseren Glauben und unser Ausharren zu stärken.
Wenn sich der Glaube bewährt, bewirkt er Ausharren. Das sehen wir im Fall von Abraham. Gott prüfte ihn, indem Er seinen Glauben auf die Probe stellte (vgl. 1. Mo 22). Und das half Abraham, ein Leben im Ausharren und Warten auf Gott zu führen.
Gott prüfte auch die Judenchristen, indem Er bei ihnen Verfolgungen zuließ. Gott erlaubte diese Drangsal zu ihrer Läuterung. Ausharren ist dann die Folge in Prüfungen, wenn man selbst keinen anderen Ausweg hat, als auf Gottes Hilfe zu warten, und das auch geduldig tut.
Das Ziel von Prüfungen
Die Prüfung hat also das Ziel, Ausharren zu bewirken. Dieses hat damit zu tun, dass der Eigenwille überwunden, ja letztlich gebrochen wird. Die alte Natur steht grundsätzlich im Widerspruch zum Willen Gottes. Wenn sie handelt, behindert sie uns, auf den Wegen Christi zu gehen.
Damit sind wir bei unserem großen Vorbild. Unser Herr Jesus Christus hat diese Art von Prüfungen lebenslang durchgemacht. Er kam nicht in Übungen, um Ausharren zu lernen, sondern um es zu offenbaren. Darin hinterließ Er uns ein Beispiel. Seine Speise war es, den Willen des Vaters zu tun und seinen Ratschluss auszuführen (vgl. Joh 4,34), auch wenn das ein Maß von Leiden für Ihn bedeutete, dass wir nicht erahnen können. Er erduldete das Kreuz um der vor Ihm liegenden Freude willen (Heb 12,2).
Als Christus durch sein Volk verworfen wurde und deshalb die Städte schelten musste, welche die meisten seiner Wunderwerke erlebt hatten, konnte Er in unfassbarer Sanftmut und mit Ausharren sagen: „Ich preise dich, Vater …“ (Mt 11,25). Er wartete ständig auf seinen Gott (Ps 40,2). Mit anderen Worten: Bei Ihm gab es keinen Eigenwillen, sondern nur einen Willen, der sich freiwillig und gerne dem aussetzte, was der Vater wollte.
Wir wollen von unserem Meister ganz praktisch lernen auszuharren. Wir sollten die Prüfungen für lauter Freude achten, damit sich der Glaube im Ausharren bewähren kann. Der Wille des Menschen lernt dadurch zu warten, bis Gott wirkt. So fühlen wir, dass wir von Gott abhängig sind. Wir wünschen oft, und das in guter Absicht, dass das Werk der Erprobung schneller vorangeht und vor allem, dass die Schwierigkeiten verschwinden und wir von der Verfolgung befreit werden. Doch der Wille Gottes ist gut, weise und vollkommen. Und er ist oft ganz anders als unsere Vorstellungen und Wünsche.
Wohl uns, wenn wir uns diesem Willen ausliefern. Dazu bedarf es der Kraft. Diese finden wir besonders in Kolosser 1,11 vorgestellt. Wenn sich auch der Charakter der einzelnen Schriften des Neuen Testaments voneinander unterscheidet, so zeigen diese Übereinstimmungen, dass der eine Geist sie alle hervorgebracht hat. Wer bereit ist, in dieser Kraft in Prüfungen auszuharren, wird bestätigen, dass diese für uns und nicht gegen uns arbeiten (vgl. Röm 8,28). Zugleich verstehen wir dann, dass Erprobungen ein Ergebnis in der Ewigkeit bewirken, das wir kaum für vorstellbar halten (vgl. 2. Kor 4,17).
Diese Kraft wird allerdings nur dann in uns wirksam, wenn wir uns Gott wirklich ausliefern und die Energie nicht in uns selbst suchen. Es ist die Gnade des Herrn, die es uns schenkt, seine Kraft in Schwachheit zu verwirklichen (vgl. 2. Kor 12,9.10). Dann kann man sogar Wohlgefallen an Schwachheiten und Nöten und Verfolgungen haben. „Denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.“
Ausharren
Ausharren ist eines der zentralen Themen dieses Briefes (1,2–4; 5,7.10.11). Von Beginn der Kirchengeschichte an kannten die Christen Verfolgungen, in denen sie ausharren mussten (vgl. Apg 4,3.21; 5,17.18; 33–42; 7,57–59; 9,1.2; 11,19; 12,1–3; 13,50; 14,19; 16,19–40; 17,5–9; 18,17; 21,27–36; Phil 1,29.30; 1. Thes 2,1.2.14–16; 3,1–7; 2. Thes 1,4–7; Heb 10,32–34; usw.). Jakobus wünscht nun, dass die Gläubigen bereit sind, entsprechende Verfolgungen als Prüfungen aus der Hand Gottes anzunehmen und darin auszuharren.
Dieses Ausharren bezieht sich auf viele Bereiche unseres Lebens. Gott will beispielsweise auch, dass wir in unserem Dienst ausharren. Paulus ist uns darin ein Vorbild, indem er in vielem Ausharren treu blieb (vgl. 2. Kor 6,4). Wir sind uns sicher bewusst, dass es sich im Blick auf Geduld um eine eher seltene Tugend handelt, die aber umso wertvoller für Gott ist. Es handelt sich nicht um eine natürliche Charaktereigenschaft, sondern um die Gesinnung und Handlungsweise Jesu, die wir auch in diesem praktischen Punkt nachahmen sollen.
Es geht auch nicht darum, sich in Schwierigkeiten, zum Beispiel in der Familie oder in der Versammlung, dadurch als geduldig zu erweisen, dass man sich eines Problems einfach nicht annimmt. Das ist kein Ausharren, sondern Egoismus und kann sogar innere Härte oder Härte des Herzens sein.
Eine Prüfung wird den natürlichen Menschen ungeduldig machen. Unreife Menschen werden früher oder später immer ungeduldig. Das ist unabhängig davon wahr, ob sie gläubig sind oder nicht. Reife Christen sind dagegen geduldig und beharrlich. Wir wissen auch, dass Ungeduld und Unglaube gewöhnlich zusammengehen, so wie Glaube und Geduld es auch tun (vgl. Heb 6,12; 10,36).
Wer ausharrt, hat Gott auf seiner Seite und vertraut auf Ihn, der Gesänge gibt in der Nacht (vgl. Hiob 35,9.10). Während unseres ganzen Lebens sind wir als Christen in der moralischen Nacht der letzten Tage. Natürlich leben wir als Erlöste im Licht Gottes, in das uns das Werk des Herrn versetzt hat. Aber diese Welt, in der wir uns aufhalten müssen, steht unter der Herrschaft Satans. Sie ist moralisch finster. Wenn wir unser Leben immer mit Gott führen würden, wären wir auch immer friedevoll und geduldig, selbst wenn wir weinen müssen.
Ausharren – schon im Alten Testament gekannt
Ein schönes Vorbild dieses Ausharrens finden wir bei den Thessalonichern, deren Ausharren sogar weithin bekannt war (vgl. 2. Thes 1,4). Das Wort, das auch Jakobus für Ausharren verwendet, heißt wörtlich übersetzt „darunterbleiben“. Es ist also eine Gesinnung, die nicht gegen die schwierigen Umstände rebelliert, sondern Gottes Handeln annimmt, auch wenn es schwer ist.
Dabei erkennen wir auch bei diesem Thema, dass schon die alttestamentlich Gläubigen solch ein Ausharren kannten. Bereits in dieser Zeit wusste man schon, dass nur die Bewährung echte Früchte bringt (Spr 27,21). Bewährung ist das, was im Feuer der Prüfung Bestand hat. Erst hier scheidet sich echter Glaube von unechtem. Erst hier kommt es zu einer Frucht, die es sonst nirgendwo gibt: zum Ausharren. In guten Tagen lernen wir dieses nicht, wohl aber in Prüfungen.
Dass es sich eigentlich um eine Frucht handelt, die es auch schon im Alten Testament gab, wird noch aus drei Versen aus dem Buch der Psalmen deutlich. David konnte sagen: „Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung“ (Ps 62,2). Der gleiche Mann sagte voller Vertrauen: „Denn er wird mich bergen in seiner Hütte am Tag des Unglücks, er wird mich verbergen im Verborgenen seines Zeltes; auf einen Felsen wird er mich erhöhen“ (Ps 27,5). Und schließlich ermuntern sich die Söhne Korahs: „Was beugst du dich nieder, meine Seele, und was bist du unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihn noch preisen, der die Rettung meines Angesichts und mein Gott ist“ (Ps 42,12).
Gott sucht bei uns ein standhaftes Ausharren. Das ist damit verbunden, dass man aus den Belastungen nicht ausbrechen will. Ein solch tragender Christ kann man nur in der Schule Gottes werden. Heute sucht man solche Christen dringend. Christen, die man ertragen muss, gibt es genug.
Es darf für uns eine Freude sein, in der Endzeit zu leben. Sie bietet für den Glauben besondere Gelegenheiten, in praktischer Gottesfurcht den Dienst für den Herrn mit Ausharren auszuführen. Prüfungen sind und bleiben schwierig. In dieser Hinsicht sollten wir uns keiner Illusion hingeben. Doch das Schwierigste ist, dass Erprobungen oft lange dauern. Darum brauchen wir Ausharren.
Wie gut, dass wir nicht blind und unwissend in diese Glaubensprüfungen gehen müssen. Auch die Empfänger des Jakobusbriefs wussten und waren sich dessen bewusst, dass Gott dieses Ziel des Ausharrens mit Prüfungen verband. Dieses Wissen aber war nicht theoretischer Art, sondern basierte auf ganz konkreten persönlichen Erfahrungen.
Das Ausharren soll ein vollkommenes Werk haben (V. 4)
Der Apostel wünscht, dass das Ausharren ein vollkommenes Werk hat. Damit das so ist, muss der Gläubige standhaft und in Geduld ausharren. Nur so wird er vollkommen und vollendet sein und in nichts Mangel haben. Auf diesem Weg wird unser Eigenwille überwunden, der uns und besonders Gott so oft im Weg steht. Wenn wir seine Wege geduldig annehmen, nehmen wir auch seinen Willen von Herzen an. Uns allen dürfte klar sein, dass sein Wille dazu führt, dass uns nichts im Blick auf unser praktisches Leben und auch im Blick auf unsere seelischen Bedürfnisse fehlen wird. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, konnte schon David sagen (Ps 23,1). Der Gläubige mag zu leiden haben, mancher sogar sehr viel. Aber dann, wenn wir geduldig auf den Herrn harren, werden wir geistlich erwachsen. Gottes Wort sagt das so.
Christus war immer vollkommen und musste in einem Sinn nicht erwachsen werden. Und doch gibt es zu seiner Entwicklung als Mensch ein bemerkenswertes Wort: Er nahm zu, wie wir im Lukasevangelium lesen (vgl. Lk 2,52). Im Gegensatz zu uns musste bei Ihm nie etwas korrigiert werden, um es vollkommener zu machen. Er war in jedem Alter vollkommen, aber eben gemäß seinem menschlichen Alter. Und in dieser Hinsicht gab es Wachstum.
Ein Aspekt der Vollkommenheit unseres Herrn bestand darin, dass Er in allen Prüfungen ausgeharrt hat. Er wartete auf den Willen Gottes und tat nie seinen eigenen. Wir lesen sogar, dass Er nicht einmal einen Schritt ohne konkreten Auftrag seines Vaters tat (vgl. Mt 4,4). So war Er in seinem Gehorsam vollkommen. Er erwies sich als ein Mensch, der nicht nur jeder Prüfung ausgesetzt wurde, sondern in allen diesen Proben Überwinder war.
Christus und das vollkommene Werk des Ausharrens
Bei dem Herrn hatte das Ausharren also in jeder Hinsicht ein vollkommenes Werk. Manchmal denken wir, dass Er das Elend, durch das Er in dieser Welt ging, aufgrund seiner Vollkommenheit vielleicht gar nicht so tief empfunden hätte. Aber das Gegenteil ist der Fall. Er empfand alles wegen seiner vollkommenen Empfindsamkeit so tief, weit tiefer als wir, dass wir Ihn immer wieder innerlich bewegt, erschüttert oder sogar Tränen vergießend antreffen.
Unser Retter weinte über Jerusalem (vgl. Lk 19,41), diese widerspenstige Stadt, und wir sehen Ihn in ähnlicher Erschütterung, als Er ansehen musste, wie die Macht des Todes die Herzen seiner Freunde in Bethanien beschwerte (vgl. Joh 11,33–36). In seiner Geduld zeigte Er sich vollkommen, nachdem man Ihn als einen „Fresser und Weinsäufer“ verspottet hatte (Mt 11,19) und Er darauf Chorazin, Bethsaida und Kapernaum schelten musste. In seiner Geduld sagte Er: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast“ (Mt 11,25). Er dankte zur gleichen Zeit, als Er schelten musste. Alles nahm Er in Sanftmut aus der Hand seines Vaters an.
Ähnliches lesen wir in Johannes 12. Auch wenn die Menschen die Ehre bei den Menschen mehr liebten als die Ehre bei Gott (V. 43), bot Er weiter das Heil des Glaubens an (ab Vers 44). In beiden Fällen sehen wir also, dass Er sich dem Willen seines Vaters vollkommen unterwarf, egal, wie schwierig die Umstände waren. So ist uns der Herr Jesus gerade in seinen Leiden das vollkommene Vorbild. „Beharrlich habe ich auf den Herrn geharrt, und er hat sich zu mir geneigt und mein Schreien gehört“ (Ps 40,1). Wir schauen hin „auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete“ (Heb 12,2).
Jakobus stellt uns somit den Weg vor, auf dem Gott in seinen Kindern ein wirklich schönes Leben entfalten möchte. Er wünscht, dass bei uns keine christliche Eigenschaft fehlt. In uns Christen kommt die Schönheit und Vielfalt dieses Lebens gerade durch Übungen und Leiden zum Vorschein, wenn wir bereit sind auszuharren.
Kennzeichen des Erwachsenen
Wenn das Ausharren ein vollkommenes Werk in uns vollbringt, führt das zu einem ausgeglichenen Christenleben. Wir ahmen unseren Meister nach und ordnen unseren eigenen Willen dem Willen Gottes unter. Wir übergeben uns ganz unserem Gott und Vater, der weiß, was Er uns wann schicken kann und was zu unserem Guten dient. Er will uns lehren, dass wir ohne Gott überhaupt nichts tun können.
Wenn das Ausharren sein vollkommenes Werk bewirkt hat, nimmt die Seele alles an, was Gott zulässt. Man kommt dahin, mit Ausdauer auf den Herrn zu warten. Man kann an die Worte Jeremias denken: „Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des Herrn“ (Klgl 3,26).
Gott arbeitet also an und in uns, damit wir diesem Ausharren unseres Retters, ja Christus selbst, ähnlicher werden. Dazu benutzt Er Prüfungen, wenn und wann Er es für notwendig und nützlich erachtet. Wir dürfen uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass der Herr barmherzig und voll innigen Mitgefühls ist (Jak 5,11). Das Ziel Gottes in den Übungen ist es, uns am Ende Gutes zu tun (5. Mo 8,16). Jakobus verbindet gleich mehrere Ziele mit diesen Prüfungen:
- Freude (V. 2)
- Bewährung (V. 3)
- Ausharren (V. 3)
- Geistliche Reife (V. 4)
- Praktische Vollendung (V. 4)
- Praktisches Vollmaß (V. 4)
Bei allen Erprobungen sollten wir uns bewusst bleiben, dass wir Gegenstände der göttlichen Liebe sind (Röm 8,35–39). Paulus hat das in besonderer Weise vorgelebt (vgl. 2. Kor 12,7–10) und führt uns damit zum vollkommenen Vorbild, unserem Herrn. Der Apostel hat den Dorn für das Fleisch angenommen und nach einem dreimaligen Gebet nicht dagegen aufbegehrt, so dass er die Kraft Christi und die Gnade Gottes kennenlernen konnte. Wenn wir doch dieselbe Erfahrung machen könnten!
Wenn wir so in der Gnade des Ausharrens wachsen und keinen Widerstand mehr gegen den Willen Gottes entwickeln, verdient unser Leben die Auszeichnung „christlich“. Wir werden erwachsen und suchen nicht mehr das, was Gott uns in seiner Weisheit gerade nicht geben möchte. Das ist ein gewaltiger Sieg. Um diesen zu erlangen, bedarf es einer Weisheit, die nicht von menschlicher Art ist. Gott möchte sie uns als Antwort auf unsere Gebete schenken. Darauf kommen wir im nächsten Vers zurück.
Vollkommen – erwachsen
Das Wort „vollkommen“ (gr. teleios) spricht nicht von einer vollkommenen Sündlosigkeit. Es geht bei Jakobus vielmehr um ein praktisches Werk vollkommener Geduld, um ein Ausharren bis ans Ende. Vollkommen zu sein bedeutet in diesem Zusammenhang, erwachsen und entwickelt zu sein. Vollendet bedeutet, gesund und in jeder Hinsicht vollständig zu sein. Gott wünscht Erwachsensein und Vollständigkeit in unserem Glaubensleben. „Vollkommen“ gehört zu den Ausdrücken in Gottes Wort, unter denen nicht immer dasselbe verstanden wird.
Manchmal werden die Gläubigen als „vollkommen“ bezeichnet, weil sie in ihrer Stellung vor Gott durch das Werk Christi, das man gewissermaßen anschauen kann, vollkommen gemacht worden sind. Dann spricht man von der objektiven (als Objekt ansehen) bzw. absoluten Seite. Mitunter wird „vollkommen“ auf uns Gläubige in unserem persönlichen Leben bezogen. Dann spricht man von der subjektiven Seite, die verschiedene praktische Zustände miteinander vergleicht. Jakobus verwendet diesen Ausdruck in dem letztgenannten Sinn. Er meint eine geistliche Reife, ein Erwachsensein.
- „Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 10,14). Diese objektive, unantastbare Vollkommenheit gilt jedem, der Jesus Christus als Retter angenommen hat.
- Nach Philipper 3,12 gilt man dann als vollendet, wenn man den Himmel erreicht hat. Auch diese Vollkommenheit ist absolut und unangreifbar und trifft auf jeden bekehrten Christen zu.
- Es gibt aber auch eine geistliche Reife, ein Erwachsensein wie in Philipper 3,15 und Jakobus 1,4. Diese Reife ist nicht absolut. Aber im Vergleich zu anderen steht hier jemand auf dem Boden der ganzen christlichen Wahrheit und kennt Jesus nicht nur als Retter. Der Gläubige weiß, dass alles für ihn gut gemacht ist. Es gibt für ihn keine Verdammnis, weil er in Christus bewahrt und geschützt ist (Röm 8,1).
Erwachsen sein
Jakobus spricht hier von der dritten Art der Vollkommenheit, dem Erwachsensein. Damit das Ausharren diese Stufe erreichen kann, muss man dauerhaft ausharren. Dieses Wort leitet sich von dem Gedanken ab, dass man beständig bereit ist, „darunterzubleiben“, nämlich sich unter die Hand Gottes zu beugen, unter den Umständen zu bleiben, ohne aufzubegehren (1. Pet 5,6.7).
Dazu bedarf es, wie wir gesehen haben, echter Kraft (vgl. Kol 1,11). Der Christ hat in diesen Umständen nötig, mit aller Kraft nach der Macht der Herrlichkeit Gottes gekräftigt zu werden. Nur so wird er auf den Ausgang warten, den Gott geben will, und das mit Freude. Er ist sich bewusst, dass alles aus der Hand Gottes kommt. Das Bewusstsein, dass es um den göttlichen Willen und nicht um unseren geht, stärkt unser Herz. Wenn Paulus in 2. Korinther 12,12 die Zeichen eines Apostels aufzählt, nennt er dort erstaunlicherweise zuerst das Ausharren. In Römer 5,2–5 zeigt uns Paulus das gesegnete Ergebnis dieses Ausharrens in den Versuchungen.
Das Ausharren muss ein dauerhaftes Werk sein und darf nicht nur kurze Zeit andauern. Es ist nur dann mit einem vollkommenen Werk verbunden. Dann sind wir in Übereinstimmung mit seinen Gedanken und in diesem Sinn „vollkommen“, erwachsen. Die Folge ist, dass wir in nichts Mangel haben, weil unsere Seele ganz zur Ruhe gekommen ist. Gott konnte durch die Prüfung sein Ziel mit uns erreichen. Ist in diesem Zusammenhang nicht auch das Wort von David, der durch viele Übungen gehen musste, von Bedeutung? „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“ (Ps 23,1). Das war seine Erfahrung und zugleich seine sichere, feste Erwartung für die Zukunft.
Ausharren und Leiden
Ausharren und Leiden sind eng miteinander verbunden. Durch die Leiden werden wir vom eigenen Ich und den sichtbaren Dingen gelöst, damit der Glaube sich an einem Gegenstand festklammern kann. Dieser „Gegenstand“ ist Christus, unser Herr. Der wahre Glaube wird in solchen Erprobungen gestärkt, denn er kommt von Gott.
Wenn allerdings kein Glaube vorhanden ist, wird letztlich alles zerstört. Das sieht man sehr gut in dem Gleichnis vom Sämann. Der Same, der auf das Steinige fiel (Mt 13,5), verbrannte. Die Sonne der Prüfungen vernichtete selbst das, was vorhanden zu sein schien (Mt 13,21). Das Wort wurde zwar mit Freuden aufgenommen, hatte aber im Gewissen nichts bewirkt.
So scheint es manchmal zunächst zwar positive Folgen zu geben, die jedoch nur einen Augenblick andauern. Im Gegensatz dazu wird die Freude bei einem Kind Gottes gerade im Verlauf von Prüfungen vermehrt, so dass wir uns der Trübsale sogar rühmen können. Diese Freude in der Seele wird durch den Genuss der Liebe Gottes gestützt und bewahrt. Dazu aber ist es nötig, dass das Ausharren ein vollkommenes Werk hat. Sonst wacht der Eigenwille wieder auf, und das Vertrauen auf uns selbst wächst, statt dass wir uns auf Gott stützen.
Ein unvollkommenes Werk
Das Gegenteil eines vollkommenen Werkes sehen wir in Saul (1. Sam 13,8–10). Israel war in großer Bedrängnis. Aber Samuel hatte gesagt, dass er selbst nach sieben Tagen nach Gilgal kommen würde. In den Prüfungen und trotz des Zitterns des Volkes wartete Saul zwar lange, sogar bis zum vereinbarten Tag. Allerdings hatte er nicht die Kraft, bis zum Kommen Samuels zu warten. So hatte das Ausharren bei ihm kein vollkommenes Werk.
Immer wieder finden wir in Sauls Leben das Problem, dass gute Anfänge vorhanden zu sein schienen. Was ihm fehlte, war Ausharren und bewusstes Vertrauen auf Gott, von denen Jakobus sagt, dass sie zu einem vollkommenen Werk führen.
David
Nun mag man einwenden, dass er ja kein Gläubiger war. Aber wie war es bei David (1. Sam 27–29)? Er musste durch für die meisten von uns unvorstellbare Prüfungen hindurch. Wir wollen keineswegs gering darüber denken. Nachdem er diese Bedrängnisse eine lange Zeit erduldet hatte, war sein Ausharren doch zu Ende, so dass er sagte: „Nun werde ich eines Tages durch die Hand Sauls umkommen; mir ist nichts besser, als dass ich schnell in das Land der Philister entkomme, und Saul wird von mir ablassen, mich weiterhin im ganzen Gebiet Israels zu suchen; und ich werde aus seiner Hand entkommen“ (1. Sam 27,1).
Daraufhin begab er sich zu Achis, dem König der Philister. Damit war die äußere Drangsal vorbei. Scheinbar hatte er Erfolg. Aber was muss in seinem Inneren für eine Unruhe gewesen sein! Wir können die Reaktion Davids menschlich gut verstehen und handeln leider in viel einfacheren Situationen genauso wie er. Vielleicht haben auch wir mit solchen Entscheidungen manchmal scheinbaren Erfolg. Aber es ist ein falscher Weg.
Wahres Ausharren versucht nicht, den Prüfungen zu entgehen, sondern in ihnen auszuharren. Wenn dieses Ausharren noch nicht bei uns bewirkt hat, dass wir auf den Herrn der Herrlichkeit sehen, um ganz zur Freude für Gott zu leben, haben die Versuchungen noch nicht ein vollkommenes Werk bei uns bewirken können. Andererseits wissen wir, dass die Versuchungen während des ganzen Lebens fortdauern werden. Wir brauchen also Ausharren, bis wir das Ziel erreicht haben.
Abjathar
Dass es tatsächlich darum geht, bis ans Ende auszuharren, wird beim vielleicht tragischsten Beispiel eines Mannes Gottes in Gottes Wort, was dieses Thema betrifft, deutlich. Er war sehr treu im Ausharren, aber nicht bis zum Ende. Es fehlte ihm nur noch ein kleines Stück, um dieses vollkommene Werk des Ausharrens zu besitzen. Durch sein Versagen ist er jedoch leider tief gefallen.
Es geht um Abjathar, den Priestersohn, der zum Hohenpriester wurde. Das erste Mal lesen wir in 1. Samuel 22 von ihm. Saul hatte auf den Verrat des bösen Doeg hin den Hohenpriester Ahimelech umbringen lassen samt der ganzen Priesterschaft. Abjathar allerdings, der Sohn Ahimelechs, konnte zu David fliehen. So teilte er die Verwerfung und Verfolgungen seines „Meisters“, des kommenden Königs, über Jahre hinweg.
Nach 2. Samuel 8,17 war er zusammen mit Zadok Hoherpriester. Als David später von seinem Sohn Absalom hintergangen und verfolgt wurde, verharrten beide auf der Seite ihres Königs. Obwohl sich viele Absalom zuwandten und es so aussah, als dass dieser David einen vernichtenden und tödlichen Schlag bereiten könne, blieben sie treu.
So stand dieser Mann Gottes über viele Jahre hinweg treu an der Seite Davids. Am Ende dessen Lebens dann wollte sich Adonija, einer der Söhne Davids, zum König ausrufen. Es war sein Plan, auf diese Weise Salomo als Thronfolger zu verhindern und selbst das Königtum an sich zu reißen. Und hier auf einmal folgt Abjathar nicht den Wegen Gottes (vgl. 1. Kön 1,7).
Während David kurz vor seinem Tod ein Urteil über böse Menschen in seinem Umfeld spricht, tut er es nicht über diesen treuen Mann. Und doch muss Salomo ihn aus dem Priesteramt verstoßen, weil er am Ende untreu gewesen war (vgl. 1. Kön 2,26.27). Wie tragisch, dass ein treues Leben so traurig zu Ende ging.
Abraham und Mose
Man könnte mit Beispielen, wie Abraham und Sara im Blick auf ihren Kinderwunsch, fortfahren. Was für eine Prüfung Gottes, ihnen zunächst keine Kinder zu schenken, das heißt über einen Zeitraum von Jahrzehnten! Irgendwann wurde es Sara zu viel, und auch Abraham willigte in einen eigenwilligen Weg ein (vgl. 1. Mo 16). So war die äußerliche Prüfung zunächst vorbei. Dafür begannen die inneren.
Mose wartete rund 80 Jahre auf Gottes Fingerzeig, das Volk anzuführen und erreichte doch nicht das ersehnte Land. Zum Schluss fehlte ihm die Vollendung, weil er den Felsen schlug, statt mit ihm zu reden.
Der eine Vollkommene
Wir lernen daraus: Nur einer war vollkommen, allein Christus. Er führte alles bis zu Ende. Das galt sogar, als es sein Leben, ja sogar sein höchstes Gut, die Gemeinschaft mit seinem Gott kostete. Im Gegensatz zu uns musste bei Ihm kein Eigenwille entwurzelt werden. Er hatte keinen. Wir lesen von Ihm: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat (und wegen seiner Frömmigkeit erhört worden ist), obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam lernte; und, vollendet worden, ist er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden“ (Heb 5,7–9).
Bei uns dagegen hat Ausharren ein vollkommenes Werk, wenn wir unseren eigenen Willen richten und auf den von Gott warten. Nur so werden wir vollkommen sein und keinen Mangel haben.
Diese Aussage steht nicht im Gegensatz zu Jakobus 3,2: „Denn wir alle straucheln oft.“ Dort hat Jakobus eine andere Blickrichtung auf unser Leben. Er beschreibt die traurige Realität unseres Lebens. In Jakobus 1 dagegen zeigt der Schreiber das Ziel Gottes für unser Leben. Es geht ihm um ein Leben in praktischer Vollkommenheit, das heißt in einem praktischen Erwachsensein.
Gläubige als Vorbilder
In dieser Beziehung darf man auch schöne Beispiele in der Schrift nennen. Joseph musste 13 Jahre tiefe Übungen und Prüfungen durchleben, bevor sein Gott ihn erhöhte und ihm eine wunderbare Belohnung gab (vgl. Jak 1,12). Auch Daniel und seine drei Freunde warteten in wunderbarer Hingabe auf ihren Gott und wurden dadurch reich belohnt (vgl. Dan 3,17.18.27.28; Dan 6).
Gehören zu diesen Glaubensvorbildern nicht auch Amram und Jokebed, die in einer furchtbaren Zeit, in der sie erwarten mussten, dass ihre Söhne ermordet würden, dennoch den Mut besaßen, Kinder zu zeugen (vgl. 2. Mo 2,1 ff.)? Und sie harrten aus.
Praktische Erfahrungen lehren uns, wie man Ausharren lernt und dadurch ein vollkommenes Werk bewirkt. Das richtige Bibelstudium hilft uns dabei. Es macht uns innerlich frei, auf Gott zu warten und im Glauben auszuharren. Denn darum sind uns in der Schrift positive und negative Beispiele aufgeschrieben worden (Röm 15,4).
Jakobus‘ Sprache
Jakobus benutzt schon in diesen ersten Versen eine sehr kraftvolle Sprache: „vollkommen“, „vollendet“, „in nichts Mangel haben“. Im Licht dieser Worte können wir voller Überzeugung sagen, dass Prüfungen in unserer geistlichen Erziehung eine wichtige Rolle spielen. Sie sind damit in Gottes Schule ein Lehrmeister, der fähig ist, uns zu belehren und unsere Gesinnung zu fördern, damit wir schließlich die „Abschlussprüfung dieser Schule“ bestehen.
Dennoch müssen wir zugeben, wie leicht wir vor diesen Prüfungen zurückschrecken. Was für Anstrengungen unternehmen wir oft, um diese Prüfungen zu beenden oder zu vermeiden. Jemand hat einmal gesagt, dass wir uns damit so verhalten wie Kinder, die mit erfundenen Gründen die Schule schwänzen und dadurch am Ende nicht klüger werden. Finden wir in diesem Sinn an dieser Stelle nicht eine wesentliche Erklärung dafür, warum wir in göttlichen Dingen oft nur kleine Fortschritte machen?
Die Stufenlieder-Illustration
Ein Ausleger verbindet Vers 4 unseres Kapitels mit den Stufenliedern. Diesen Gedanken greife ich an dieser Stelle gerne auf. Die 15 Stufenlieder gliedern sich in 5 x 3 Psalmen. Beispielsweise gehören die Psalm 129 bis 131 zusammen. In Psalm 129 finden wir die große Bedrängnis, von Jugend an (Ps 129,1). In Psalm 130 lernen wir, dass das Gebet (V. 1) und das Warten und Harren auf den Herrn (V. 5–7) die richtige Antwort auf Prüfungen sind. Genau das ist Ausharren.
Dann sucht Gott im Leben eines Gläubigen, dass dieses Ausharren ein vollkommenes Werk hat. Es soll mit dem Bewusstsein verbunden sein, dass man keinen Mangel erleidet, wenn man an der Hand Gottes durch diese Erprobungen geht. Das vollkommene Werk steht in Verbindung damit, dass man sich dem Handeln Gottes ganz ausliefert.
Diesen Gedanken findet man in Psalm 131,1. Man meint nicht, in eigener Kraft die Prüfungen bewältigen zu können. In Vers 2 findet man dann, dass es für denjenigen, der auf Gott traut, keinen Mangel gibt. Wer wie ein entwöhntes Kind bei seiner Mutter ruht, hat keinen Mangel.
Der Vorgang des Entwöhnens (durch Leiden) ist außerordentlich schmerzhaft. Bei der Entwöhnung meint das Kind, die Mutter habe es nicht mehr lieb. Aber das Gegenteil stimmt. Die Mutter legt nur Wert darauf, dass das Kind zu einem selbstständigen Leben geführt wird. Wenn es dann aber entwöhnt ist, trennt es sich nicht von seiner Mutter, sondern ist bei ihr. Es hat auch „ohne die Muttermilch“ keinen Mangel. Es wird zu einem vollkommenen Erwachsensein geführt (V. 3).
Der Prozess der Verse 2–4
Es erscheint mir wichtig, die in den Versen 2 bis 4 liegende Reihenfolge zu beachten:
- Halten (V. 2): Das ist die Aufforderung und punktuell zu verstehen, genau dann, wenn eine Prüfung kommt, sollen wir Prüfungen als Anlass der Freude empfinden.
- Wissen (V. 3): Das ist eine grundsätzliche, dauerhafte Haltung.
- Haben, also geschehen lassen (V. 4): Auch hier haben wir wieder eine Aufforderung, die uns jedoch dauerhaft kennzeichnen soll.
Wir finden hier also Gottes Weg für einen Christen zu vollem Wachstum, ohne dass Mangel empfunden werden müsste. Wir wollen bereit sein, dieses Werk anzunehmen. Dazu bedarf es des Glaubens. Ein Beispiel dafür liefert der Dichter von Psalm 66. Er nimmt nach Vers 10 die Prüfung Gottes an: „Denn du hast uns geprüft, o Gott, du hast uns geläutert, wie man Silber läutert.“ Am Ende von Vers 12 schildert er dann, dass Gott das Volk auch wieder aus den Prüfungen herausgeführt hat. Als Antwort bringt das Volk Brandopfer und zeugt von der Zuwendung Gottes (bis Vers 20). Das ist wie die Freude, die man mit Gott und anderen teilt.
Jakobus und andere Schreiber
Es ist schön, zum Schluss festzustellen, dass Jakobus hier prinzipiell nichts anderes sagt als das, was der Herr selbst zu seinen Jüngern gesagt hat. Er hat das einmal in der Bergpredigt getan und ein zweites Mal in der großen prophetischen Rede (vgl. Mt 5,48; 24,13).
Auch Paulus sagt etwas sehr Ähnliches in Kolosser 4,12. Dort ist ebenfalls von einem vollkommenen Werk die Rede. Unser Retter weist darauf hin, dass es nötig ist, bis ans Ende auszuhalten, das heißt niemals den Glauben in diesen Übungen aufzugeben (Mt 24,13). Es geht aber auch darum, dass wir Gott immer ähnlicher werden, seinen Willen mehr und mehr tun (Mt 5,48; Kol 4,12).
Vollkommen sind wir dann, wenn wir praktischerweise ganz mit Gott übereinstimmen. Das ist kein philosophisches Ideal. Mit Gottes Willen stimmt derjenige überein, der Gottes Wesen offenbart. Wenn Jakobus hier von einem Werk spricht, kann man das mit dem vergleichen, was Paulus Frucht nennt. Nur betont der Begriff „Werk“, dass sich der Mensch nicht einfach faul „hinter den Ofen“ verkriechen kann. Er muss Gottes Willen zu seinem eigenen machen. Dazu ist das Kind Gottes in der Lage, weil es Gottes Leben, ewiges Leben, besitzt.
Wer so handelt, hat keinen Mangel und bleibt sozusagen nicht zurück. Es geht somit um vollständigen Gehorsam. Wir werden ermahnt, das voll auszuschöpfen, was mit dem uns von Gott geschenkten neuen Leben verbunden ist.
Übrigens finden wir hier wie in anderen Briefen schon ganz am Anfang einen Punkt angedeutet, den der Schreiber viel später ausführlicher aufgreift. Er hat ein Hauptthema vor Augen, obwohl er es später erst tiefer ausarbeitet. In diesem Sinn hat Jakobus vielleicht schon die Missstände bei den Empfängern seines Briefes im Auge, über die er später ab Kapitel 2,14 spricht.
Kennzeichen des Glaubens (3): Abhängigkeit von Gott (V. 5)
„Wenn aber jemand von euch Weisheit mangelt, so erbitte er sie von Gott, der allen willig gibt und nichts vorwirft, und sie wird ihm gegeben werden. Er bitte aber im Glauben, ohne irgend zu zweifeln; denn der Zweifelnde gleicht einer Meereswoge, die vom Wind bewegt und hin und her getrieben wird. Denn jener Mensch denke nicht, dass er etwas von dem Herrn empfangen wird; er ist ein wankelmütiger Mann, unstet in allen seinen Wegen“ (V. 5–8).
Wir hatten gesehen, dass die Verse 2–4 und 5–8 zusammengehören. Im ersten Abschnitt ging es darum, in Prüfungen auszuharren und sich dem Willen Gottes unterzuordnen. In den Versen 5–8 lernen wir jetzt, dass dieses Ausharren nur möglich ist, wenn wir Gott um Weisheit in diesen Prüfungen bitten und Ihm unser Vertrauen schenken.
Wie können wir ausharren, und wie können wir in allen uns umgebenden Prüfungen ein frohes Herz bewahren? Durch Geduld und Abhängigkeit von Gott. Jakobus nennt diese beiden Dinge hier Weisheit. Diese Weisheit besteht in der Fähigkeit, die Lehre und Kenntnis des Wortes Gottes praktisch auf die konkrete Situation anzuwenden. Häufig wenden wir unsere Kenntnis nicht praktisch an. Es mangelt uns an Weisheit, an Geduld und Abhängigkeit.
Der scheinbare Themenwechsel hin zur Weisheit wirkt auf den ersten Blick etwas überraschend. Aber ohne die Weisheit des Heiligen Geistes weiß man nicht, wie man sich in Prüfungen richtig verhalten soll. Das gilt zum Beispiel für die Verfolgungssituation, von der unser Herr in Matthäus 10,19–26 spricht. Es gilt aber auch für andere Fälle von Prüfungen von außen. Wir bedenken die Worte Salomos: „Denn der Herr gibt Weisheit; aus seinem Mund kommen Erkenntnis und Verständnis“ (Spr 2,6). Uns allen mangelt es an Weisheit, selbst wenn wir bereit sind auszuharren. Daher hilft uns dieser Vers, die richtige Ausrichtung inmitten von Prüfungen zu haben.
Jakobus dachte sicher auch an die Worte Jesu in der sogenannten Bergpredigt: „Bittet, und es wird euch gegeben werden; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es wird euch aufgetan werden“ (Mt 7,7). So erkennen wir, dass Jakobus wirklich ein Mann war, der vom Geist Gottes geleitet werden wollte und dies anderen daher ebenfalls empfahl.
Vielleicht dachte Jakobus an dieser Stelle auch an das Gebet des jungen Salomo, das wir in 1. Könige 3,7 ff. finden: „Und nun, Herr, mein Gott, du hast deinen Knecht zum König gemacht an meines Vaters Davids statt, und ich bin ein kleiner Knabe, ich weiß nicht aus- und einzugehen … So gibt denn deinem Knecht ein verständiges Herz, um dein Volk zu richten, zu unterscheiden zwischen Gutem und Bösen; denn wer könnte dieses dein zahlreiches Volk richten?“
Weisheit gibt es nur in Verbindung mit dem Herrn Jesus
Wir sollten im Blick auf die Weisheit daran denken, dass wir sie nicht unabhängig vom Herrn Jesus kennen und erhalten können. Er ist Weisheit von Gott (1. Kor 1,24.30). In Ihm allein sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen (Kol 2,3). Ob uns auch im Blick auf unser praktisches Leben immer bewusst ist, dass die Weisheit dieser Welt Torheit bei Gott ist (1. Kor 3,19)?
Zweifellos gehen die Belehrungen des Apostels Paulus in Epheser 1,17 („damit der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst“) und in Kolosser 1,9–11 („damit ihr erfüllt sein mögt mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlicher Einsicht, um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, in jedem guten Werk Frucht bringend und wachsend durch die Erkenntnis Gottes“) weiter als bei Jakobus. Aber letztlich gibt es keine zwei verschiedenen Weisheiten von Gott.
Wahre Weisheit ist, Gottes Gedanken auf unser Leben anzuwenden. Das kann unser tägliches Leben betreffen oder besondere Entscheidungen, das Verwirklichen unserer christlichen Stellung oder unseren täglichen Lebenswandel.
Letztlich behandelt Jakobus das große Thema, dass wir uns als von Gott abhängig ansehen sollen. Wie an vielen anderen Stellen führt Jakobus hier alttestamentliche Belehrungen weiter. „Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich nicht auf deinen Verstand. Erkenne ihn auf allen deinen Wegen, und er wird gerade machen deine Pfade“ (Spr 3,5.6). Ähnliche Hinweise finden wir schon in den ersten Versen des vorherigen Kapitels (vgl. Spr 2,1–11).
Im Gegensatz zu uns fehlte es unserem Herrn nie an der Weisheit Gottes. Er war seinem Gott nicht nur in allem gehorsam, Er wartete nicht nur auf einen konkreten Fingerzeig seines Vaters. Bei Ihm war immer vollkommene Einsicht vorhanden. Wir erkennen in den Evangelien, mit welcher Zielstrebigkeit und Demut Er alles anging. Bei uns fehlt es oft an Weisheit, die göttlichen Gedanken auf die konkreten Umstände anzuwenden, selbst wenn wir seinen Willen kennen, ja sogar tun wollen.
Vollkommen – und trotzdem Lernende
Die im vorherigen Vers genannte Vollkommenheit bedeutet nicht, dass wir nichts mehr zu lernen hätten. Wer das meint, ist weder vollendet noch wird er einen Weg in Weisheit gehen können. Wenn unser geistlicher Zustand so ist, dass wir gerne den Willen Gottes tun wollen, ist unsere Beziehung zu Gott in Ordnung. Das zeigt, dass wir im Sinn von Vers 4 vollendet sind, erwachsen. Gott wird uns, wenn wir Ihn darum bitten, seinen Willen offenbaren. Dennoch wollen wir anerkennen, dass es uns oft an Weisheit mangelt, um zu wissen, was wir tun sollen. Gott aber ist gnädig und gibt uns Hilfsmittel hierfür: das Gebet um Weisheit. Wir brauchen uns unseren Weg nicht auszudenken, wir sollten stattdessen damit zu Gott kommen.
Wir schrecken vielleicht in Zeiten von Unsicherheit davor zurück, Menschen zu befragen. Gott ruft uns auch gar nicht dazu auf, denn der Rat von Menschen ist nicht immer der Weg Gottes. Manche wollen keine nützlichen Ratschläge geben, weil sie anderen nichts Gutes gönnen. Andere nehmen eine solche Frage zum Anlass, uns für Unwissenheit zu rügen oder sie missbrauchen unser Vertrauen. Leider kann das bei Gläubigen ebenfalls vorkommen, auch bei uns selbst. Bei Gott brauchen wir solche Befürchtungen nie zu haben. Er gibt von Herzen und bereitwillig, ohne uns wegen unserer Unwissenheit oder Schwachheit anzuklagen.
Gott erwartet auch nicht von uns, dass wir diese göttliche Weisheit in uns selbst besitzen. Denn sie kommt nicht aus dem menschlichen Verstand, sondern von oben. Wir dürfen Gott zuversichtlich um alles, was uns fehlt, bitten. Rechnen wir mit seiner großzügigen Antwort? Ob wir sie immer ohne einen Tadel erhalten, ist eine andere Frage.
Gott jedenfalls wirft nichts vor, sondern gibt. Zuweilen muss Er uns jedoch zurechtweisen. Wenn wir auf das Leben unseres Herrn schauen, gab es dort manche Gelegenheiten, wo die Jünger den Herrn um Dinge baten, die ihnen nicht ohne eine Zurechtweisung gewährt wurden. Aber oft gab der Herr zunächst, bevor Er seine Jünger belehrte. Der Herr beendete beispielsweise zuerst den Sturm, bevor er seine Jünger tadelte (Lukas 8,24.25). Bei diesen Gelegenheiten mangelte es ihnen nicht nur an Weisheit, sondern in erster Linie an Glauben. Und den setzt Jakobus eigentlich voraus (V. 3).
Ausharren im Sinn von Jakobus ist also ohne Gebet unmöglich. Es befähigt uns, Gottes Willen zu erkennen und dann im Gehorsam seiner rechten Führung zu folgen. Sie wird durch eine völlige Abhängigkeit von Ihm erlangt. Das Ausdrücken von Abhängigkeit geschieht durch Gebet.
Kein Mangel – und doch Weisheit nötig
Zwischen den Versen 4 und 5 gibt es einen scheinbaren Widerspruch. Er löst sich auf, wenn man bedenkt, dass ein Gläubiger in einer Hinsicht weiß, dass es ihm an nichts mangelt, weil sein Herr ihm alles schenkt. Das führt aber nicht zu einer falschen hochmütigen Haltung. Ein abhängiger Gläubiger meint nicht, alles zu wissen und selbst tun und beurteilen zu können. Er ist sich bewusst, dass er nur dann keinen Mangel haben wird, wenn er sich ganz auf Gott wirft. Denn uns mangelt es an Weisheit, Ihm niemals.
Einen solchen scheinbaren Widerspruch gab es auch bei Hiob. Aus Kapitel 1 können wir entnehmen, dass er vollkommen war (Hiob 1,1), das heißt, dass er praktisch vollkommen lebte. Das ganze Buch zeigt uns aber, dass es sich nicht um eine absolute Vollkommenheit handeln kann. Hiob musste noch manches dazulernen im Blick auf seine Selbstsicht. So ist das auch im Hinblick auf unsere Mangelhaftigkeit. Je mehr wir uns bewusst werden, dass wir durch die Güte Gottes keinen Mangel haben, umso mehr wird uns klar werden, dass dies nicht an uns liegt. Es liegt allein an Gott. Daher erbitten wir von Ihm die nötige Weisheit, die Er uns schenkt. Das ist ein Mangel, den wir gerne zugeben.
Gottes Wege sind immer gut und führen zum Bewusstsein der Abhängigkeit
Jakobus spricht hier von Gläubigen, die fähig sind zu unterscheiden, ob etwas geistlich ist oder nicht. Durch den ganzen Brief hindurch werden nämlich zwei praktische Punkte unterstrichen:
- Wir sollen nicht nur die schönen, sondern auch die schweren Dinge als gut und nützlich aus der Hand Gottes annehmen. Der Segen Gottes wird nicht dadurch deutlich, dass wir ein Leben in äußerer Ruhe und Ehre führen. Göttlicher Segen wirkt in Erprobungen, die wir aus Gottes Hand in dem Bewusstsein annehmen, dass Er nie Fehler macht.
- Aber das führt dann dazu, dass wir spüren sollen, wie notwendig für uns die Weisheit von Gott ist. Nur durch sie können wir einsichtig und freudig von den Erprobungen profitieren. Der Segen der Prüfungen liegt darin, dass wir sie von Gott annehmen. Jakobus spricht also von der Notwendigkeit, von Gott abhängig zu leben und sich dessen immer bewusst zu bleiben. Es ist eine Haltung, gewohnheitsmäßig auf Ihn zu warten und sich seinem Willen zu beugen. Mit anderen Worten, Jakobus spricht von Gehorsam.
In einer gottfeindlichen Welt sind Erprobungen für Gläubige normal. Wenn man darin Fortschritte gemacht hat, wird man schnell dahin kommen, seinen Mangel an Weisheit zu erkennen. Unser Trost liegt darin, dass wir unseren Herrn kennen und zu Ihm eine Beziehung haben, der vollkommen und voller Weisheit ist. Er führt diejenigen, die auf Ihn warten, sicher.
Wie gut, dass Gott in seiner unwandelbaren Position diese göttliche, vollkommene Weisheit besitzt. Wir dagegen sind hier von vielen Gefahren umgeben und stehen immer in Gefahr zu fallen. Daher finden wir in der Schrift verschiedentlich die Aufforderung, ständig zu beten (vgl. Lk 18,1). Wir kommen zu Gott, wir dürfen auch zu unserem Herrn beten, der sich für uns geheiligt hat (vgl. Joh 17,19). Er ist aus den irdischen und wechselvollen Umständen dieser Welt in den Himmel aufgefahren, wo Er von nichts und niemand bedrängt wird. So hilft Er uns in vollkommener Weise. Für unser ganzes praktisches Leben und unseren Lebenswandel in dieser Welt haben wir Weisheit von oben nötig (vgl. Jak 3,17), um so zu wandeln, wie Er gewandelt ist (1. Joh 2,6).
Christus, unser vollkommenes Vorbild, konnte sagen: „Ich kann nichts von mir selbst aus tun …, denn ich suche nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat“ (Joh 5,30). Und in Epheser 5,15 wird uns gesagt: „Gebt nun Acht, wie ihr sorgfältig wandelt, nicht als Unweise, sondern als Weise.“
Es gehört zum Wesen der neuen Natur des Gläubigen, sich von Gott abhängig zu fühlen. Daher bittet der Gläubige Gott um die nötige Weisheit. Es ist der uns gebührende Platz der Abhängigkeit. Dafür haben wir ein wunderbares Vorbild, Christus selbst. Er ist Gottes Weisheit. Dennoch lesen wir, dass Er stets im Gebet war (Ps 109,4). Ganze Nächte finden wir Ihn im Gebet, wenn es die Umstände nötig machten (vgl. Jes 50,4). Wenn Er, dem nie Weisheit mangelte, das tat, wie viel mehr sollten wir Ihn darin nachahmen. Wir dürfen wissen, dass Gott größer ist als alle unsere Bedürfnisse (Jak 4,6–8).
Weisheit von oben – Weisheit im Alten Testament
Jakobus nimmt das Thema der Weisheit wieder auf, das im Alten Testament oft angesprochen wird. Nur Gott ist weise (Dan 2,20). Er schenkt Weisheit demjenigen, dem Er sie geben will (2. Mo 28,3; 31,3; 1. Sam 18,14; 1. Kön 3,9–12; 5,10.11; Esra 7,25). Diese Weisheit finden wir in unserem Herrn Jesus personifiziert. Jakobus hat offensichtlich direkte Bekanntschaft mit der Weisheit gemacht, kennt ihren Ursprung (Jak 1,5) und sucht sie auch (Jak 1,6).
Wie oft finden wir uns in unserem täglichen Geschäftsleben, in menschlichen Beziehungen oder im Dienst wieder, wo wir den richtigen Weg und die passende Antwort auf Unvorhergesehenes suchen. Er allein kann uns diese Weisheit geben. Denn Er allein ist weise (Röm 16,27) und wirft uns dennoch nichts vor. Denn die Bitte um Weisheit ist Ihm wohlgefällig (1. Kön 3,10). Weder Gott noch hier Jakobus tadeln uns wegen unseres Mangels an Weisheit. Damit folgt Jakobus der Weise Gottes, der nichts vorwirft. Wenn wir unser Bedürfnis erkennen, sind wir auf dem richtigen Weg, Weisheit zu erhalten.
Die freigebige Hand Gottes
Ist es nicht eine gewaltige Zusage, dass Gott uns nicht nur die notwendige Weisheit gibt, sondern sogar willig und freigebig, ohne irgendetwas vorzuwerfen? Er ist der gebende Gott, nicht aber der etwas vorwerfende Gott. Das ist im Übrigen das Gegenteil von dem, was der Mann behauptete, der seine Talente und Pfunde einfach in der Erde vergraben bzw. in einem Schweißtuch versteckt hatte (vgl. Mt 25,24.25; Lk 19,20–22). Er behauptete, Gott zu kennen. Aber er offenbarte, dass er keine Beziehung zu Gott besaß.
Auch wir können in dieser Hinsicht von Gott lernen. Nicht umsonst werden wir in Römer 12,8 ermahnt, in Einfalt und ohne hintergründige Motive zu geben, einfach aus Liebe. So ist Gott.
Williges Geben meint ein rückhaltloses Geben ohne Hintergedanken. Gott wird uns hier als ein liebevoller und großzügiger Geber vor die Augen gemalt. Jede Missgunst ist Ihm fremd. So zeigte Ihn auch unser Herr während seines Erdenlebens (vgl. Mt 5,45; 7,11). Nachdem Er sogar seinen Sohn für uns gegeben hat, wie könnten wir da noch Zweifel an seiner Liebe und Fürsorge haben, dass Er uns nicht auch alles schenken wird (vgl. Röm 8,32).
Wir sollten von Ihm lernen. Gerade wir Väter oder Eltern neigen zu einer anderen Handlungsweise unseren Kindern gegenüber. Wenn ein Kind nicht auf uns gehört oder zum dritten Mal eine Ermahnung in den Wind geschlagen hat und sich dann zum Beispiel auf einem Weg weh tut, wie reagieren wir? Sind wir dann nicht oft solche, die zuallererst einen Vorwurf äußern, sogar bevor wir helfen? Gott handelt anders, obwohl Er viel eher hart mit uns sprechen könnte.
Das heißt nicht, dass der Herr nicht auch tadelt und dass Gott nicht auch ermahnende Worte an uns richtet. Der Herr Jesus hat während seines Erdenlebens Städte getadelt und Pharisäer und Schriftgelehrte mit einem vielfachen „Wehe“ bedacht. Aber da ging es um Ungläubige (vgl. z. B. Mt 11,20.21; 23). Auch den Unglauben der Jünger hat Er gescholten (vgl. Mk 16,14). Aber bei Gläubigen lesen wir immer wieder, wie es Ihm sofort ein Anliegen war zu trösten und zu helfen. So handelt Gott auch bei uns.
Bevor wir zum nächsten Vers übergehen, noch einmal ein Hinweis auf die Bergpredigt. Denn den Hinweis auf das freigebige Herz unseres Gottes in Jakobus 1,5 finden wir schon in der Rede des Herrn. In Matthäus 7,7–12 zeugt unser Meister davon, dass jeder, der aufrichtig sucht und bittet, von unserem gütigen Vater, der in den Himmeln ist, gute Gaben geschenkt bekommt. Weisheit für die Umstände ist eine davon. Eine besondere Glaubensantwort gibt der Herr darüber hinaus den Jüngern, die im Glauben beten: „Wahrlich, ich sage euch: Wer irgend zu diesem Berg sagen wird: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen! – und nicht zweifeln wird in seinem Herzen, sondern glaubt, dass geschieht, was er sagt –, dem wird es werden“ (Mk 11,23; vgl. Mt 21,21).
Kennzeichen des Glaubens (4): Vertrauen zu Gott (V. 6–8)
In den Versen 6 bis 8 kommen wir zum vierten Kennzeichen des Glaubens: Vertrauen zu Gott. Es gibt nämlich eine Bedingung dafür, dass die Verheißung Gottes für uns persönlich wahr werden kann und der freigebige Gott uns das gibt, worum wir Ihn bitten: Wir dürfen nicht an Gott zweifeln. Wenn wir Ihm nicht zutrauen, uns das zu geben, was wir nötig haben, ist das Zweifel. Ob Er es tun wird, ist eine Frage des souveränen Willens Gottes.
Gott ist ein gebender Gott, und es gebührt dem Menschen, nicht zu zweifeln oder zu misstrauen. „Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat, wie wird er uns mit ihm nicht auch alles schenken?“ (Röm 8,28). Daran sollten wir festhalten. Selbst in den größten Übungen sind wir mehr als Überwinder durch Ihn, der uns geliebt hat (Röm 8,37). Wenn wir also zweifeln, verunehren wir Ihn. Wir beweisen durch unsere Zweifel, dass wir weder Gott noch seine Macht und Güte wirklich kennen. Wer echtes Vertrauen zu Gott hat, bringt Ihm seine Bitte vor und glaubt an Gottes Liebe und Weisheit. In dieser Haltung wartet er auf die Erhörung.
All das erfordert kindlichen Glauben, der sich auf Gottes Treue stützt und eine Antwort von Ihm erwartet. Wenn wir an seiner Treue oder an einer Antwort zur rechten Zeit zweifeln, brauchen wir nicht zu erwarten, dass Er uns antworten wird. Unschlüssigkeit im Blick auf Gott, Wankelmütigkeit und das Setzen auf eigene Kraft oder andere Menschen sind in Wirklichkeit Unglaube.
Der Zweifelnde ist in diesem Sinn ein Ungläubiger, der kein völliges Vertrauen und keine völlige Abhängigkeit von Gott zeigt. Das Gegenteil davon finden wir bei David. Er konnte sagen: „Nur auf Gott vertraut still meine Seele, von ihm kommt meine Rettung … Nur auf Gott vertraue still meine Seele, denn von ihm kommt meine Erwartung“ (Ps 62,2.6). Vielleicht erinnerten sich die Empfänger dieses Briefes an diesen Mann Gottes.
Zweifel an Gott und seinem Wort verhindern Gebetserhörungen (V. 6)
Gott kann also von uns ein vollständiges Vertrauen in seine Kraft und Liebe erwarten. Dennoch mindern weder unsere Schwachheit noch unsere Inkonsequenz seine Barmherzigkeit. Das ist ein großer Trost für uns, und dafür gibt es schöne Beispiele. Bei jemandem, der für den Glauben offen ist wie Nathanael (Joh 1,45–51), hilft Gott trotz mangelhaftem Glauben weiter. Wer aber als Gläubiger an Gottes Wort und seinen Verheißungen zweifelt, obwohl er Gottes Handeln bereits erlebt hat, wird von Gott gezüchtigt. Ein trauriges Beispiel dafür ist der Glaubensmann Mose (vgl. 4. Mo 20,7 ff.). Dabei ist klar, dass Mose nicht grundsätzlich gezweifelt, aber doch in diesem einen Punkt.
Auch im Fall von Ungläubigen lernen wir, dass Gott bewusstes Misstrauen züchtigt. Dafür ist Saul einmal mehr ein Beispiel. Wir hatten schon gesehen, dass er versäumte, auf Samuel zu warten. In dieser Verbindung lesen wir in 1. Samuel 14,19.20, dass er den Priester aufforderte, Gott angesichts der Unsicherheit zu befragen. Als dann aber das Getümmel überhandnahm, entschied er sich, auf eigene Faust zu agieren. Einerseits gibt man vor, sich auf Gott zu stützen. Andererseits aber wird man selbst aktiv und setzt das Vertrauen auf Umstände oder Menschen. Das war schon immer zum Schaden des „Bittenden“.
Genauso ist wahr, dass Gott Gebete nicht hört, wenn jemand seine Bitten einfach nur, der Form nach, spricht. Wer kein echtes Vertrauen zu Gott hat, dass dieser eine gute Antwort gibt, verunehrt Gott und wird daher keine Antwort erhalten.
Glaubendes Beten
Die zwei Blinden, von denen wir in Matthäus 9,27 lesen, sind ein schönes Beispiel für glaubendes Beten. Im Alten Testament finden wir kein einziges Beispiel für einen Blinden, der sehend wurde. Dennoch vertrauten sie dem Herrn Jesus und trauten Ihm ihre Heilung zu. Daher kann Er sagen: „Euch geschehe nach Eurem Glauben“ (Mt 9,29). Der Gerechte wird aus Glauben leben (vgl. Heb 10,38). Der Schreiber des Hebräerbriefes bestätigt, dass es ohne Glauben unmöglich ist, Gott wohlzugefallen. „Denn wer Gott naht, muss glauben, dass er ist und denen, die ihn suchen, ein Belohner ist“ (Heb 11,6).
Gott hört auf diejenigen, die gottesfürchtig sind und seinen Willen tun (vgl. Joh 9,31). So lernen wir, dass Glaube Vertrauen auf Gott geradezu voraussetzt. Der zweifelnde Mensch ist letztlich der Inbegriff von Unglauben. Wer aber im Unglauben und Misstrauen zu Gott kommt, leugnet letztlich, dass Gott ihm in Weisheit etwas geben kann. Man scheint Gott zu bitten. In Wirklichkeit aber hat man gar kein Vertrauen zu Ihm und erwartet daher letztlich nichts von Ihm.
Wir müssen uns fragen, ob nicht auch wir manchmal für etwas bitten, obwohl wir uns in unserem Herzen längst entschieden haben, was wir tun wollen. Dann ist das Gebet nur noch eine Entschuldigung für uns selbst. So wollen wir bezeugen können, dass wir für diese oder jene Sache gebetet haben. Das aber ist keine Abhängigkeit von Gott, sondern nur die äußere Gewohnheit eines Gebets oder sogar nur Form. Dann ist es nicht Gott, der uns leitet, sondern unsere eigenen Wünsche und Triebe. Und diese wie auch die Umstände sind wie Meereswogen und Winde, auf die sich niemand verlassen kann.
Wir sollten unter keinen Umständen zulassen, dass unsere Gebete durch schwierige Lebenssituationen oder durch die Macht des widerstreitenden Bösen beeinflusst werden. Eine solche Haltung zieht nicht nur nach unten. Sie macht Gott gewissermaßen zu unserem Gegner. Daher sollten wir in einfältigem Glauben auf den Einen sehen, der alle Widerstände des Bösen überwinden kann. Er ist der Eine, der auf den Wellen zu gehen vermag und den Sturm beruhigen kann. Nur Er kann uns Weisheit geben, nach seinem Willen zu handeln.
Praktisches Glaubensvertrauen
Leider müssen wir zugeben, dass wir manchmal nicht daran glauben, dass Gott unsere Gebete erhört. Fehlt uns nicht auch zuweilen der Glaube daran, dass Er „über alles hinaus zu tun vermag, über die Maßen mehr, als was wir erbitten oder erdenken, nach der Kraft, die in uns wirkt“ (Eph 3,20)? Wenn wir mehr Glauben hätten, würden wir in viel größerem Maß die herrliche Entfaltung der Kraft Gottes sehen, die in uns wirkt und uns diese Weisheit schenkt, die uns in so vielen Umständen fehlt. Sie ist es, die unseren Eigenwillen zur Seite stellt, damit wir unseren Willen ganz dem Willen Gottes unterstellen. Diese Zweifel werden von dem großen Feind gesät, der immer wieder mit der Frage kommt: „Hat Gott wirklich gesagt?“ (vgl. 1. Mo 3,1). Nur wenn wir den Schild des Glaubens festhalten, werden wir seine feurigen Pfeile auszulöschen vermögen (vgl. Eph 6,16).
Zu zweifeln bedeutet, heute auf diese und morgen auf jene Karte zu setzen. Dieser Zweifel wird mit einer Meereswoge verglichen. Für die Israeliten war aufgewühltes Meer schon immer grauenhaft. Es wurde zum Bild des Gottlosen (Jes 57,20). Bei hoher Windstärke gibt es auf dem Oberdeck eines Schiffes keinen Moment Ruhe, nichts Festes, Berechenbares und zudem schnell wechselnde Richtungen. Das ist das Bild, das Jakobus aufgreift.
Das Bild zeigt deutlich: Gebet ohne Vertrauen muss scheitern. Der Zweifelnde ist nämlich wie eine Meereswoge. Wie kann es anders sein bei jemandem, der sich nicht auf den Herrn stützt? Was auch immer ihm gegeben wird, er nimmt es nicht wirklich vom Herrn an, da er Ihm ja gar nicht vertraut. Wenn ein Christ in der einen Weise spricht und in der anderen fühlt und handelt, ist er wie einer, der zwei Seelen und zwei Herzen hat. Das spricht von Unbeständigkeit. Schämt sich Gott solcher nicht (Heb 11,16)? Hierbei dürfen wir nicht nur an Ungläubige denken. Jakobus spricht auch zu uns, die wir an den Herrn Jesus glauben!
Zum ersten Mal benutzt Jakobus hier ein Bild aus der Natur, um seine Belehrung zu erklären. Das wird er im Verlauf dieses Briefes noch öfter tun. Auch in Lukas 8,24, dem einzigen weiteren Vorkommen dieses Wortes, wird die Meereswoge mit Wind verbunden. Lukas schildert dort die Schifffahrt der Jünger mit ihrem Herrn. Während Er inmitten dieses großen Sturms schlief, wecken sie Ihn im Unglauben auf. Es geht in beiden Stellen um die „normale“ Instabilität der hochgehenden See. Mit diesem Bild war Jakobus sicher sehr gut bekannt. Er kannte den See von Galiläa sehr gut wie auch das Mittelmeer.
Jakobus konnte mit Autorität reden
Vor der Auferstehung des Herrn gehörte Jakobus selbst zu den Zweiflern, die nicht an Christus glaubten. Aber durch den Tod und die Auferstehung Jesu wurde Er zu seinem Meister. So kann Jakobus nun mit Autorität darüber sprechen, dass sich echter Glaube nicht von Umständen abhängig macht, sondern auf den Felsen stützt, der jede Brandung und jeden Wind aushält. Der Zweifler selbst ist eine hin- und hergeworfene Meereswoge. Er wird von jedem Wind der Lehre umhergetrieben (vgl. Eph 4,14) und ist nicht in der Lage, einen festen Stand einzunehmen. Jede Prüfung wird ihn umwerfen.
Von diesen Zweiflern hören wir mehrfach in der Schrift. Gott wies seinen Propheten Hesekiel zum Beispiel darauf hin, dass Menschen scharenweise zu ihm kommen würden, um Gottes Wort zu hören. An sich bestand immer ein gewisses Interesse, um nicht zu sagen, eine gewisse Neugier an Gottes Aussagen. Aber man wollte sie hören und dann selbst entscheiden, ob einem die Hinweise gefallen oder nicht, um dann nach eigenen Vorstellungen zu handeln (vgl. Hes 33,30–33). Diese Doppelherzigkeit kommt aus einem harten Herzen hervor (vgl. Hes 3,7).
Paulus spricht ähnlich wie Jakobus: „Ich will nun, dass die Männer an jedem Ort beten, indem sie heilige Hände aufheben, ohne Zorn und zweifelnde Überlegung“ (1. Tim 2,8). Jakobus‘ Worte weisen zudem auf ein Jesuswort hin. Man kann an Matthäus 21 denken (die Parallelstelle im Markusevangelium hatten wir bereits angesehen): „Wenn ihr Glauben habt und nicht zweifelt, werdet ihr nicht allein das mit dem Feigenbaum Geschehene tun, sondern selbst wenn ihr zu diesem Berg sagt: Werde aufgehoben und ins Meer geworfen!, so wird es geschehen. Und alles, was irgend ihr im Gebet glaubend erbittet, werdet ihr empfangen“ (Mt 21,21.22) Wie wir schon früher gesehen haben, baut kein Brief so umfassend auf Worten Jesu auf wie der Jakobusbrief. Dadurch können wir den Eindruck gewinnen, dass die Worte Jesu im Urchristentum geradezu in Kopf und Herz der Christen „gehämmert“ wurden. So wird der Glaube als Voraussetzung für das Gebet schon in den Belehrungen des Herrn betont.
Nichts vom Herrn empfangen (V. 7)
Jemand, der zweifelt, wird genau das empfangen, was er erwartet. Nämlich nichts. Denn während Gott stetig und unveränderbar bleibt, ist ein solcher Mensch wankelmütig. Er stützt sich auf seine eigenen Gedanken, statt auf Gott zu sehen. Bei diesem „Denken“, von dem Jakobus hier spricht, geht es um ein persönliches Urteil. Dieser Ausdruck kommt nur noch in Johannes 21,25 und Philipper 1,17 vor. Hier in Jakobus 1 basiert dieses Denken auf einem letztlich unbegründeten Urteil. Er ist überzeugt, dass er eine Antwort vom Herrn bekommen wird, ja bekommen muss: die Erhörung des Gebets. Aber genau das ist falsch, weil sein Denken nicht mit Gottes Wegen übereinstimmt.
Der Hinweis auf das Empfangen erinnert uns an Matthäus 7,8. Jakobus spricht aber in negativem Sinn davon, im Unterschied zum Herrn Jesus. Wer im Glauben bittet, wird empfangen. Wer jedoch als Zweifelnder zu Gott kommt, was von Kleinglauben zu unterscheiden ist, wird eben nichts empfangen. Gott sagt uns das vorher, damit wir uns nicht Illusionen hingeben. Der Zweifelnde jedenfalls sollte sich keine Hoffnung auf eine Erfüllung seiner Hoffnungen machen.
Falsches Denken
Wie kommt es nun zu diesem falschen Denken? In der Praxis ist es manchmal so, dass uns zunächst hochfliegende Hoffnungen beflügeln. Sie sind aber nicht Folge des Glaubens, sondern unserer Gefühle. Dann wechseln sie sich mit bösen Vorahnungen und Ängsten ab. „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“, heißt ein Sprichwort. Wenn wir nicht im festen Glaubensvertrauen zu Gott beten, werden wir uns früher oder später auf unsere Gefühle stützen und zweifeln sogar an Gott. Das ist das Gegenteil von Glauben. Wenn dies unser Zustand ist, so mögen wir wohl um Weisheit bitten, aber der Herr kann sie uns nicht geben, denn wie sollte Er Zweifel und falsche Hoffnungen bestätigen?
Wir dürfen das nicht falsch verstehen. Jakobus spricht nicht von Heldenmenschen, als ob nur solche etwas von Gott empfangen würden. Der Kleinmütige erhält in gewisser Hinsicht sogar einen besonderen Trost, denn die Geistlichen sollen sich der Schwachen annehmen (vgl. 1. Thes 5,14). Gott sieht in unser Herz und lässt es den Aufrichtigen gelingen, auch wenn ihr Glaube klein sein mag (Spr 2,7). Dass dies wahr ist, sieht man an jener Frau, die nur den Saum des Gewandes Jesu berühren wollte. Wies der Herr sie zurück, obwohl sie mit vielen Zweifeln kam? Natürlich nicht! Sie erhielt einen großen Segen (vgl. Mk 5,25–34).
Zweifel oder Ängstlichkeit
Zweifel im Sinn von Jakobus ist also nicht Ängstlichkeit. Es ist das bewusste Infragestellen der Macht und Zuwendung Gottes. Es ist notwendig, dass man sich an Gott allein und nicht noch an andere Mächte klammert. Genau das tat diese Frau. Sie ist ein gutes Beispiel für unsere Verse. Sie war von vielen Zweifeln geplagt und war in diesem Sinn kleingläubig. Aber den kleinen Glauben, den sie hatte, schenkte sie allein dem Herrn Jesus. Wir wollen uns nicht entmutigen lassen als solche, die wissen, dass ihr Vertrauen oft so gering ist. Der Herr wendet sich mit besonderer Barmherzigkeit dem zu, der seinen Unglauben eingesteht (vgl. Mk 9,24).
Gott aber zu misstrauen heißt, Ihn zu verunehren. Ein Mensch, der solches tut, ist wankelmütig. Er ist zugleich unstet, weil sein Herz nicht in Gemeinschaft mit Gott lebt. Er lebt nicht so, dass er eine Beziehung zu Gott wahrnehmen würde. Er spricht davon, auf Gott zu vertrauen. Er tut das in der einen oder anderen Weise sogar. Aber dann, wenn Schwierigkeiten kommen und bleiben, macht er kehrt. Er ist nicht stetig in diesem Vertrauen. Damit beweist er letztlich, dass sein Bekenntnis nicht wahr ist. Wer zu der einen, unveränderlichen Person keine feste Beziehung pflegt, ist somit in seinen Wegen unstet. Hierbei geht es nicht um einen Einzelfall, sondern um die Grundausrichtung unseres Lebens. Ohne die bewusste Abhängigkeit von Gott ist jeder Weg unsicher und unbeständig.
Unstet (V. 8)
Wenn sich ein Gläubiger in der Nähe Gottes aufhält, so kennt er Gott und wird dessen Willen verstehen. Er will nicht im Eigenwillen handeln. Für ihn ist eine solche Entscheidung nicht nur ein Akt des Gehorsams, obwohl es das bleibt. Für einen solchen Gläubigen geht es vor allem um eine Frage des Vertrauens. Er möchte den Gedanken Gottes entsprechen, auf den er sich stützt. Er weiß, dass sein eigener Wille und seine eigenen Fähigkeiten nicht verlässlich sind.
Der Glaube an die Güte Gottes gibt Mut, nach seinem Willen zu forschen und diesen auch auszuführen. Christus ist unser Vorbild. Als Er von Satan versucht wurde, handelte Er nicht nach eigenen Gedanken. Dabei ist Er Gott! Aber als abhängiger Mensch bezeugte Er, dass der Mensch von jedem Wort lebt, das aus dem Mund Gottes hervorgeht. Das war unbedingter und vollkommener Gehorsam. Für Ihn war der Wille Gottes nicht nur die Lebensregel, sondern sogar Beweggrund seiner Tätigkeit.
Christus allein ist der wahre Maßstab von allem. Er hat seine Haltung offenbart, als Er auf der Erde war. Von keinen Umständen, mögen sie noch so schwierig gewesen sein, hat Er sich innerlich beeinflussen lassen. Er und nur Er ist der wahre treue Zeuge. Ein Leben „in Christus“ zu führen ist Gottes Geheimnis für echte Standfestigkeit in einer Welt von Sünde. In Ihm finden wir alles, was nötig ist, um das Herz mit Freude zu füllen und die notwendige Weisheit zu erhalten.
Ein wankelmütiger Mann dagegen schwankt hin und her zwischen dem Vertrauen auf Gott und dem Vertrauen auf eigene Kraft. Und ein unsteter Mensch ist haltlos und lehnt Ordnung in seinem Leben ab. Auch wenn man nicht gleichzeitig Gott und dem Mammon dienen kann (Mt 6,24), versucht er es. Selbst wenn so jemand ein Erlöster sein mag, hat er nicht gelernt, wie sein Herz ist. Es ist arglistig, mehr als alles, und verdorben (Jer 17,9).
Unbeständig
Durch andere Bibelstellen wissen wir, dass Gott den Sanftmütigen auf einem festen, guten Weg leitet (vgl. Ps 25,9.10). Unstetigkeit ist das Gegenteil. Dann lassen wir uns offensichtlich nicht von Gott leiten und ordnen uns seinem Willen nicht unter. Das hängt zugleich oft mit einem aufgeblasenen Ego zusammen. Dieses Ich führt dazu, dass man sich selbst wichtig nimmt und nur auf die eigenen Angelegenheiten fixiert ist. Unstetigkeit hängt zudem mit unserer Ungeduld zusammen. Wir sind nicht bereit auszuharren. Leider verlieren wir auf diese Weise sogar das Bewusstsein, dass es uns an Weisheit mangelt. Wenn wir diese Mangelerscheinung häufiger bemerken würden, wären wir vielleicht empfindsamer im Blick auf die fehlende Festigkeit in unserem Leben.
Es ist interessant, die beiden Wörter „wankelmütig“ (bzw. doppelherzig, vgl. Jak 4,8, gr. dipsychos) und unstet (vgl. Jak 3,8) in Gottes Wort zu suchen. Beide Begriffe kommen nämlich ausschließlich im Jakobusbrief vor, dort aber jeweils zweimal. Als Substantiv finden wir unstet allerdings noch mehrfach. Auch in Jakobus 3,16 (Zerrüttung) wird dieser Ausdruck noch einmal verwendet.
Zum Verständnis des ersten Ausdrucks „Wankelmütigkeit“ ist es hilfreich, sich an das Gegenteil im Alten Testament zu erinnern. In 5. Mose 6,5 wird das Volk aufgefordert, den Herrn, seinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben, und zwar dauerhaft (vgl. Mt 22,37). Mit ganzem und ungeteiltem Herzen soll man also an Gott hängen. Auch deshalb ist für unseren Herrn ein Mann mit doppeltem Herzen nicht annehmbar. Er ist ein Sünder oder lebt wie ein solcher. Er verwirft letztlich Gottes Wort (vgl. 5. Mo 9,16.17). Das können wir daran ersehen, dass Mose die Gesetzestafeln wegwerfen musste, als sich das Volk durch Götzen von der ungeteilten Nachfolge Gottes abwandte. Sie hatten sich von diesem Wort abgewandt.
Jakobus – ein Mann geistlicher Ordnung
Damit wird im Übrigen klar, dass Jakobus klar und entschieden ein Mann geistlicher Ordnung war. Aber er spricht nicht in eigenem Namen, sondern unter der Führung des Geistes Gottes. Wer unter dem Regiment der Gnade steht, tut nicht, was er will, sondern gewinnt ein festes Herz, Zuversicht zu Gott und Beständigkeit in seinem ganzen Verhalten (in allen seinen Wegen).
Wenn wir dagegen doppelherzig sind, führen wir einen Lebenswandel auf unsteten Wegen, indem wir hin und her getrieben werden, je nachdem ob die Umstände günstig oder ungünstig sind. Man spricht dann auf die eine Weise und handelt auf die andere. Diese Menschen „reden Falschheit, jeder mit seinem Nächsten; ihre Lippen schmeicheln, mit doppeltem Herzen reden sie“ (Ps 12,3). Wie schön dagegen, wenn von uns gesagt werden könnte, was Gott über die Männer aus Sebulon sagen konnte: Es waren Männer „mit ungeteiltem Herzen“ (1. Chr 12,34).
Am Schluss wollen wir noch kurz über „in allen seinen Wegen“ nachdenken. Wie schlimm, wenn das Urteil über alles, was dieser Mensch tut, lautet: zur Unehre Gottes.
Gott wacht auch über unsere Wege. Er hat das bei seinem eigenen Sohn getan und Ihn bewahrt auf allen seinen Wegen (Ps 91,11). So handelt Er ebenfalls mit all den Seinen. Er hat ein vollkommen gerechtes Urteil im Blick auf alle unsere Wege (Ps 145,17). Wir können Ihn und seinen Willen auf allen unseren Wegen erkennen (vgl. Spr 3,6). Diese Aussage kommt unserer Stelle sehr nahe. Zudem sind die Augen Gottes auf alle unsere Wege gerichtet. Sie sind vor Ihm nicht verborgen (vgl. Jer 16,17). So finden wir im Blick auf unsere Wege ein ganzes Bündel an Hinweisen, welche die verschiedenen Aspekte des Lebens betreffen.
Kennzeichen des Glaubens (5): Demut und Zuversicht (V. 9–11)
„Der niedrige Bruder aber rühme sich seiner Hoheit, der reiche aber seiner Erniedrigung; denn wie des Grases Blume wird er vergehen. Denn die Sonne ist aufgegangen mit ihrer Glut und hat das Gras verdorren lassen, und seine Blume ist abgefallen, und die Zierde seines Ansehens ist verdorben; so wird auch der Reiche in seinen Wegen verwelken“ (V. 9–11).
In den Versen 9–11 scheint Jakobus ganz abrupt das Thema zu wechseln. Daher sprechen manche Ausleger im Blick auf diesen Abschnitt von einer Art Zwischensatz. Hier geht es um niedrige Geschwister und um reiche.
Der bekehrte Mensch gehört zur neuen Schöpfung. Er ist von neuem geboren und eine gewisse Erstlingsfrucht dieser Neuschöpfung (vgl. Jak 1,18). Mit seinem Körper aber befindet er sich noch hier in der irdischen Schöpfung. So lebt er in einer Welt, deren Herrlichkeit wie des Grases Blume vergeht.
Der reiche Gläubige erkennt die Armen als Brüder an und versammelt sich mit ihnen am Tisch des Herrn. Er weiß, dass sie Teilhaber derselben Vorrechte sind. Umgekehrt weiß auch der Arme, dass der Reiche sein Bruder ist. Dennoch können diese Unterschiede zu Spannungen unter den Gläubigen führen.
Keine Standesunterschiede für Gott
In den Augen Gottes gibt es keine Standesunterschiede bei seinen Kindern. Dennoch bezeichnet Jakobus unter der Leitung des Geistes Gottes den armen Bruder als einen „niedrigen“ Bruder. Er steht auf derselben Stufe wie der reiche Bruder, und doch hat er das Gefühl, im sozialen Sinn „niedrig“ zu sein.
Jakobus aber macht deutlich, dass der Niedrige stellungsmäßig von Gott in den höchsten Stand versetzt worden ist. In Christus steht er auf derselben Stufe wie der Reiche. Als Erlöster des Herrn wird er in der zukünftigen Welt die Herrlichkeit des Herrn teilen wie der Reiche. Aber das steht zeitlich noch aus. Während seines Lebens auf der Erde bleiben die äußerlichen Unterschiede unter Gläubigen vielfach bestehen.
Genau das scheint das Thema dieser Verse zu sein. In den Versen 2 bis 8 hat Jakobus im Wesentlichen die Prüfungen des Gläubigen behandelt. Er hat das Ziel der Prüfungen und auch das Mittel erklärt, in ihnen zu überwinden. Jetzt scheint es darum zu gehen, dass die Unterschiede der äußeren, materiellen Umstände der Erlösten eine besonders herausfordernde Prüfung sein können. Mit dieser Verschiedenheit auf Gott gemäße Weise umzugehen, ist das Thema dieser Verse.
Jakobus zeigt dazu ein hervorstechendes Merkmal der Gläubigen: Sie sollen demütig sein. Das gilt umso mehr, wenn man durch materiellen Reichtum scheinbar unabhängig ist. Auf der anderen Seite sollen Gläubige unabhängig davon, ob sie arm oder reich sind, freudig und zuversichtlich sein, wenn sie äußerliche Nöte zu erleiden haben.
Prüfungen der Gläubigen
In den ersten Versen seines Briefes macht Jakobus also deutlich, welcher Art die Prüfungen unter Gläubigen sein können. Wir denken bei Prüfungen oft in erster Linie an Krankheiten, Arbeitsplatzverlust, gehässige Nachbarn und Kollegen, Kinder, die dem Herrn Jesus nicht mehr nachfolgen wollen, usw. Nöte können aber auch durch andere Umstände ausgelöst werden. Dazu gehören eben Armut oder auch Reichtum.
Jakobus kommt im Verlauf seines Briefes verschiedene Male und sehr intensiv auf das Thema Reichtum zurück (Jak 2,1–7.15.16; 4,1–3.13–17; 5,1–6). Daher kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass Geld und sozialer Status zu Beginn der Kirchengeschichte wirklich Probleme unter den Christen bereiteten. Es handelte sich offenbar nicht um ein Randthema. Wenn wir unsere Zeit aufmerksam beobachten, sehen wir, dass diese Schwierigkeiten auch im 21. Jahrhundert noch bestehen. Anscheinend sind soziale Stellung und Reichtum gerade für Christen eine besondere Art von Prüfung.
Gott kann diese Umstände zur Erprobung unserer Herzen und zur Bewährung unseres Glaubens benutzen. Er ist souverän, das Wirken Satans nicht zu verhindern, weil dieser Gottes Pläne ausführt, wenn auch in Bosheit. Das bekannte Beispiel Hiobs mag dazu als Illustration dienen. Der Gläubige, der wirklich abhängig von Gott lebt, lernt, sich nicht auf scheinbar sichere Verhältnisse zu stützen. Sein Glaubensweg sollte nicht durch Armut oder Reichtum beeinflusst werden, sondern durch das Licht der Wahrheit Gottes.
Ein Lernprozess
Jeder wird wohl bestätigen, dass so etwas gelernt werden muss. Das sehen wir sogar bei Paulus, der von sich sagen konnte: „Ich habe gelernt, worin ich bin, mich zu begnügen. Ich weiß sowohl erniedrigt [stammt von demselben Wort ab wie „niedrige“ in unserem Vers] zu sein, als ich weiß Überfluss zu haben; in jedem und in allem bin ich unterwiesen, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als Mangel zu leiden. Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt“ (Phil 4,11–13).
Als Christen sollten wir uns vor allem daran erfreuen, dass unsere Stellung vor Gott in keiner Weise von unserer sozialen Position in dieser Welt abhängt. Daher können sich Gläubige, die äußerlich arm sind, darüber freuen, dass sie durch Gott mittels des Glaubens in eine einzigartige geistliche Stellung gebracht worden sind. Diese Stellung steht über jedem Reichtum und jeder äußerlichen Ehre, welche die Welt bieten kann. Auch ein äußerlich armer Erlöster hat schon jetzt Gemeinschaft mit Christus und seinen Erlösten. Wir sollten zudem nicht vergessen, dass „Gott die weltlich Armen auserwählt hat, reich zu sein im Glauben, und zu Erben des Reiches, das er denen verheißen hat, die ihn lieben“ (Jak 2,5).
Der niedrige Bruder (V. 9)
Gläubige Arme könnten versucht sein, den Übungen dadurch zu entkommen, dass sie ihrer äußeren Armut zu entfliehen suchen. Sie stehen auch in Gefahr, ihre soziale Stellung verbessern und Reichtum anhäufen zu wollen. Das aber ist kein vor Gott wohlgefälliger Weg. Gott verbietet Reichtum nicht. Er tadelt aber unsere Gesinnung, reich werden zu wollen (1. Tim 6,9). Dieser Hang ist leider bei uns allen mehr oder weniger vorhanden.
In der frühen Kirche gab es anscheinend besonders viele materiell arme Gläubige. Das kann man einer Reihe von Stellen entnehmen (Apg 2,44; 4,32–37; 6,1–6; 11,28–30; 1. Kor 1,26–29; 11,18–22; 2. Kor 8,2; 1. Tim 6,17.18; 1. Joh 3,17). Hinzu kommt, dass es offenbar eine Reihe von Gläubigen gab, die Sklaven waren und blieben (vgl. Eph 6,5–8; Phlm 15.16; 1. Pet 2,18–20). So ergaben sich diese Probleme innerhalb und außerhalb Palästinas.
Dass solche Umstände gerade für die Armen und Sklaven als eine Prüfung unter Gläubigen angesehen wurden, muss nicht weiter erklärt werden. Vielleicht haben manche Sklaven gedacht, dass sie mit der Bekehrung aus dieser schwierigen Lage befreit werden würden. Aber zum Teil war das Gegenteil der Fall. Die Gläubigen wurden von ihren ungläubigen Herren umso mehr geknechtet (vgl. dazu auch Israel in Ägypten). Wenn solche Sklaven dann noch andere Christen sahen, die Herren waren, konnten sie bitter werden.
Wir wollen bei dieser Beurteilung bedenken, dass Armut damals schlimmer war als heute in Deutschland. Es fehlten soziale Netze. Das beste Sozialwerk hatten die Synagogen aufgebaut (vgl. Mt 6,1–4). Das führte oft zu einer Abhängigkeit der Armen von bestimmten, bekannten Personen. Wer sich jetzt aber dem Herrn Jesus anschloss, wurde damit praktisch von diesem Netz einer gewissen sozialen Fürsorge der Synagoge ausgeschlossen (vgl. Joh 9,22; 12,42; Apg 6,1–6).
Armut bleibt auf der Erde
Für manchen mag es seltsam sein, dass weder Jakobus noch irgendeiner der anderen Apostel dazu ermahnt, dass Armut aus den christlichen Versammlungen verschwinden müsse. Zudem verlangt kein Apostel, dass Reiche und Arme einen Ausgleich bewirken müssten.
Jakobus rechnet offenbar damit, dass es auch weiterhin arme, geringe und in diesem Sinn unbedeutende Brüder geben würde, wie eben auch reiche. Er befürwortet nicht, so schnell wie möglich den sozialen Aufstieg zu schaffen, erst recht nicht zu demonstrieren, zu protestieren oder sich zu organisieren. Es gab schon damals entsprechende soziale Vereinigungen. Nein, Jakobus hat ein gänzlich anderes Anliegen.
Der niedrige Bruder sollte sich seiner Höhe rühmen. Er darf von seiner äußerlichen Stellung absehen und wissen, dass er nach Gottes Gedanken im Glauben die höchste Stellung besitzt, die je ein Mensch einnehmen kann. Er ist vor Gott in Christus. Nicht nur das, der Glaube verwirklicht göttliche Dinge. Er erhebt uns über unsere Lebensumstände, so dass der Arme Anlass zum Rühmen hat. Natürlich geht es nicht darum, in irgendeiner Weise zu prahlen.
Mit anderen Worten: Die äußeren Umstände sollen unser persönliches und gemeinsames Glaubensleben nicht beeinflussen. Die Heiligen können sich im Herrn rühmen, nicht jedoch äußerer Faktoren, für die sie oftmals nichts können. Das ist anders bei unserem Herrn. Er kann sich der Reichen bedienen, wie wir das im Fall von Joseph von Arimathia sehen, genauso wie Er einen wohl eher armen Fischer Petrus in seine Nachfolge rief. Der eine ist durch die äußere Situation nicht brauchbarer oder weniger hilfreich als der andere und umgekehrt.
Niedrig und demütig ist im Übrigen im Grundtext dasselbe Wort. An vielen Stellen des Alten Testaments bezeichnet Gott damit diejenigen, die Ihm vertrauen und die Er erwählt hat (z. B. Ri 6,15; 1. Sam 2,7.8; 18,23; Ps 18,28; 34,19; 113,7.8; Spr 3,34; Jes 14,32; 25,4; 49,13). Ausgehend von diesen Bibelversen führt eine Linie hin zum Herrn Jesus, der die gottesfürchtigen Armen im Geist glückselig preist (Mt 5,3; 11,5; Lk 4,18). Den Jüngern gibt der Herr den Namen „Kleine“ oder „Geringe“ bzw. „Geringste“ (Mt 10,42; 25,40). Und doch hatte Er eine große Wertschätzung für sie.
Man fragt sich nun, worin genau die Hoheit des niedrigen Bruders besteht, derer er sich rühmen soll. Man kann in zwei Richtungen denken:
Die Höhe der Stellung des Christen
- Für diejenigen, die Christus angezogen haben und eins in Christus sind, gibt es weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, weder arm noch reich, weder niedrig noch hoch. In Christus gibt es auch nicht Mann und Frau (vgl. Gal 3,27.28).
- Gott hat in unserer Zeit neue Grundsätze bezüglich der Beziehungen unter Menschen eingeführt. Diese Prinzipien beruhen auf der Liebe Gottes, die in unsere Herzen ausgegossen worden ist (Röm 5,5). Der Herr hat schon zu seinen Lebzeiten abgelehnt, Vermittler in materiellen Angelegenheiten zu sein (Lk 12,14). Stattdessen lädt Er den armen Christen ein, der über keine großen Mittel verfügt, sich seiner Stellung als Kind Gottes zu rühmen.
Eine praktische Höhe, die Gott schenkt
- Jakobus sieht die Hoheit der Armen darin, dass Gott sie liebt und erwählt hat. Aber nicht die Armut als solche bringt den Armen in den Himmel, sondern nur die „gläubige Armut“. Ein Armer, der seine Hoffnung auf Jesus Christus setzt, ist von Gott geliebt und erwählt. Er gewinnt aus dem Bewusstsein dieser Stellung geistliche Erkenntnis. Dieser Hoheit darf er sich rühmen, weil sie eine Gabe Gottes ist.
- Jakobus spricht im Allgemeinen sehr praktisch. Das heißt nicht, dass er die christliche Stellung aus den Augen verlieren würde. Aber sie ist mehr das Thema von Paulus. Gott aber erhöht den Armen in seiner praktischen Erfahrung, durch die er ein Auge für Gottes reichen Segen in geistlichen Dingen bekommt.
- Dazu passen auch einige Stellen aus dem Alten Testament. Hanna freute sich als eine der Armen darüber, dass der Herr sie reich gemacht hatte im Blick auf ihren Sohn. Dadurch fühlte sie sich erhöht (1. Sam 2,1.7). So durfte sie bei den Edlen sitzen und ein reiches Erbteil genießen.
- David, der Knecht des Herrn, machte ähnliche Erfahrungen. Er war sich bewusst, dass die Erhöhung des Herrn darin bestand, dass Er rettete (2. Sam 22,49; Ps 27,5.6). Ist nicht genau das auch vor dem Herzen von Jakobus? Die Rettung in Prüfungen und die endgültige Rettung aus diesen Prüfungen empfindet der Schreiber als diese praktische Erhöhung durch Gott.
- Es ist die Leuchte und das Licht des Herrn, die uns reich machen. Und was ist größer als die Nähe des Herrn, die gerade der erfährt, der einen zerschlagenen Geist und ein zerbrochenes Herz hat (vgl. Ps 34,19)?
Diejenigen, die Gegenstände der Liebe Gottes sind, können in ihren Verhältnissen beweisen, dass ihnen die himmlischen, geistlichen Segnungen viel wichtiger als alles Materielle sind. Geistlicher Reichtum überstrahlt das alles bei weitem. Die ersten Christen besaßen die Kraft und Freude, alle ihre materiellen Güter dem Herrn und den Geschwistern zur Verfügung zu stellen (vgl. Apg 2,45; 4,34.35).
Diese Handlungsweise war zur damaligen Zeit passend und angebracht, wird uns jedoch nicht als Vorbild für spätere Zeiten in den Briefen vorgestellt. Aber es stellt eine Haltung vor, die uns mehr prägen sollte. Das wird durch unseren Brief deutlich, in dem Jakobus die Reichen immer wieder ermahnt (Jak 2,5.6; 5,1; vgl. auch Röm 15,26; Gal 2,10; 1. Tim 6,9.17.18). Aber es fällt zugleich auf, dass die Reichen nicht den Auftrag erhielten, ihr Vermögen den Armen zu schenken. Vergessen wir nicht, dass der Herr seinen Jüngern auch sagte, dass auf Dauer Arme unter den Gläubigen sein würden (vgl. Mt 26,11).
Christus, der „Arme“
Wir wollen nicht außer Acht lassen, dass unser Herr in äußerer Armut lebte. Er hatte zudem immer besonderes Mitgefühl für die Armen. Er war reich und ist um unsertwillen arm geworden (2. Kor 8,9). Wir sollten sowohl im Blick auf die materiellen Bedürfnisse als auch bezüglich unseres ganzen Lebens im Vertrauen auf Gott leben. Der Arme wird schon im Alten Testament mehrfach dazu ermuntert (vgl. Ps 69,34; 107,41). Und wir dürfen wissen, dass sich Gott auch um die geringsten Bedürfnisse der einfachsten Geschöpfe kümmert (vgl. Mt 6,25–34).
Auch hier haben wir somit Christus vor uns, der das volle Licht Gottes auf die ungleichen Stellungen der Erde wirft. Er wünscht, dass wir unsere persönlichen Lebensumstände aus seiner Hand annehmen. Er wartet darauf, dass wir Gott darin ehren. Das können wir tun, indem wir unabhängig von unserer äußeren Stellung die neue Natur wirksam werden lassen. In einer Welt, in der Habsucht zum universellen Götzen und der Mammon fast wie ein Idol geworden sind, sollten wir zeigen, wie reich wir innerlich sind.
Sich der Erhöhung rühmen
Aus dieser Sicht kann sich der niedrige Bruder seiner Erhöhung rühmen, denn der verherrlichte Christus schämt sich nicht, ihn Bruder zu nennen (Heb 2,11). Der Reiche kann sich seiner Erniedrigung rühmen, indem er auf den sieht, der sich selbst erniedrigt hat bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Was auch immer unser natürlicher Platz ist, wir sind nun durch Gnade nicht mehr von der Welt, wie Christus nicht von ihr ist.
So können wir in dem demütigsten Christen etwas von der Herrlichkeit Christi lesen (Kol 3,11). Und der wohlhabende und geehrte Gläubige kann das für ein Nichts halten, was dem Fleisch wertvoll erscheint. „Denn was unter Menschen hoch ist, ist ein Gräuel vor Gott“ (Lk 16,15). Daher ist eine demütige Gesinnung immer gut für uns, wenn wir Ihm nachfolgen wollen, der gesagt hat: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29).
Es ist interessant, dass Jakobus selbst das Thema der Erhöhung später ein weiteres Mal aufgreift. In Jakobus 4,10 lesen wir: „Demütigt euch vor dem Herrn, und er wird euch erhöhen“ (vgl. 1. Pet 5,6; Lk 14,11; Mt 23,12; Spr 29,23). Die verheißene Erhöhung mag nicht immer im gegenwärtigen Leben stattfinden. Viel davon wird für den Himmel aufgehoben werden. Dort aber werden alle Erlösten solche Erhöhte sein.
Es gibt allerdings keinen Zweifel daran, dass der Herr den Segen der Erhöhung oftmals schon jetzt denen schenkt, die niedrig vor Ihm ihr Leben führen (Mk 10,30). Es kann sich um eine Erhöhung im Sinne eines weitergehenden Dienstes handeln, zu einem Platz der Wertschätzung in der Familie Gottes, ja selbst zu zeitlichen Segnungen. Die Bandbreite dessen, wozu uns Gott erhöht, wenn wir uns zu den Niedrigen halten, ist vielfältig.
Lasst uns bedenken, dass ein Armer, der geistliche Erkenntnis hat und durch Gottesfurcht geprägt ist, geistlicherweise über einem Reichen steht, dem das fehlt. Dabei kommt es allerdings auf die richtige Haltung in der Armut an. Das wird deutlich, wenn man beispielsweise an die Mönchsbewegungen denkt. Auch dort kann man arm werden. Das ist jedoch nicht die Niedrigkeit, von der Jakobus und die anderen Schreiber des Neuen Testaments sprechen. Denn im Grunde genommen ist das Mönchtum eine Verherrlichung des Menschen, aber ohne Gott.
Der reiche Bruder (V. 10)
Der Bibelausleger John Nelson Darby hat einmal gesagt: „Diese Welt als solche wird einmal vergehen, der Geist dieser Welt hat das Herz eines geistlichen Gläubigen jedoch bereits verlassen. Derjenige, der den niedrigsten Platz einnimmt, wird im Reich Gottes groß sein.“ Während sich also der niedrige Bruder seiner Hoheit rühmen kann, hat sich der reiche Bruder im Glauben inmitten seiner Versuchungen seiner Niedrigkeit zu rühmen.
So freuen sich der Arme und der Reiche gewissermaßen zusammen. Dies ist weit entfernt vom Geist des Neids und der Missgunst, der alles, was über ihm steht, erniedrigen möchte. Und die Gesinnung Jesu bewahrt uns vor jeder Verachtung und Geringschätzung eines Mitgläubigen.
Weder der Reiche noch der Geringe denken so, wenn Christus ihr Herz erfüllt. Es ist keine Eigenliebe, sondern der Geist der Liebe, der sich erniedrigt, wenn man mit denen Umgang hat, die in äußerer Hinsicht gering sind. Das hat uns unser großer Meister vorgelebt. Er hatte die richtige Wertschätzung für äußerlich Geringe, die groß in den Augen Gottes sind. Christus besaß das Recht zu herrschen und der Erste zu sein. Er aber erniedrigte sich selbst, um unter uns wohnen zu können. Er machte sich inmitten seiner Jünger zum Diener.
Wir können uns nicht erniedrigen, weil wir nichts sind (Gal 6,3). Aber wir können die Gesinnung Christi nachahmen und demütig werden, wie Er demütig war. In dieser Hinsicht sollen wir uns den Herrn Jesus zum Vorbild nehmen. Immer wieder lesen wir von seiner (freiwilligen) Erniedrigung (vgl. auch Apg 8,33). Das Gebot der Niedriggesinntheit gilt nicht nur für die Reichen. Sie stehen allerdings unter einer besonderen Verantwortung, weil sie von Gott in dieser äußerlichen Weise so reich gesegnet worden sind.
Und das gilt für die meisten unter uns heute. Wir leben eher in einer Wohlstandsgesellschaft als in Armut. Daher sind wir im Vergleich zu dem, was Paulus und viele andere damals besaßen, regelrecht reich. So sollten wir uns dieses Wort Gottes merken: „So spricht der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt und dessen Name der Heilige ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15).
Reichtum
Für Juden war das nicht so einfach, mit Armut zufrieden zu sein. Sie sahen äußeren Segen als Folge des Gehorsams an. Daher hielten sie nach äußerem Segen Ausschau: in der Stadt und auf dem Feld, in der Familie und in der Viehzucht, einfach überall. Für sie war Reichtum eine besondere Gunst Gottes (vgl. auch Mk 10,21–26). Dieser Brief richtet sich an Menschen aus dem Judentum. Aber schon damals war der Reichtum vergänglich. Daher wird dem Reichen gesagt, dass er sich den ewig bleibenden Dingen widmen und nicht auf den vergänglichen Reichtum vertrauen soll (vgl. Ps 62,11; Spr 23,4.5; Jer 17,11).
Man kann sogar sagen, dass alles, was sich auf rein zeitliche Segnungen stützt, von Jakobus verurteilt wird. Gott kehrt das Urteil der Welt in allen diesen Dingen um. Die Blume des Grases ist Teil der Natur, die Gott geschaffen hat. Sie gehört nicht zu der bösen Welt. Die Sünde aber hat das alles kurzlebig gemacht.
So wird das, was in den Augen der Menschen schön und herrlich ist, auf einen Platz von verdorrendem Gras gebracht (vgl. Hiob 14,2). Das ist etwas, was der Herr in Johannes 15,6 mit solchen vergleicht, die nicht in Ihm bleiben und somit falsche Bekenner sind. So, wie es sicher ist, dass falsche Bekenner gerichtet werden, so sicher ist das Vergehen dessen, was im Leben eines Menschen nicht aus der Gemeinschaft mit Gott hervorkommt!
Dabei müssen wir uns vor falschen Schlüssen hüten: Im Gegensatz zu Jakobus 5,1 sind die Reichen in Kapitel 1 Gläubige. Ein solcher Erlöster darf sich tatsächlich rühmen! Aber er rühmt sich seiner Niedrigkeit. Sein Ruhm ist nicht der vergängliche Reichtum. Er ist vollständig von der Gnade abhängig. Kommt der Gläubige so zu Gott, gehört er trotz seiner äußeren Reichtümer zu denen, die geistlich arm sind (Mt 5,3). So besitzt er herrliche Verheißungen. Dann kennt er auch seine erhabene Stellung und macht sich bewusst, dass die äußerlich guten Umstände vergehen.
Reiche und Reichtum in den Schriften
Abgesehen davon, dass Jakobus unter der Inspiration des Heiligen Geistes schrieb, kannte er die Belehrungen über Reiche und Reichtum schon von seinem Herrn (Mt 19,23; Lk 18,23–27). Christus hatte bereits darauf hingewiesen, was für eine Gefahr der Reichtum für den Menschen bedeutet. Unter „reich“ verstehen wir in diesem Zusammenhang jemanden, der mehr besitzt als der Durchschnitt der jeweiligen Bevölkerung. Aber dieser Reichtum ist sehr trügerisch. „Das Vermögen des Reichen ist seine feste Stadt, und in seiner Einbildung wie eine hochragende Mauer“ (Spr 18,11). Leider gibt es solche Einbildung immer mal wieder im Volk Gottes, weil man den Betrug des Reichtums verkennt (Mt 13,22).
Daher verwundert es nicht, dass nicht nur Jakobus darauf hinweist, wie gefährlich Reichtum für einen Menschen ist. „Gebt Acht und hütet euch vor aller Habsucht, denn auch wenn jemand Überfluss hat, besteht sein Leben nicht durch seine Habe“ (Lk 12,15). „Der Wandel sei ohne Geldliebe; begnügt euch mit dem, was vorhanden ist, denn er hat gesagt: ‚Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen’“ (Heb 13,5). „Indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig“ (2. Kor 4,18). „Seid nicht besorgt für euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken sollt, noch für euren Leib, was ihr anziehen sollt“ (Mt 6,25). Diese Belehrungen scheinen eine besondere Dringlichkeit zu haben.
Bevor wir uns in Verbindung mit dem nächsten Vers etwas ausführlicher mit dem zweiten Bild beschäftigen, das Jakobus aus der Natur anführt, sehen wir noch kurz ein weiteres Mal in das Alte Testament. Ob Jakobus an die Worte Jeremias dachte, als er diesen Vers hier aufschrieb? „So spricht der Herr: Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, und der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums, sondern wer sich rühmt, rühme sich dessen: Einsicht zu haben und mich zu erkennen, dass ich der Herr bin, der Güte, Recht und Gerechtigkeit übt auf der Erde; denn daran habe ich Gefallen, spricht der Herr“ (Jer 9,22.23).
Die Vergänglichkeit des Reichtums (V. 11)
Im elften Vers führt Jakobus das Bild der vergänglichen Blumen weiter aus. Was gibt es, das schneller in Vergessenheit gerät als eine verblühte Blume oder verdorrtes Gras? So auch die irdischen Reichtümer eines Menschen, in diesem Fall eines Reichen. Sie sind letztlich nichtig und werden bald der Zerstörung anheimfallen. Eigentlich weiß jeder Reiche, wenn er darüber nachdenkt, dass sein Vermögen einer Blume gleicht, die nur von kurzer Dauer ist. Eigenartig nur, dass sich viele Menschen trotzdem auf diesen vergänglichen Reichtum stützen.
Müssen wir nicht sogar zugeben, dass auch wir Christen, ob reich oder nicht, so oft auf diese sichtbaren Dinge unser Vertrauen setzen? Wie oft sind wir nicht durch persönliche Überzeugung klug geworden, sondern wurden durch Wirtschafts- und Finanzkrisen aus einer vermeintlichen Sicherheit herausgerissen? Und wie schnell vergessen wir diese Lehren wieder und machen weiter wie zuvor.
Aus diesem Vers lernen wir auch das Wesen dieser Welt und wie schnell ihre Herrlichkeit vergeht. Das ist die Welt, die wir so leicht lieben: „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm … Und die Welt vergeht und ihre Lust; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit“ (1. Joh 2,15–17). Auch Jakobus setzt sich im weiteren Verlauf seines Briefes mit dieser Welt auseinander: „Ihr Ehebrecherinnen, wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft gegen Gott ist? Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, erweist sich als Feind Gottes“ (Jak 4,4).
Manchmal könnte man denken, dass es nutzlos sei, im Blick auf die Umstände dieser Welt auf Gott zu vertrauen. Vergehen nicht auch die Umstände wie des Grases Blume? Warum sollte man dann die Notwendigkeit sehen, im Blick auf vergängliche Umstände auf Gott zu vertrauen?
Wir sollten uns immer bewusst machen, dass wir unserem Wesen nach als Kinder Gottes zu Gott gehören, nicht zu dieser Welt. Nicht in den Reichtümern sollten wir uns freuen (sie vergehen), sondern in den Herzensübungen, von denen Jakobus gesprochen hatte. Daher vertrauen wir auch in vergänglichen Umständen auf Gott. Wir sehen auf Ihn und sein Urteil und erbitten Weisheit von Ihm.
Was uns betrifft, ist die Herrlichkeit dieser Welt nur Eitelkeit und Lüge. Die Liebe begehrt zu dienen, die Eigenliebe dagegen, sich bedienen zu lassen und den Reichtum dieser Welt, der so glitzert, zu genießen. Das aber bedeutet, auf die Vergänglichkeit dieser Welt zu setzen.
Die ewigen, unsichtbaren Dinge
Die ewigen Dinge, die unsichtbar sind, haben nicht nur einen ganz anderen Wert, sondern sind auch von grundsätzlich anderer Art. Sie stehen sowohl dem niedrigen Menschen als auch dem reichen Bruder zur Verfügung. Dasselbe himmlische Erbteil und dieselbe Herrlichkeit in den Himmeln warten auf beide. Wenn wir uns dessen bewusst sind, wird keiner den anderen beneiden oder verächtlich auf ihn herabschauen.
Den konkreten Vergleich, den Jakobus hier zieht, findet man schon im Alten Testament, und das nicht nur einmal. In Jesaja 40,6–8 lesen wir: „Stimme eines Sprechenden: Rufe! Und er spricht: Was soll ich rufen? ‚Alles Fleisch ist Gras, und all seine Anmut wie die Blume des Feldes. Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; denn der Hauch des Herrn hat sie angeweht. Ja, das Volk ist Gras. Das Gras ist verdorrt, die Blume ist abgefallen; aber das Wort unsers Gottes besteht in Ewigkeit.’“ In diesem Vers geht es um den großen Gegensatz zwischen dem Geschöpf und seinem Schöpfer sowie dem Wort Gottes.
Diesen Unterschied zwischen dem ewigen Wort und dem vergänglichen Geschöpf greift auch Petrus in seinem ersten Brief auf (1. Pet 1,23.24). Er spricht vom bleibenden Samen des Wortes Gottes, der uns wiedergezeugt hat. Jakobus spricht davon in Kapitel 1,18. Er verbindet in unserem Vers offenbar das Urteil über die Person in dieser Welt mit dem, was er besitzt: Es ist alles vergänglich.
Jesaja steht mit seinen Gedanken nicht allein da. Offenbar waren die Gräser und Blumen im Orient grundsätzlich ein bekanntes Symbol der Vergänglichkeit des Lebens (vgl. Ps 90,5.6; 102,5.12; 103,15.16; Jes 51,12). Sie stehen für die Nichtigkeit des Menschen, für seine Vergänglichkeit, für seine Kraftlosigkeit im Vergleich zu anderen Naturerscheinungen. Wir finden dieses Bild zudem als einen Hinweis auf das Vergehen der Ungerechten (Ps 37,2.35.36) und das Gericht Gottes (Jes 37,27).
Man möchte fast sagen, dass Jakobus die Vergänglichkeit des Reichen hier mit einer enormen Härte beschreibt. In wenigen Stunden kann die Blüte des Lebens und der Natur verwelkt sein. Mit dem Reichen ist es nicht anders. Unter dieser Perspektive ist er wie ein armer Hund. Alexander der Große soll befohlen haben, seine offene, leere Hand von der Totenbahre herabhängen zu lassen, damit jeder sehen könne, dass auch ein König im Tod kraftlos ist und nichts mitnehmen kann. Wenn uns diese Weitsicht mehr kennzeichnen würde!
Jakobus benutzt an dieser Stelle eine interessante Zeitform (gnomischer Aorist) und zeigt damit an, dass dieses Verderben und Zugrundegehen geradezu charakteristisch für die Gräserblüten ist. Das sollte uns umso mehr aufrütteln im Blick auf das Äußerliche, das uns oft derart beeindruckt. Der reiche Landwirt (Lk 12,16 ff.) kann uns hier als ein warnendes Beispiel dienen.
Die Sonne und ihre Bedeutung
Als Ursache für das Verblühen nennt Jakobus den Sonnenaufgang und die Mittagsglut. Auch dieses Bild war den Empfängern gut bekannt. Bei Jona war es die aufgehende Sonne, die in Verbindung mit dem Wurm und einem schwülen Ostwind zum Verdorren des Wunderbaums führte (Jona 4,8). In Matthäus 13,6 lesen wir, dass es gerade die aufgegangene Sonne ist, die den Samen verdorren lässt, der auf das Steinige gesät worden ist. In seiner Erklärung weist der Herr Jesus darauf hin, dass die Sonne für Drangsal und Verfolgung steht. Solche Prüfungen sind oft die Reaktion auf Treue und das Bezeugen der Wahrheit.
Die Welt in ihrer derzeitigen Gestalt vergeht (1. Kor 7,31). Sobald die Sonne aufgeht, wird sie mit ihrer Glut das Gras, alle menschlichen Errungenschaften, verbrennen. Doch hier steht sogar: Die Sonne ist bereits aufgegangen. Vielleicht kann man hier die Sonne unter zwei verschiedenen Blickrichtungen betrachten:
- Einmal wird sie aufgehen als die Sonne der Gerechtigkeit (Mal 3,20), als der Mittelpunkt eines neuen Systems, das Gott in der neuen Schöpfung aufbauen wird. Dann wird die Sonne Segen und Heilung bedeuten für die Gerechten, aber Gericht für die Ungerechten (vgl. Off 16,8). Diese Verurteilung betrifft die ganze Welt und auch die Namens-Christenheit. Dieses Urteil kann in dem verdorrten Gras und der abgefallenen Blume gesehen werden.
Das aber ist noch Zukunft. Jakobus spricht hier jedoch eigentlich von einer Zeit, in der dieses neue System des Tausendjährigen Reichs noch nicht Wirklichkeit ist. Sein Brief ist eine Art Endzeitbrief einer vorherigen Epoche. Aber schon in dieser, unserer Zeit ist in den Gläubigen etwas von diesem Neuen zu sehen, das Gott äußerlich erst noch schaffen wird. Die Gläubigen sind von dieser neuen Schöpfung eine gewisse Erstlingsfrucht (vgl. Jak 1,18). Das heißt, wir kennen diese Sonne und das mit ihr Verbundene schon heute. Und dadurch strahlen wir auch heute schon etwas von diesem künftigen Segen und der Ankündigung des Gerichts aus.
- Andererseits erfahren die Gläubigen schon jetzt in ihrem Leben die Bedeutung der Glut der Sonne. Wir sind heute diese Erstlingsfrüchte der neuen Schöpfung. Wir erfahren bereits jetzt die Kraft der Sonne im Gericht des Herrn praktischerweise in unserem Leben. Und wohl uns, wenn wir unser Leben und unseren Besitz mit dem „Maßstab“ der Sonne messen. Wir sollten nicht vergessen, dass es Dinge gibt, die von der Sonne nicht angegriffen werden können. Diese sollten uns wichtig und wertvoll sein. Das, was unter Menschen hoch ist, ist ein Gräuel vor Gott. Das dagegen, was unsichtbar ist, bleibt.
So kann man Folgendes festhalten: Die Sonne steht hier für die Hitze der Prüfungen in der Welt und das Gras für die Menschheit insgesamt. Die Blume in ihrer Schönheit weist auf den reichen und noblen Menschen hin. Er muss früher oder später sterben und verliert alles, was er besitzt. „Wir haben nichts in die Welt hereingebracht, so ist es offenbar, dass wir auch nichts hinausbringen können“ (1. Tim 6,7).
Dann spricht Jakobus von dem Weg der Reichen, wobei er ein anderes Wort als in Vers 8 verwendet. Diese Schritte des Reichen beziehen sich auf seine Unternehmungen, das Gehen, die Reisen, den Lebenswandel, die Lebensführung, das Geschäftsleben, den Ruhm, die Ehre, das Geld. Das alles wird vergehen. Gerichtet wird der Reiche in diesen Wegen, aber auch der Reichtum, der ihn kennzeichnet.
Kennzeichen des Glaubens (6): Beständigkeit (V. 12)
„Glückselig der Mann, der die Prüfung erduldet! Denn nachdem er bewährt ist, wird er die Krone des Lebens empfangen, die er denen verheißen hat, die ihn lieben“ (V. 12).
Wir haben gesehen, dass Vers 12 wie eine Gegenüberstellung zu den Versen 9–11 ist. Diese beiden Abschnitte gehören zusammen. In den Versen 9–11 lernen wir, dass das Sichtbare vergänglich ist. In Vers 12 stellt uns Jakobus die Krone des Lebens vor, die unvergänglich ist. Wir bekommen sie, wenn wir bis zum Ende ausharren. Mit anderen Worten: Der siegreiche Glaube wird belohnt werden, denn Gott belohnt Treue und Ausharren. In beiden Abschnitten lernen wir, dass wir auf das Ende sehen müssen. Das Ende dessen, der nur durch äußeren Reichtum und nicht durch Glauben geprägt ist, ist der Tod. Der durch Reichtum geprägte Mensch „verwelkt“. Das Ende des Ausharrenden ist Leben und Freude.
Jakobus kommt jetzt auf den Charakter des neuen Menschen zurück, für den das Leben auf der Erde eine Prüfung darstellt. Es geht hier wieder um dieselbe Art von Prüfungen, die schon in den Versen 2–4 vor den Augen von Jakobus standen. Der Erlöste ist dann glücklich, wenn er Prüfungen erduldet und sie mit Ausharren erträgt. Das Wort „erdulden“ (gr. hypomeno) ist das zu dem Ausdruck „Ausharren“ (gr. hypomone) gehörende Verb. So gibt dieser Vers dem zweiten Vers seinen Rahmen: Wer erduldet und nicht flieht, wird auch eine Belohnung bekommen. Wahre Freude haben wir nur dann inmitten von Prüfungen, wenn wir bereit sind, sie zu erdulden.
Es ist für den Christen normal, dass er Prüfungen auf sich nehmen muss (1. Pet 4,12). Sein Leben ist wie eine Kette von Prüfungen. Sie werden zu einem wertvollen Band zusammengeführt, wenn er das Ziel, den Himmel, erreicht. Heute befindet er sich geistlicherweise in dieser Welt. Sie trägt den Charakter einer Wüste, die mit Prüfungen verbunden ist. Während dieser Zeit steht das Ausharren im Vordergrund. Später folgt dann die Herrlichkeit (2. Tim 2,11.12): Das ist die Berufung des Gläubigen (vgl. z. B. 2. Thes 1,11). Er wird hier auf der Erde geprüft und bleibt, wenn er im Glauben lebt, durch die Gnade Gottes treu und fest inmitten der Prüfungen.
Zum Leben des Christen gehören Prüfungen
Es mag überraschend klingen, aber ein Leben ohne Prüfungen ist kein Leben. Was würde aus uns werden, wenn unser Weg stets frei wäre von Schwierigkeiten und Nöten? Der Bibelausleger John Nelson Darby hat das einmal sinngemäß ausgedrückt: Für einen Christen gibt es kaum eine schlimmere Strafe oder einen größeren Beweis des Missfallens Gottes, als dass Er für eine Zeitlang sich selbst und seinem eigenen Willen, seinem eigenen Geist überlassen bleibt (vgl. Hos 4,17).
Wenn Gott uns einfach gewähren ließe und nicht eingreifen und züchtigen würde, wie schlimm wären die Folgen in unserem Leben. Gott führt uns durch Proben und Schwierigkeiten, damit unser Blick, der so leicht am Sichtbaren haftet, auf die unsichtbare Welt gelenkt wird.
In diesem Sinn führt dieser Vers die Gedanken der Verse 6–11 weiter und zeigt die Wertlosigkeit des irdischen Reichtums. Die Gläubigen sollten erkennen, wie instabil der Unglaube macht und wie vergänglich die natürlichen Quellen sind, auf die man sich so gerne stützt. Im Unterschied dazu wird derjenige glückselig genannt, der bereit ist zu erdulden, denn er vertraut auf Gott. Ohne dieses Vertrauen wären wir nicht in der Lage zu erdulden.
Man kann Vers 12 auch als eine Art Zusammenfassung der vorherigen Ermahnungen auffassen. Glückselig wird derjenige genannt, der Prüfungen erduldet. Auch hier sind wir wieder auf alttestamentlichem Boden. Denn dort gab es manche, auf welche diese Beschreibung zutrifft und die in Prüfungen oder als Ergebnis davon tiefe innere Freude hatten. Das war so bei Hiob, Abraham, David und den Propheten, Männer und Frauen des Glaubens im Alten Testament. Sie werden in dieser Hinsicht ausdrücklich in Hebräer 11 genannt. Dasselbe soll jedoch auch für den Gläubigen heute wahr sein.
Mancher Kranke ist auf diese Weise schon zu einer Illustration der scheinbar widersprüchlichen Worte von Eliphas in Hiob 5,17.18 geworden: „Siehe, glückselig der Mensch, den Gott straft! So verwirf denn nicht die Züchtigung des Allmächtigen. Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt, und seine Hände heilen.“ Kann jemand glückselig sein, den Gott straft und in Prüfungen schickt? Ja, denn Gott tut das aus Liebe. Und Er sucht unser Bestes und den Glauben, den Er fördern möchte. Dann verstehen wir zusätzlich, dass es nicht allein um ein Zeugnis vor den Augen von Menschen geht, sondern auch um die Haltung der Sanftmut Gott gegenüber.
In einzigartiger Weise wird die Bewährung durch den offenbart, der mehr als alle anderen erduldet hat. Christus allein hat das in dieser vollkommenen Weise getan. Er wird damit für uns sowohl zum Ansporn als auch zum Maßstab. Was für eine Ermutigung wird dem gegeben, der auf diesem Weg der Prüfung ausharrt wie sein Meister. Gottes Gnade hat ihn auf diesen Weg gestellt. Der Glaube nimmt das Wort Gottes an, das uns Gottes heilige Liebe offenbart, und denjenigen, der sie uns gezeigt hat. Christus starb nicht nur für unsere Sünden, sondern schenkt uns jetzt die Kraft und Ausdauer, Ihn in seiner Treue und Hingabe nachzuahmen und Ihm ähnlicher zu werden.
Die Belohnung nach der Bewährung
Wenn wir durch die Gnade Gottes treu bleiben, wird uns eine wertvolle Belohnung versprochen. Sie wird hier im Bild einer Krone (gr. stephanos) vorgestellt. Mit dieser Krone ist ein geflochtener Kranz oder eine Girlande gemeint. So etwas wurde früher als Siegespreis in den öffentlichen Spielen verteilt. Diese Krone ist das Bild von ewigem Segen, der dem gegeben wird, der den Herrn Jesus liebt und daher in Prüfungen ausharrt. Das Ergebnis der Erprobung, die wir nur durch die Kraft Gottes bestehen konnten, ist daher zur Ehre Gottes und seines Christus (vgl. 1. Pet 1,6.7). Ihm werden wir letztlich unsere Kronen in Anbetung zu Füßen werfen (vgl. Off 4,10).
Ein eindrucksvoller Gesichtspunkt liegt darin, dass die ersten vier Vorkommen der Krone (im Griechischen: stephanos) mit unserem Retter zusammenhängen. Wir denken an Ihn, als Er am Kreuz litt und Ihm diese furchtbare Dornenkrone auf den Kopf geschlagen wurde. Es waren Dornen, die viel länger sind als diejenigen, die wir heute im Allgemeinen kennen (vgl. Mt 27,29; Mk 15,17; Joh 19,2.5). Wenn Er diese Dornenkrone des Spotts nicht getragen und das Werk der Erlösung nicht ausgeführt hätte, gäbe es keine Krone für irgendeinen Menschen. Es gäbe überhaupt keine Gläubigen.
Jakobus preist an dieser Stelle den glückselig, der sich in den Prüfungen bewährt hat. Es geht nicht um äußerliches Glück, sondern um inneren Segen, um innere und geistliche Freude. Das alles erfährt derjenige, der sich in Prüfungen bewährt. Mit dieser Bewährung wird der Gläubige das Ziel erreichen. Oder um mit Jakobus zu sprechen: Das Ausharren hat dann ein vollkommenes Werk, wenn der Gläubige durch die Prüfungen hindurch auf Gott vertraut hat und nicht zu Fall gekommen ist.
Der Zeitpunkt der Bewährung
Der Zeitpunkt, an dem die Bewährung des Ausharrens vollendet ist, und das Schenken der Krone des Lebens, fallen zusammen. Wir empfangen die Krone am Richterstuhl des Christus (2. Kor 5,10; Röm 14,10). Nach 2. Timotheus 4,8 wird der Herr diese Belohnung bei seinem zweiten Kommen sichtbar machen, bei seiner Erscheinung vor den Augen dieser Welt.
Das Thema „Krone“ ist eines, in dem sich die verschiedenen Schreiber des Neuen Testaments miteinander vereinen. Sie geben den Kronen zwar unterschiedliche Namen, aber mit Belohnung haben sie alle zu tun (vgl. 1. Kor 9,25; 2. Tim 2,5; 4,8; 1. Pet 5,4; Off 2,10).
Die Krone des Lebens ist eine besondere Belohnung für diejenigen, die Gott lieben. Wir können sie auch als Märtyrer-Krone bezeichnen (vgl. Off 2,10). Wir sehen in unserem Vers, dass die Liebe zu Gott eng mit der Bewährung in der Versuchung verbunden ist. In der Prüfung gibt uns die Gemeinschaft mit Ihm Kraft zum Ausharren. Jakobus scheint hier einen gewissen moralischen Bezug zu Matthäus 24,13 herzustellen. Nur derjenige, der bis zum Ende ausharrt, hat die Verheißung des Lebens. Wer sich also in der Prüfung bewährt, wird am Ende mit dem ewigen Leben belohnt.
Heißt das, dass wir ewiges Leben durch eigene Anstrengung erlangen können, wie Gott das dem Volk Israel verheißen hatte, wenn es das ganze Gesetz halten würde? Natürlich nicht! Wir wissen, dass ewiges Leben nicht nach menschlicher Anstrengung und Verantwortung vergeben wird, weil wir in Treue etwas erduldet hätten. Leben bekommen wir vom Herrn geschenkt. Wir haben es nicht erarbeiten können, sondern das Werk Christi im Glauben angenommen (Joh 1,12; 10,28; Röm 6,23; Eph 2,8.9). Gott gibt dem glaubenden Sünder ewiges Leben (Joh 10,27.28).
Die volle Entfaltung des Lebens
Die Belohnung ist dagegen etwas anderes. Am Tag des Lohns wird der bewährte Gläubige nicht ewiges Leben erhalten, weil er treu war. Nein, die Belohnung für die Bewährung ist die Krone des Lebens, also der volle, reine Genuss des ewigen Lebens ohne die Beschränkung durch das Fleisch. Dann werden wir nicht mehr durch Umstände oder Prüfungen beeinträchtigt sein.
Die Freude an dieser Belohnung aber hat derjenige, der ausharrt, schon heute. Das ist wie bei den Verheißungen an die Überwinder in Offenbarung 2 und 3. Letztlich gelten die entsprechenden Verheißungen für alle Erlösten, wenn sie im Himmel sein werden. Der Stellung nach gilt diese Verheißung jedem Kind Gottes, denn dem Grundsatz nach lieben wir Gott. Dennoch muss sich hier jeder ins Licht gestellt fühlen, wie es um seine praktische Liebe bestellt ist. Das heißt, nur diejenigen, die überwinden und den Herrn lieben, genießen dieses Leben schon heute.
Was bedeutet es, Ihn zu lieben? Johannes gibt in seinen Schriften dazu Auskunft. Ihn zu lieben bedeutet, seinem Wort und seinen Worten gehorsam zu leisten (vgl. 1. Joh 5,3; 2,5.6; Joh 14,15.21.23; 15,10).
Wir lehnen uns gegen Übungen oft auf, da wir uns selbst lieben, uns verteidigen und rechtfertigen wollen. Wenn wir Ihn jedoch lieben, dann sollten, dann werden wir um seinetwillen ausharren. Es bleibt die Frage: Wer ist „ihn“, „er“ in Vers 12? Spricht Jakobus von Gott oder vom Herrn Jesus? Natürlich ist es nicht wesentlich, hier zu unterscheiden, denn der Herr Jesus ist Gott, wie wir im ersten Vers bereits gesehen haben. Dennoch wünscht der Geist Gottes, dass wir sein Wort mit Einsicht lesen.
Beide Bedeutungen von „ihn“ liegen eng beieinander. Wenn wir darüber nachdenken, von wem diese Prüfungen ausgehen, kommen wir zu Gott (V. 5). Auch wenn vom Herrn in Vers 7 gesprochen wird, scheint dies die Übernahme des alttestamentlichen Namens Jahwe (Jehova, Herr) zu sein. So neige ich dazu, hierin in erster Linie eine Beziehung zu Gott zu sehen.
Krone und Treue
So haben alle Kronen, die wir im Neuen Testament finden, mit unserer Treue dem Herrn gegenüber zu tun. Es gibt eine Belohnung für diese Treue. Jakobus zeigt uns, dass uns unsere Liebe zu Gott und unser Vertrauen auf Ihn befähigen, Prüfungen zu bestehen. Wenn wir uns seiner Liebe bewusst sind und Ihn lieben, der uns zuerst geliebt hat (1. Joh 4,19), wissen wir zudem, dass alle Dinge zu unserem Guten mitwirken (Röm 8,28), auch Prüfungen.
Wir leiden heute inmitten von Prüfungen. In der Zukunft aber werden wir eine Krone der Herrlichkeit tragen dürfen. Das ist die Verbindung zu den Überwindern in Smyrna (Off 2,10). Sie hatten Leiden zu ertragen, die außerordentlich schwer waren. Umso herrlicher stellt ihnen Jakobus die Krone als Belohnung für Ausharren vor. Auf der Erde starben sie, dann aber werden sie leben. Dieses Leben wird ihnen niemand nehmen können.
Es bleibt noch zu klären, worauf Jakobus mit seiner Krone damals eigentlich anspielte. Wegen der orthodoxen jüdischen Abscheu vor Sportwettkämpfen und -spielen, bei denen es den oben genannten Siegerkranz gab, ist es eher unwahrscheinlich, dass sich Jakobus in direkter Weise auf solch einen Siegerkranz bezieht. Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass er sich ja gerade an Menschen israelitischer Herkunft richtet.
In der Septuaginta wird der Ausdruck „Kranz“ (stephanos) auch dafür benutzt, eine bestimmte Ehre und Ehrerweisung zu symbolisieren. Die Krone oder der Kranz waren im Altertum zudem ein Symbol für Leben, Freude und Segen, auch für Königtum, Würde und Ehre (2. Sam 12,30; 1. Chr 20,2; Ps 21,4; Spr 12,4; 16,31; Klgl 5,16; Hes 16,12; Sach 6,11). Im ewigen Leben ist dies alles vereint.
Jakobus geht es um eine unvergängliche, bleibende Krone. Es hat den Anschein, dass er seinen jüdischen Genossen das Fazit der Verheißung Gottes durch Mose in 5. Mose 30,15–20 vor die Herzen stellen möchte. Gläubige aus Israel wollten im Land Kanaan wohnen (V. 20). Gab es denn Größeres? Zweifellos! Sie durften das Leben in seinem eigentlich himmlischen Charakter genießen, wenn sie ausharren würden. Jakobus führt das nicht weiter aus, weil das nicht sein Thema ist. Aber er spricht von keinem anderen Leben als von diesem christlichen, ewigen Leben.
Wahrer Trost
Jakobus schrieb keinen Beileidsbrief an Geprüfte. Er verfasste einen Trostbrief. Wir sollten aber nicht denken, Trost sei emotional oder gefühlsorientiert. Gottes Trost kommt nicht durch Gefühle, sondern durch gesunde Lehre. Das ist für uns ein Vorbild, da auch wir immer wieder mit Trauernden und Geprüften zu tun haben. Wir sollen nicht nur gefühlvoll trösten, obwohl wir Mitgefühl haben sollten. Unsere Worte aber sollten auch gehaltvoll und vor allem Worte von Gott sein, die sich auf die Bibel stützen.
Prüfungen sind schwer. Deshalb steht man in Gefahr aufzugeben. Jakobus aber ermutigt uns durchzuhalten und zu erdulden. Das ist durchaus aktiv gemeint. Parallele Ermutigungen zum Durchhalten und Bewähren finden wir in Matthäus 5,10–12, 24,13, in Römer 5,4, 1. Petrus 2,20, Psalm 119,74 75, Daniel 12,12 und auch in Jakobus 5,11. Wer durchhält, ist bewährt. Er ist ein lebendiger Christ, der die Wahrheit nicht nur theoretisch und dem Bekenntnis nach kennt, sondern in seiner Lebenspraxis. Leidensscheu zu sein, hindert uns somit an der Bewährung.
Zum Abschluss noch zwei Gedanken im Blick auf die Prüfungen:
- Jakobus zeigt uns, dass es sich lohnt, Prüfungen zu erdulden, weil Gott mit ihnen ein Ziel verfolgt, das sogar zu unserer eigenen Freude und Herrlichkeit ist. Sowohl der reiche als auch der arme Mann sollen von diesem Ende ausgehend die richtigen Maßstäbe an ihr Leben setzen. Das Ertragen der Prüfung bedeutet nicht Freude, sondern Schmerz, wie der Apostel Petrus uns sagt, doch das Herz öffnet sich der Liebe Gottes, und andere merken, dass wir den Herrn lieben. Das Ergebnis der Erprobung ist dann diese wunderbare Krone des Lebens. Der geprüfte Gläubige mag in dieser Welt sein Leben verloren haben, aber in der künftigen Welt wird er mit Leben gekrönt. Das Ende eines Ungläubigen ist dagegen furchtbares Elend.
- Ein zweiter wichtiger Punkt besteht darin, dass wir uns nicht mit Prüfungen im Vorhinein beschäftigen müssen. Gott gibt mir die Kraft und den Glauben genau dann, wenn die Prüfung kommt. Energie gibt es nicht auf Vorrat. Gott allein kennt das, was morgen auf mich zukommt, und wir dürfen Ihm darin ganz vertrauen (vgl. Mt 6,34). Wir aber fragen uns selbst, was unsere Haltung ist, wenn unser Glaube erprobt wird. Ermutigen wir uns dann gegenseitig dazu auszuharren, oder bitten wir sofort um das Ende der Prüfung? Die Bewährung wird kommen, und damit das Ende aller Prüfungen. Gott aber bestimmt diese Zeit. Dann, aber auch erst dann, wird das Ausharren belohnt durch die Krone des Lebens.
Kennzeichen des Glaubens (7): Überwinden des Bösen (V. 13–15)
„Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht; denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand. Jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird. Danach, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod“ (V. 13–15).
In den Versen 13–15 finden wir nun noch ein siebtes, letztes Kennzeichen des Glaubens: Der Glaube überwindet das Böse, das er in seinem Herzen vorfindet. Er klagt nicht Gott an, sondern erkennt, dass die Begierden aus ihm selbst hervorkommen. Aber er gibt ihnen nicht nach, sondern überwindet sie mit Gottes Hilfe.
Prüfungen – Versuchungen
In den Versen 2–12 ging es um Prüfungen, die von außen auf den Gläubigen zukommen. Wir haben jedoch schon beim Überblick über die verschiedenen Arten von Prüfungen gesehen, dass das Wort im Grundtext (gr. peirasmos) zwei verschiedene Bedeutungen hat: Prüfung oder Versuchung. Es bezieht sich nicht nur auf Prüfungen von außen, sondern auch auf Versuchungen, die von innen kommen. Das sind Begierden unserer alten Natur. Diese Art von Versuchung ist von ihrer Art und von ihrem Charakter ganz anders als die Prüfung von außen.
Der Wechsel in der Bedeutung vom objektiven Aspekt (Prüfungen von außen) zum subjektiven (Prüfungen von innen) wird nicht nur aus dem Zusammenhang dieses Abschnitts deutlich. Jakobus drückt sich in den Versen 13–15 interessanterweise auch anders aus. Statt des Substantivs (Hauptworts) „Prüfung“, das mit der Erwartung eines positiven Ziels bzw. einer Belohnung verbunden wird (V. 3.12), finden wir in den Versen 13–15 eine Verbform („versuchen“). Hier verbindet Jakobus diese Versuchungen mit dem Gedanken an Sünde. Er spricht von der Quelle der Versuchung des Menschen (V. 13.14) und stellt auch das Ergebnis vor, wenn man dieser Versuchung nachgibt (V. 15). Dem schließt er eine Warnung an, die sich sowohl auf das Vorherige als auch auf das Nachfolgende beziehen kann (V. 16).
Welche Verbindungen gibt es zwischen Prüfungen von außen und Versuchungen von innen? Prüfungen von außen können dazu führen, dass wir Versuchungen von innen nachgeben. Wir erliegen der Gefahr, inmitten von Übungen wie Krankheit, Druck von außen, Arbeitslosigkeit, familiäre Probleme, Not in der örtlichen Versammlung, über Gott zu klagen. Vielleicht stellen wir dann seine Liebe in Frage und widerstehen seinem Willen, werden zornig oder geben z. B. sexuellen Begierden nach, weil wir keinen Ehepartner gefunden haben.
In einem solchen inneren Zustand werden wir empfänglich für die List Satans, der uns dazu drängt, vor den Schwierigkeiten zu fliehen. Genau darum geht es bei den Versuchungen, von denen Jakobus jetzt spricht.
Zunächst warnt er uns mit diesem Vers davor, äußere Prüfungen mit den Versuchungen zu verwechseln, die aus unserem Fleisch von innen kommen. Gott kann uns durch äußere Umstände prüfen, aber Gott kann nicht vom Bösen versucht werden. Zudem versucht Er niemand zum Bösen. Wir dagegen können vom Bösen durch unsere Begierden versucht und dadurch verleitet werden, das Böse auszuführen. Dazu ist unser altes Ich fähig.
Gott steht über allem und hat keine Verbindung zum Bösen (V. 13)
Wir lernen in diesen Versen etwas von unserer Torheit. Wir können so ungerecht werden, Gott zu beschuldigen, dass wir in Prüfungen kommen. Wir machen Ihn womöglich dafür verantwortlich, dass wir Versuchungen von innen erleben. Gott aber steht über allem Bösen. Es ist seinem Wesen fremd, versucht zu werden. Es steht im Gegensatz zu seinem Wesen, andere zu versuchen, sich mit Bösem einzulassen oder eine Beziehung zum Bösen einzugehen.
Gott beschuldigen
Während Jakobus bisher tröstlich geredet hat, spricht er jetzt streng. Vermutlich erkannte Jakobus, dass Menschen die Schuld für Prüfungen und ihr Versagen in Prüfungen gerne auf Gott abschieben.
Es gab und gibt Menschen, die stolz und ungerecht über Gott urteilen, wenn sie Prüfungen ausgesetzt sind. Sie machen Gott für ihr Versagen verantwortlich. Jakobus lehnt den Gedanken, dass Gott Menschen versuchen würde, kategorisch ab. Niemand hat das Recht, Gott für das Böse haftbar zu machen. Selbst die schwierigsten Prüfungen rechtfertigen ein solches Anklagen nicht. Wie oft sind wir nicht bereit, die Verantwortung bei uns selbst zu suchen und die in uns wohnende Sünde als Quelle zu erkennen?
So handelte der Mensch von Anfang an. Er versuchte immer, seine Schuld auf Gott abzuwälzen. Das erste Beispiel ist gleich der erste Mensch: Adam (vgl. 1. Mo 3,12). Wir aber sind auch nicht besser. Wir erkennen nicht, dass es unsere eigene Narrheit ist, die uns zum Verhängnis wird (vgl. Spr 19,3).
Eine andere Strategie besteht darin, Satan für unser Fallen verantwortlich zu machen, obwohl wir selbst versagt haben. Natürlich ist es wahr, dass Satan uns dazu antreibt, unsaubere Gedanken zu pflegen und unseren Begierden nachzugeben. Aber davon spricht Jakobus hier nicht. Später beschreibt er den Teufel in seiner Aktivität (vgl. Jak 4,7). Aber die Begierden kommen aus uns selbst hervor.
Viele Menschen behaupten heute und stützen sich dabei auf kirchlich-philosophische Grundsätze: „So hat Gott mich gemacht, dann kann ich mich selbst auch nicht ändern.“ Wer so redet, übersieht jedoch, dass in Gott nichts Böses existiert. Dieser Vorwurf ist nämlich in einer solchen Aussage implizit enthalten. Wir können auch die vielen Unglücke in dieser Welt nicht auf Gott schieben. Von Gott kommt nichts Böses, wohl aber Zucht und Gericht. Gott prüft uns, wie wir gesehen haben, indem Er unseren Glauben auf die Probe stellt (5. Mo 8,2; Ps 7,10; 139,23; Jer 9,6).
Wir haben in den ersten Versen gesehen, dass dieses Prüfen ein Läutern ist, das nicht zum Aufgeben, sondern zur Stärkung des Glaubens führen soll. Der Teufel dagegen verführt zum Bösen, zum Aufgeben des Glaubens. Daher wird er zu Recht als der Versucher bezeichnet (Mt 4,3). Gott prüft auch nicht dauerhaft und fortgesetzt, wie es hier von den Versuchungen heißt (die Verbform steht im Präsens). Satan dagegen, der mit List in viele verschiedene falsche Richtungen ziehen möchte, will uns zu jeder Art des Bösen treiben. Böses steht hier in der Mehrzahl.
Gott kann nicht versucht werden vom Bösen
Gott ist es genauso unmöglich, vom Bösen versucht zu werden, wie es Ihm unmöglich ist zu lügen. Zwei Gründe werden angeführt, dass dieser böse Vorwurf eines ungläubigen Menschen nicht stimmen kann, der behauptet, Versuchungen zur Sünde kämen von Gott. Der erste Grund bezieht sich auf den Charakter Gottes, der zweite auf die Handlungsweise Gottes. Er kann nicht „versucht“ werden. Jakobus verwendet hier ein Adjektiv, das nur an dieser Stelle vorkommt. Es bedeutet, dass Gott vom Bösen grundsätzlich nicht antastbar ist oder versucht werden kann. In der makellosen Reinheit des Charakters Gottes liegt unsere Sicherheit. Wir können Gott nämlich danken für seine Heiligkeit, denn Gott setzt seine Reinheit nicht gegen uns ein, sondern für uns in unserem Kampf mit dem Bösen. Wir wären töricht, diesen Anker des Glaubens wegzuwerfen.
Der hier geäußerte Vorwurf stimmt auch nicht mit dem Handeln Gottes überein. Gott versucht nicht zum Bösen, denn so will Er nicht handeln. Er tut es nicht. Gott versucht also niemanden zum Bösen, obwohl Er als die oberste Autorität und als der souveräne Gott zulässt, dass die Erlösten durch das Böse versucht werden. Das Böse kommt aber nicht von Ihm, sondern aus uns selbst. Gott weiß sogar das Böse zum Guten der Seinen zu benutzen, denn Er will in den Seinen immer nur Gutes bewirken.
Dass es solche Unterschiede im Blick auf Prüfungen und Versuchungen immer gab, lesen wir schon im Alten Testament: Gott prüfte Abraham (vgl. 1. Mo 22,1; Heb 11,17), während das Volk Israel Gott versuchte (vgl. 2. Mo 17,7; Ps 78,18.41.56). Das Volk versuchte zum Bösen, aber Gott lässt sich nicht auf solche Versuchungen ein.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf die Klammer zwischen den beiden Abschnitten der Verse 2–12 und 13–15 zu sprechen kommen. Wie wichtig ist die Bitte im sogenannten „Vaterunser“: „… führe uns nicht in Versuchung“. Sie bezieht sich auf Prüfungen von außen. Der Jünger des Herrn erbittet so vom Vater, dass die Prüfung nicht zu schwer werde, damit er vor einer Situation bewahrt wird, welche die eigenen Kräfte übersteigt. Der Jünger möchte nämlich nicht sündigen. Wegen einer falschen inneren Reaktion durch das Fleisch können Prüfungen, die zu unserem Guten dienen sollten, sehr leicht ein Anlass zum Sündigen werden.
Dafür gibt es leider manche Beispiele: Abraham war in Kanaan und wurde von Gott durch eine Hungersnot geprüft (1. Mo 12,10). Er konnte so nicht mehr für seine Schafherden sorgen. Diese Prüfung war eine Gelegenheit, Gott in seinen Hilfsquellen zu erfahren. Aber Abraham verwandelte diese Prüfung sozusagen in eine Versuchung und ging hinab nach Ägypten. Er sündigte.
Noch ein zweites Beispiel: Das Volk Israel musste in der Wüste erleben, dass es kein Wasser und keine Nahrung gab. Das war eine Erprobung von außen. Das Volk hätte auf Gott vertrauen und Ihn um Hilfe bitten können. Aber es nahm diese notvollen Umstände zum Anlass, sich innerlich gegen Gott aufzulehnen und Ihn zu versuchen. Es sündigte.
Christus im Unterschied zu uns
Gott bringt Glauben und Treue bei dem Gläubigen durch Prüfungen hervor. Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, denn Gott ist absolut heilig. Er selbst ist der Maßstab und Richter des Bösen. In wunderbarer Weise wird die Unangreifbarkeit Gottes gegenüber dem Bösen in der Beziehung unseres Herrn und Meisters, Jesus Christus, zu seinem Gott und Vater deutlich. Die sogenannten Versuchungen Satans machen das deutlich. Wir erkennen aus Matthäus 4,5–7, in was für einer herrlichen Weise Christus das, was in 5. Mose 6,16 steht, verwirklichte. Sein Vertrauen zu Gott, von dem in Psalm 91,9–12 prophetisch gesprochen wird, wurde dadurch sichtbar, dass Er Gott nicht herausforderte oder versuchte, sondern Ihm gehorsam war. Vertrauen im Gehorsam, das ist ein herrliches Gesinnungspaar. Jesus verwirklichte dies in vollkommenem Maß.
Hätte der Herr denn sündigen können, wie manche meinen? Diese immer wieder gestellte Frage können wir ein für alle Mal mit einem eindeutigen „nein“ beantworten. Er hatte und kannte kein sündiges Fleisch, das wir von Adam geerbt haben, sondern war seit seiner Zeugung „das Heilige“ (vgl. Lk 1,35), ohne Sünde (vgl. 1. Joh 3,5; 2. Kor 5,21). Er ist in allem geprüft worden wie wir, was die äußeren Prüfungen betrifft, „ausgenommen die Sünde“ (vgl. Heb 4,15). Das heißt, Er kannte keine Versuchungen von innen, vom Bösen. Denn in Ihm gab es keinen Anknüpfungspunkt für das Böse.
Der Gläubige, der aus Gott geboren ist, kennt im Gegensatz zu Christus, dem vollkommenen Menschen, leider allzu gut Versuchungen. Der Apostel Paulus verbindet sie mit dem „Fleisch“, das nicht dem Gesetz Gottes unterworfen ist. Es will und kann sich dem Wort Gottes nicht unterwerfen. Wir haben dieses Fleisch an uns (vgl. Röm 7,18). Wir müssen zugeben, dass das Böse in uns eine ständige Versuchung für uns darstellt.
Die Anfechtung durch die in uns wohnende Sünde
Nicht nur die Verse 13–15 haben mit der Sünde zu tun. Letztlich baut der restliche Teil des Kapitels auf dieser Grundlage auf, auch wenn es schwerpunktmäßig um das Wort Gottes und dessen Kraft geht. Aber immer wieder werden wir Aspekte der Anfechtung durch die in uns wohnende Sünde finden.
Diese inneren Versuchungen sind an dieser Stelle deshalb so bedeutsam, da sie wohl an keiner anderen Stelle in dieser Weise thematisiert werden. Hier finden wir leider eine Lebenssituation, die für uns so „normal“ ist, obwohl ein Gläubiger eigentlich das ewige Leben und den Herrn hat, so dass diese Versuchung keine Rolle spielen sollte. Dass es trotzdem anders ist, sollte uns demütig machen.
Versuchung durch die eigenen Begierden (V. 14)
Nachdem Jakobus im 13. Vers gezeigt hat, dass die Versuchung, von der er jetzt spricht, nicht mit Gott verbunden werden kann, führt er im 14. Vers weiter aus, woher die Versuchung eigentlich stammt. Diese Wahrheit ist zunächst einmal hart für uns Menschen: Die wahre Wurzel aller Versuchungen liegt in uns selbst, in unserer eigenen Begierde. Wir mögen zwar dem verlockenden Reiz, der außerhalb von uns ist, die Schuld geben. Aber darauf lässt sich Jakobus nicht ein. Er macht deutlich, dass das eigentliche Problem die innerlichen Wünsche des Fleisches sind.
Jakobus nennt die alte, böse Natur nicht mit Namen. Er spricht auch nicht vom Fleisch. Er spricht von den praktischen Folgen der Tatsache, dass wir eine sündige, böse, alte Natur besitzen. Er sieht die Früchte, der Apostel Paulus dagegen spricht immer wieder von der Wurzel, gerade im Römerbrief (vgl. besonders Röm 7,18). Dieses Fleisch kann nichts anderes tun als zu sündigen. Wenn wir ehrlich sind vor Gott, geben wir zu, dass wir niemanden außer uns selbst dafür verantwortlich machen können. Gott ist der Vater der Lichter. Von Ihm kommen alle guten und vollkommenen Gaben. Wie könnte das, was Finsternis ist, von Ihm kommen, wie zum Beispiel Unsauberkeit, Schlechtigkeit und Zorn?
Satan kann nur dann erfolgreich sein, wenn er in uns einen Verbündeten findet. Die Umstände können nur dann wirksam werden, wenn wir in unserem Inneren nachgeben. Und Menschen, die uns verführen (wollen), schaffen dies nur, wenn wir uns auch verführen lassen.
Der Erlöste besitzt zwar Leben in dem Sohn. Aber er hat auch eine gefallene Natur, die er von Adam geerbt hat (vgl. Röm 5,12.19; 7,25). Diese bleibt ihm erhalten bis zum Kommen des Herrn, bzw. bis er stirbt. Daher ist er auch durch böse Versuchungen hier auf dieser Erde zu verlocken.
Der Unterschied zwischen Christus und uns
Im Blick auf die Natur des Menschen gibt es viele falsche Vorstellungen. Adam und Eva hatten keine heilige Natur, wie der Herr Jesus sie besaß, sondern sie hatten eine unschuldige Natur. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass sie weder die Kenntnis von Gut und Böse hatte noch die Kraft, das Böse zu verabscheuen.
Nach dem Fall des ersten Menschenpaares hat Gott nicht den ursprünglichen Zustand wiederhergestellt, sondern etwas ganz Neues gegeben. Er schenkte dem gefallenen Menschen, der Ihn im Glauben annahm, eine heilige Natur. Diese neue Natur kennt das Böse und kann dennoch das Gute tun. Dazu aber ist es nötig, von neuem geboren zu sein, denn diese heilige Kraft gibt es nur auf der Grundlage des Werkes Christi.
So haben wir, die wir heute an das Werk Christi glauben, ein unvergleichbar besseres Leben in Christus als Adam und die Gläubigen zur Zeit des Alten Testaments. Wir stützen uns auf ein Werk und eine Person, die wir kennen. Dadurch besitzen wir die Grundlage der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und sind zu einem heiligen Leben mit Gott befähigt durch das Geschenk des neuen, ewigen Lebens. Christus selbst und Er allein war die Offenbarung dieses ewigen Lebens auf der Erde. Erst seit diesem Zeitpunkt gibt es diese innige Beziehung mit Gott, unserem Vater.
Begierden
Kehren wir noch einmal zu den Begierden zurück. Das Böse entspringt den Regungen des Herzens und verfolgt das Ziel, auch Taten zu bewirken. Die Begierde des Fleisches gab es bei Adam vor dem Sündenfall noch nicht. Bei ihm, und nur bei ihm (und bei Christus), kam die Sünde von außen auf ihn zu. Während der Herr mit dem Wort Gottes antwortete und in Gemeinschaft mit Gott blieb, konnte Satan Adam und Eva verführen. Sie fielen, weil sie nicht auf Gott vertrauten, in Ungehorsam. Wir fallen in Sünde, weil der Teufel in uns im Unterschied zu Adam, der noch keine alte, böse Natur besaß, einen Anknüpfungspunkt besitzt: das Fleisch. Denn seit dem Sündenfall lebt die Begierde in uns.
Wie wichtig ist es für unser praktisches Leben, vor Gott aufrichtig zu sein und uns selbst in seiner Gegenwart zu richten. Das ist der sicherste Weg zur Wiederherstellung des Genusses der Gemeinschaft mit Ihm. Wenn wir dann alles von Gott erwarten und auf den verherrlichten Herrn schauen, gewinnen wir die Kraft, die wir benötigen, um die Begierden zu verurteilen und zurückzuweisen. Nur so kann die Sünde im Keim erstickt werden.
In diesem Vers wird somit die wahre Quelle der Versuchungen eines Gläubigen entlarvt. Paulus würde schreiben: aus dem Fleisch (der alten Natur). Jakobus sieht dagegen aus der Praxis des Gläubigen auf das Thema und sagt: Es sind die Begierden des Christen. Jakobus macht die Begierden zu etwas ganz Persönlichem. Er nennt sie „seine eigenen“: Jeder Gläubige mag andere Begierden in seinem Leben kennen. Sie unterscheiden sich in der Intensität, im Inhalt, in den konkreten Ausprägungen. Vom Charakter her aber sind sie alle gleich.
Das Wort, das Jakobus hier für Begierde verwendet (epithumia), ist nicht grundsätzlich negativ. Der Begriff selbst drückt einfach eine tiefe Sehnsucht, ein Verlangen aus. Es gibt Verlangen, das für uns zum Segen ist. Ohne Hunger würden eventuell viele von uns nicht essen und daher verhungern. Dasselbe gilt für den Durst.
Wir denken an die „Sehnsucht“ des Herrn, mit seinen Jüngern das Passah zu essen (vgl. Lk 22,15). Paulus hatte „Lust“, abzuscheiden und bei Christus zu sein (Phil 1,23). Er hatte auch ein intensives Verlangen, seine geliebten Gläubigen aus Thessalonich zu sehen (vgl. 1. Thes 2,17). Es handelt sich immer um denselben griechischen Ausdruck, meint aber jeweils sehr Unterschiedliches. Der Zusammenhang entscheidet über die Bedeutung einer Vokabel. Jakobus beantwortet die Frage, in was für einem Rahmen und in was für einem Ausmaß ein solches Verlangen praktiziert wird.
Begierden kommen aus dem Herzen hervor
Während es Ausnahmen gibt, sind die Sehnsüchte und Begierden im Allgemeinen somit negativ besetzt. Die menschliche Erfahrung zeigt, dass die Wünsche des Menschen in erster Linie böse sind, da sie aus unserem bösen Herzen hervorkommen. Sie sind dann böse, wenn wir uns selbst damit befriedigen und nicht Gottes Willen ausführen wollen. Das stimmt mit den Belehrungen unseres Herrn in Matthäus 15,19.20 bzw. Markus 7,21–23 überein. Das, was aus dem Herzen des Menschen hervorkommt, verunreinigt ihn.
Es geht Jakobus übrigens nicht um die geschlechtliche Kraft, die von Gott geschenkt ist und die ein mächtiges Verlangen in uns bewirkt. Aber leider ist es auch bei dieser „Sehnsucht“ möglich, dass sie zu einer bösen Begierde wird. Das ist dann der Fall, wenn sie aus dem Rahmen herausgezogen wird, in den Gott sie gestellt hat: die Ehe.
Einige Menschen meinen, wenn man geistlich wäre, könne man sich nach und nach dieser normalen Wünsche wie der körperlichen Sehnsüchte in der Ehe entledigen. Man stünde dann über dem entsprechenden Verlangen. Tatsächlich aber unterdrückt jemand, der so handelt, sein körperliches Verlangen. Er irrt sich, wenn er meint, auf diese Weise geistlicher zu werden bzw. überhaupt in der Lage zu sein, solche Kräfte einfach stilllegen zu können. Irgendwann werden sich diese Kräfte ein Ventil und ihren Weg auf eine Weise suchen, der zum Schaden des Menschen und oft mit weitreichender Sünde verbunden ist.
Der Mensch ist dafür verantwortlich, wie er mit seinen Begierden umgeht. Kein Zweifel, Satan kennt den Menschen aus jahrtausendlanger Erfahrung sehr gut und wirkt daher an ihm, damit er zu Fall kommt. Der Teufel kann gar nicht anders, als zum Bösen zu versuchen. So war es schon am Anfang, als der Mensch noch keine böse Natur und kein Fleisch hatte.
Bei unserem Herrn sehen wir eine Reaktion, die der von Adam und Eva entgegensteht. Er ließ sich nicht zum Bösen versuchen. Bei Ihm gab es nicht nur keine innere Begierde, Er war seinem Gott zudem in allem gehorsam. Aber wie anders ist es bei uns, die wir von unseren Eltern die sündige Natur geerbt haben und auch in Ungerechtigkeit geboren wurden, auch wenn wahr bleibt, dass wir jetzt durch Gottes Gnade von neuem geboren wurden. Darauf wird Jakobus gleich zu sprechen kommen.
Der Weg der Begierde im Menschen
Dass die Sünde und Begierde aus dem Menschen hervorkommen, wird übrigens schon im Alten Testament angedeutet. In Hiob 5,6.7 lesen wir in der ersten Antwort des Eliphas, der im Blick auf den Narren sagt: „Denn nicht aus dem Staub geht Unheil hervor, und nicht sprosst Mühsal aus dem Erdboden; sondern der Mensch ist zur Mühsal geboren, wie die Funken sich erheben im Flug.“
Seit dem Sündenfall Adams ist das menschliche Herz böse, so dass die Begierden zu sündigen Taten führen (vgl. 1. Mo 8,21), wie Jakobus im nächsten Vers ausführen wird. Die Begierde ist hier das böse Ziel, das man verwirklichen will, wenn man ihrer Versuchung Folge leistet. Man kann die Begierde aber auch ablehnen. Genau das sollen wir tun.
Wenn aus der Begierde eine Sünde wird, ist sie das verwirklichte Böse. Mit ihr ist die Begierde am Ziel angekommen. Begierde ist der Weg zur Sünde, man ist unterwegs zur Sünde. Schon dieser Weg wird böse, wenn man bei der Begierde verweilt. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man der Begierde letztendlich folgt oder nicht.
Aus der Schifffahrt
Vielleicht hilft ein bildlicher Vergleich zum besseren Verständnis. Die Versuchung besteht für uns darin, dass wir von der eigenen Begierde wie ein manövrierunfähiges Schiff ins Schlepptau genommen werden. Das sind gewaltige Kräfte, die an uns ziehen und uns fortreißen wollen, wenn wir uns nicht zur Wehr setzen. Man kann auch daran denken, dass man wie ein anbeißender Fisch zum Genießen verlockt und geködert wird. Die Begierde versteht es, mich zu „angeln“.
Man hört aus den Worten Jakobus‘ jemanden sprechen, der in der Nähe des Sees Genezareth aufgewachsen ist und die Vorgehensweise von Fischern gut kennt (vgl. auch 2. Pet 2,14.18). Gibt es keinen Weg, sich aus diesem Schlepptau und von diesem Köder zu befreien? Doch! Durch das Beharren auf Gottes Wort, durch Gebet und durch die Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus und mit Glaubensgeschwistern können wir uns bewahren lassen.
Die universelle Erfahrung des Gläubigen, versucht zu werden, ist eine ganz persönliche: jeder. Niemand ist von dieser Erfahrung ausgenommen. Auch in unserem Vers geht es wie im vorigen um dauerhafte und wiederholte Versuchungen (Präsensform), die nicht vereinzelt auf uns zukommen, sondern ständig unser Leben betreffen. Diese Erfahrung beschränkt sich auch nicht auf junge Menschen, sondern begleitet uns bis an unser Lebensende. Sie ist charakteristisch für uns. Man kann nicht sagen, für unser Glaubensleben, aber doch für unser Erdenleben.
Die Erklärung der Versuchung durch „wenn“ könnte man auch mit „indem“ übersetzen. Durch die Begierden zeigt sich diese Art von Versuchung in unserem Leben, von der Jakobus spricht. Die Begierden wollen uns nämlich von einem Weg der Nachfolge hinter dem Herrn Jesus her fortziehen und in die Fänge Satans locken. Das ist die Versuchung! Beides, sowohl das Fortziehen als auch das Locken, bezieht sich auf denselben Prozess und drückt aus, wie die Begierden denjenigen beeinflussen, der versucht wird.
Wie schon gesagt, wurden beide Tätigkeitswörter ursprünglich für die Arbeit von Fischern verwendet. Später wurden sie auf die Arbeitsweise von Straßenprostituierten übertragen. Jakobus personifiziert die Tätigkeit der Begierde und hat vermutlich das Bild der Prostituierten in Sprüche 7,6–23 im Sinn. Wir müssen uns aber vorsehen, denn wir dürfen diese Belehrung nicht auf sexuelle Sünden beschränken. In diesem Bereich haben vor allem viele Männer eine Schwachstelle. Aber es gibt viel mehr Einfallstore, als wir auf den ersten Blick meinen.
Fortziehen und locken
Beim Fortziehen geht es um die Aktivitäten im Menschen selbst. Aus Erfahrung wissen wir, dass es in uns immer wieder den Drang zum Sündigen oder zu den sündigen Gegenständen der Begierden gibt. Beim Locken geht es tatsächlich um einen Köder. Man kann sich darunter einen saftigen Wurm vorstellen, der einen Fisch dazu bringen soll zuzubeißen, um dadurch an das Objekt „seiner Begierde“ zu kommen. Aber der Fisch wird betrogen und verführt, denn er bekommt nicht den Genuss, den er sich vorgestellt hat, sondern den Haken in den Gaumen.
Genauso geht es uns mit der Begierde nach bestimmten Dingen. Sie stehen lächelnd vor uns. Aber sie werden niemals das erfüllen, was wir uns von ihnen versprechen oder was sie zu sein vorgeben. Wir sind in gewisser Hinsicht frei zu wählen. Aber wir sind in keiner Hinsicht frei, die Konsequenzen unseres Handelns auszuwählen. Diese stehen bereits im Vorhinein fest, entweder nach dem ewigen Ratschluss Gottes oder nach einzelnen Geboten und Ankündigungen des Herrn.
Lasst uns auch bedenken, dass sich keine Versuchung mit dem Ruf auf den Weg macht: „Ich bin eine Versuchung!“ Kein Tier tappt freiwillig in eine Falle. Man muss den Angelhaken mit einem Köder verdecken, um jemand zur Beute machen zu können. Lot wäre nie nach Sodom gezogen, wenn er nicht die wasserreiche Gegend am Jordan gesehen hätte (vgl. 1. Mo 13,10 ff.). Hätte David den Ehebruch begangen, wenn er die Folgen seines Handelns bei sich und anderen überblickt hätte: Mord, Tod des Kindes, Schändung einer Tochter?
Der Köder hindert uns daran, die Folgen der Sünden zu übersehen. Gott aber will uns hier zeigen, wohin diese Begierden führen. Jakobus beschreibt hier den psychologischen, seelischen Weg, den die Begierden in uns nehmen. Er lässt nicht aus, wohin sie uns bringen. Damit wir uns das Ende einer Sache anschauen, schildert Jakobus den Weg, den die Begierden gehen. Und wie wir das immer wieder in Gottes Wort finden, beschreibt Er uns das Ende eines sündigen Weges, damit wir uns davor bewahren lassen.
Vier Generationen: Versuchung, Begierde, Sünde, Tod (V. 15)
Wir müssen somit auf das Ergebnis einer Sache oder eines Weges sehen. Nur so kommen wir zu einer angemessenen Beurteilung. Jakobus zeigt uns hier, dass die Versuchung, wenn wir ihr nachgeben, im Tod endet. Er beschreibt hier sozusagen vier Generationen auf dem Weg zum Tod:
- Die erste Generation ist die Versuchung zum Bösen. Dieser Reiz zieht uns an.
- Die zweite Generation ist die Begierde, die durch die Versuchung hervorrufen und ausgelöst wird.
- Die dritte Generation ist die Sünde, die aus der Begierde geboren wird.
- Die vierte Generation ist der Tod, den die Sünde gebiert und der in der Vollendung zum Tod führt.
Was für eine schlimme und unglückselige Kette, bei der ein Glied fest mit dem nächsten verbunden ist. Man braucht gar nichts weiter zu tun. Diese Schritte geht man auf einer nach unten gerichteten Treppe leicht automatisch, wenn man nicht bewusst innehält. Man fragt sich vielleicht, warum so viele unreife Christen so leicht in Versuchungen fallen. Die Antwort scheint darin zu liegen, dass sie ihre Entscheidungen durch Gefühle fällen und sich nicht nach Gottes Wort richten.
Ein Beispiel: Ich sehe im Internet eine leichtbekleidete Frau (Versuchung). Leider wende ich mich nicht ab, sondern lasse das Bild wirken (Begierde). Dann lese ich den Text unter dem Bild und folge weiteren Links (Sünde). Die Folge: Keine praktische Gemeinschaft mehr mit meinem Herrn (Tod).
Über die erste Generation dieser Kette, die Versuchungen, haben wir uns ausführlich Gedanken gemacht. Auch über die Arbeitsweise dieser Versuchungen haben wir gesprochen. Dann folgt ein „danach“, mit dem unser Vers eingeleitet wird.
Wir lernen, welchen weiteren Weg die Begierden im Leben eines Gläubigen nehmen. Wieder wird die Begierde wie eine Prostituierte gesehen und somit personifiziert. Wenn die Lüste ausgereift sind, indem man ihnen nachgibt und in ihrem Sinn handelt, äußern sie sich durch sündige Taten.
Aber auch damit ist der Lebenslauf der Versuchung noch nicht abschließend beschrieben. Manchmal kann es noch Jahre dauern, bis eine Sünde ausreift und sichtbare Folgen zeitigt. Aber wenn es so ist, wird das Ergebnis immer der Tod sein. Dieser Lebenslauf ist unabwendbar, wenn man der Begierde keinen Einhalt gebietet.
Ein Ausleger schreibt: „Die Atmosphäre in der uns umgebenden Welt ist mit allerlei Lüsten und Verlockungen beladen, und wir alle sollen diese Dinge fliehen, damit Leib und Geist nicht davon verunreinigt werden“ (2. Tim 2,22). Satan benutzt unsere Neigungen, Vorlieben, auch Hobbys und Eigenschaften immer wieder, um uns vom Wort abzulenken. Deshalb ist es auch für uns nützlich, die Warnung in 2. Könige 6,8–10 zu beachten.
Paulus versus Jakobus
Bevor wir über die Einzelheiten dieses Verses nachdenken, mag es hilfreich sein, auf die Unterschiede zwischen den Belehrungen von Paulus und Jakobus einzugehen, was diesen Punkt betrifft. Dies ist die erste Stelle, bei der man versucht hat, Jakobus als Gegenspieler von Paulus zu positionieren. Aber Gottes Wort widerspricht sich nicht. Beide Schreiber waren vom Geist Gottes inspiriert.
- Paulus schreibt in Römer 7,8: „Die Sünde aber, durch das Gebot Anlass nehmend, bewirkte jede Begierde in mir; denn ohne Gesetz ist die Sünde tot.“
- Jakobus schreibt in Jakobus 1,15: „Wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie die Sünde“.
Mit anderen Worten: Paulus sieht in der Sünde die Ursache für die Begierden, Jakobus sieht in den Begierden den Ausgangspunkt für die Sünde. Ein oberflächlicher Leser könnte sich unwillkürlich fragen: Wer hat denn nun recht, Paulus oder Jakobus? Die Antwort lautet, wie immer in Gottes Wort: Beide! Offenbar sprechen beide Schreiber eine unterschiedliche Sprache, oder besser gesagt, sie schauen auf dieselbe Sache aus verschiedenen Blickwinkeln.
Jakobus zeigt die Ergebnisse der bösen Natur im Menschen, während Paulus zur Quelle zurückgeht, damit wir uns selbst besser kennenlernen. Jakobus beschäftigt sich eben nicht wie Paulus mit den Ursprüngen der Sache, mit der Natur der Dinge.
Wichtig ist zu verstehen, dass beide Blickwinkel (!) von unschätzbarem Wert sind und uns durch Inspiration gegeben worden sind. In keiner Weise handelt es sich also um einen Widerspruch.
Jakobus schreibt fast immer mit direktem Bezug zum praktischen Lebenswandel. Er geht daher nicht bis auf die Quelle und Ursache des Herzens zurück, wie Paulus es tut. Jakobus betrachtet zwar das Herz, wie wir bereits gesehen haben, aber in eher praktischer Hinsicht. Er sieht die moralische Begierde als die Quelle an, aus der die Tatsünde hervorkommt. Paulus dagegen zeigt, dass die Sünde, die böse Natur im Gläubigen, die Quelle der Begierde ist. Er betont die geistlichen Prinzipien, während Jakobus ihre Auswirkungen zu zeigen sucht. Beide Schreiber harmonieren vollkommen miteinander. Aber sie schauen in ganz verschiedener Weise auf das Thema. Paulus betrachtet nicht den Lebenswandel, sondern die Natur der Sache.
Wenn man sich (in Römer 7) die Natur der Sache anschaut, wird klar, dass die Sünde zuerst kommt. Aus der sündigen Natur, aus dieser Sünde kommen dann Begierden hervor.
Jakobus betrachtet den Lebenswandel und sieht Sünden. Daraus folgert er, dass es böse Wirkungen in dem Menschen gibt, die zu dem äußerlichen Akt der Sünde führen. Auch das ist wahr.
So ergänzen sich beide Schreiber auf wunderbare Weise. Sünde, die Natur des Menschen, bewirkt die Begierde (Röm 7), und Begierde bringt Tatsünden im Lebenswandel hervor (Jak 1).
Das ist ein wichtiger Unterschied, der zugleich die Verschiedenheit der Sichtweisen beider Schreiber zeigt und das Ziel des Heiligen Geistes in dem Brief des Jakobus kennzeichnet. Jakobus kümmert sich um den äußeren und praktischen Lebenswandel als Beweis des Glaubens und des wahren Charakters des Lebens im Gläubigen. Der Glaube hat seinen Ursprung im Wort Gottes (V. 18), das wir durch Glauben aufnehmen.
Von der Begierde zur Sünde
Wir halten noch einmal fest: Der Christ ist durch das Werk des Herrn Jesus am Kreuz in eine herrliche, hohe und sichere Stellung vor Gott gebracht worden. Diese besitzt er während seines Lebens auf der Erde noch nicht sichtbar und äußerlich, wohl aber innerlich und moralisch. Dennoch bleibt dem Erlösten die alte Natur mit allen ihren Begierden erhalten, solange er hier auf der Erde lebt.
Für den Gläubigen gibt es mit der Bekehrung keine Verbesserung des alten Menschen. Er erlebt aber einen grundsätzlichen Stellungswechsel, bei dem er neues, ewiges Leben geschenkt bekommt. Gab es vorher nur die alte Natur, so besitzt der Gläubige fortan das neue Leben, das er vorher weder kannte noch besaß. Parallel dazu aber trägt er noch das Fleisch an sich, die alte Natur.
Die Jünger waren aus Wasser und Geist geboren und damit im Geist (vgl. Röm 7,6; 8,5.9). Das ist kein verbessertes, geändertes oder vernichtetes Fleisch, sondern etwas gänzlich Neues, das wir durch den Glauben an den Herrn Jesus zugerechnet bekommen. Dadurch sind wir, also die Erlösten, als Gläubige schon jetzt von der Verdammnis befreit, da wir durch das Blut Jesu ein für alle Mal von unseren Sünden gereinigt wurden. Wir haben schon jetzt eine vollkommene Stellung in Christus (Heb 10,14).
Die beiden Naturen bleiben uns (leider) auf der Erde erhalten. So ist es eine verkehrte und böse Lehre, man würde so heilig, dass man sich diese Begierden auf der Erde abtrainieren könne oder als Christ gar nicht mehr hätte. Man kann durch geistliches Wachstum und Hingabe keinen Zustand der Sündlosigkeit erreichen. Natürlich müssen wir nicht mehr sündigen. Aber Jakobus zeigt uns später, dass wir in der Praxis leider doch immer wieder straucheln.
Sowohl Paulus als auch Johannes wenden sich gegen die falsche Vorstellung, wir könnten das Sündigen ein für alle Mal überwinden. Jakobus weist diesen Traum zurück, indem er sich mehr mit dem Prozess des Sündigens beschäftigt, den wir alle aus Erfahrung kennen. Die Begierde beginnt in unseren Herzen. Dafür können wir nichts, denn sie kommt aus der alten Natur, die wir nicht abschütteln können, wie Paulus zeigt.
Begierden sind daher noch keine Tatsünden, die uns schuldig machen. Damit werden die Begierden aber nicht gut in den Augen Gottes! Alles das, was im Gegensatz zu seinen eigenen Gedanken steht, ist und bleibt böse. Sie werden uns jedoch nicht als Schuld zugerechnet, weil sie einem Erbstück entspringen, für das wir heute nicht verantwortlich sind. Die Begierden, von denen Jakobus spricht, sind Ausfluss dieser alten Natur. Aus ihr kann gar nichts anderes kommen als Böses, das zur Sünde führt.
Die Frage aber ist: Müssen wir als Erlöste sündigen? Das führt Jakobus nicht im Einzelnen aus. Aber wir denken an das, was Martin Luther einmal gesagt hat. Wir können nichts dafür, wenn sich ein Vogel auf unseren Kopf setzt. Aber wir können verhindern, dass der Vogel ein Nest auf unserem Kopf baut. So können wir es auch nicht ändern, dass Begierden aufkommen. Aber wir können verhindern, dass die Begierden in unseren Herzen weiterarbeiten und von uns gepflegt werden. Wir müssen uns als Erlöste nicht mit den Begierden beschäftigen und sie weiterverfolgen. Dafür haben wir das neue Leben, das diese Begierden durch und durch ablehnt. Wir können unseren Gedanken ein(en) Stopp setzen. Dafür sind wir verantwortlich.
Selbstgericht
Es liegt an uns, die aufkommenden Begierden in das Licht Gottes zu bringen und von uns zu weisen. Dem entsprechen wir, indem wir Gott um Kraft und Hilfe bitten und unsere Gedanken mit dem Guten, mit dem Herrn Jesus beschäftigen. Wenn wir durch Begierden zum Sündigen gebracht werden, ist es umso wichtiger, diese Sünden zu bekennen und im Selbstgericht zum Ausgangspunkt der Sünden, diesen Begierden zurückzugehen. Wir fragen uns dann, wie es zum Sündigen gekommen ist und warum wir nicht vorher dazu gekommen sind, „nein“ zur Sünde zu sagen. Das ist eine Voraussetzung dafür, dass wir das nächste Mal nicht mehr von den Lüsten überwunden werden.
Es kommt also darauf an, das Empfangen der Begierde zu unterbinden. Die Bibel lässt hier offen, wer bei dieser Empfängnis der Erzeuger ist. Im Bild der sexuellen Verführung ist das Kind sozusagen bereits empfangen worden. Ob wir uns selbst zu diesen Begierden haben treiben lassen, ob Satan direkt tätig war oder ob wir durch andere Menschen verführt worden sind, behandelt Jakobus hier nicht. Entscheidend ist, wie wir mit den Begierden umgehen, die wir empfinden.
Wenn die Begierde empfangen hat, ist sie nicht mehr nur im Herzen, sondern man handelt entsprechend. Sie hat uns dann gewissermaßen im Griff und umklammert uns (vgl. Heb 12,1). Irgendwann sind wir dann sogar soweit „geködert“ und in der Gewalt der Begierde, dass Satan, der unser Beschäftigen mit dem Bösen sieht, uns das Böse als festes Ziel eingeben und einpflanzen kann.
Jakobus aber nennt Satan an dieser Stelle nicht, weil er verhindern will, dass wir unsere Schuld auf jemand anderes, den Teufel, abwälzen. Die Existenz des Teufels ist keine Entschuldigung für den, der sündigt (vgl. 1. Mo 3).
Das Kind der Begierde ist die Sünde, durch die man das eigentliche Ziel des Handelns, wie Gott es wünscht, verfehlt. Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Wortes, das Jakobus hier benutzt: das Ziel verfehlen. Durch die sündigen Taten handelt man im Eigenwillen gegen Gottes Willen.
So hat jede einzelne Sünde ihre Geschichte, ihren Weg. Dieser führt jedoch nicht nur in die Irre, sondern zum Tod, wie Jakobus hinzufügt. Solange das Leben in Sünde nicht durch Umkehr und Bekenntnis beendet wird, wird sich die Sünde weiter ausbreiten und entwickeln, bis sie vollendet und damit ausgewachsen ist. Es geht um die vollkommene Wirksamkeit der Sünde (Aorist Passiv). Sie ist vollkommen ausgereift und an ihr Ziel gelangt.
Wenn die sündige Tat ausgeführt worden ist, handelt es sich um einen endgültigen, nicht mehr umkehrbaren Schritt. Das Unrecht ist damit vollbracht und sogar sichtbar geworden durch die Tat. Kein Mensch ist in der Lage, eine geschehene Sünde aus der Geschichte auszuradieren. Das trifft auch schon zu, wenn „nur“ ein einziges, nichtsnutziges Wort ausgesprochen worden ist (vgl. Mt 12,36).
Man kann eine Sünde nicht mehr zurücknehmen, aber man kann sie bekennen und dadurch Vergebung (Zudecken) erfahren. Nur eine einzige Person kann Heilung schenken, das ist der Herr Jesus. Er schenkt diese Heilung, wenn wir ein Bekenntnis ablegen.
Von der Sünde zum Tod
Jemand hat geschrieben, dass aus der Sünde geradezu „naturnotwendig“ der Tod hervorkommt. Darunter kann man sowohl den physischen als auch den geistlichen Tod verstehen (vgl. 1. Mo 2,17; 3,1–19; Röm 5,12; 6,23; 7,5–25). Gott sagt in der Bibel: „Denn der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23). Jakobus scheint es im Wesentlichen um den geistlichen Tod zu gehen, aber zweifellos ist der physische Tod inbegriffen und letztlich sogar der ewige Tod, der am Ende steht.
Interessant ist, dass Jakobus am Ende seines Briefes das Thema des Todes noch einmal aufnimmt (Jak 5,20). Dort nennt er den Tod als das Ende des Weges eines Sünders. Wohl uns, wenn wir dazu beitragen können, Menschen vor diesem Zielort zu erretten.
Die Grundbedeutung von Tod ist Trennung:
- Der physische Tod ist die Trennung von Seele und Geist (1. Joh 5,16). Dieser Tod tritt bei allen Menschen ein, unabhängig davon, ob sie gläubig waren oder nicht.
- Der geistliche Tod ist die Trennung des Geistes des Menschen von Gott, der Sünde wegen (vgl. Eph 2,1; Lk 15,32; Röm 6,23). Er ist bei Adam und Eva nach der ersten Sünde eingetreten und von da an für jeden Menschen wahr, der sich noch nicht bekehrt hat.
- Der ewige Tod ist die Trennung der Persönlichkeit des Menschen von Gott in Ewigkeit. Ewiger Tod bedeutet nicht, dass die Existenz des Menschen aufhört. Aber der Mensch verliert das Leben der Gemeinschaft mit Gott. Nur diese Harmonie ist es wert, Leben genannt zu werden (Off 20,14). Dieser ewige Tod ist die Hölle. Sie stellt die Strafe dafür dar, dass Menschen sich nicht als Sünder anerkannt, Gott ihre Sünden bekannt und in der heutigen Zeit Jesus als Retter angenommen haben.
- Das Prinzip „Tod“ gibt es auch noch. Das ist die Folge der Sünde im Leben eines Menschen, aus der Perspektive des Menschen betrachtet. Jede Sünde führt zum Tod, das heißt, es ist keine Gemeinschaft mit Gott möglich. Das gilt praktischerweise für einen Gläubigen, der gesündigt hat. Wie könnte er mit dem heiligen Gott praktischerweise Gemeinschaft pflegen. Und für einen Ungläubigen ist es ohnehin wahr. Beispiele dafür sind Römer 8,6.13 und auch hier in Jakobus 1. Denn Jakobus hat Christen vor sich, von denen manche gläubig waren und andere nicht.2
Jeglicher Tod ist auf die Sünde zurückzuführen, unabhängig davon, in was für einer Ausprägung er vorkommt. Was zunächst ein verlockender Köder war (die Versuchung), bringt am Ende nichts anderes als den Tod ein. Das Schlimme für uns ist, dass wir selbst schuld sind, wenn wir uns auf die Versuchungen und Begierden einlassen. Letztlich wissen wir, dass nur das Werk Christi diesen Kreislauf unterbrechen kann.
Noch ein Hinweis zu den von Jakobus verwendeten Wörtern.
- Gebären im ersten Fall (gr. tikto, Sünde gebären) ist das normale Wort für gebären, das beispielsweise auch Lukas in Lukas 1 mehrfach für die natürliche Geburt benutzt.
- Was das zweite Wort betrifft, das Jakobus im Blick auf den Tod einsetzt (gr. apokueo), gehen Sprachwissenschaftler davon aus, dass es einen Hinweis auf die vollständig entfaltete Kraft enthält, die in Verbindung mit dem Vorgang des Gebärens sichtbar wird. Ich habe den Eindruck, dass Jakobus schon an Vers 18 denkt, wo er dieses zweite besondere Wort für Gebären noch einmal aufgreift, um dann von einer ganz anderen Art von Geburt zu sprechen.
Das alles passt zu den Bemerkungen, die ich schon in der Einleitung gemacht habe. Jakobus verwendet eine hochstehende Sprachform. Das wird in seinem Brief immer wieder deutlich.
Beispiele für die von Jakobus genannte Entwicklung
In der Schrift finden wir eine Reihe von Beispielen, die diese von Jakobus vorgestellte Kette von Versuchung bis hin zum Tod demonstrieren. Auf drei davon gehe ich an dieser Stelle ein.
Bei Adam und Eva finden wir die grundlegende Geschichte des Todes:
- Am Anfang stand die Versuchung durch Satan.
- Dann kam die Begierde: Eva sah, dass der Baum gut zur Speise war.
- Als drittes kam, weil sie der Begierde nachgab, die Sünde hinzu, indem sie von der Frucht des Baumes der Erkenntnis des Guten und Bösen aß und somit Gott ungehorsam war.
- Die Folge der Sünde war der Tod. Adam und Eva führten durch ihre Sünde den natürlichen, den geistlichen und den ewigen Tod in diese Schöpfung ein.
Der Köder, den Satan ihnen vorhielt, war das Streben nach Wissen (vgl. 2. Kor 11,3) sowie die Schönheit des Baums. Die Begierde bestand darin, dass Eva sich Kenntnis verschaffen wollte, die sie bislang nicht besaß. Die Sünde war der Ungehorsam gegen das ausdrückliche Gebot Gottes, an dessen Ende der geistliche Tod und dann der leibliche Tod standen.
Ein zweites Beispiel für das, was hier steht, finden wir in der Geschichte Davids.
- Die Versuchung bestand darin, dass zu der Zeit, als David auf dem Dach des Königshauses umherging, Bathseba, eine schöne Frau, auf einem anderen Haus badete (vgl. 2. Sam 11,1 ff.).
- Die Begierde bestand darin, dass David sexuelle Lust bekam, als er den Körper dieser verheirateten, jungen, schönen Frau sah.
- Die Sünde war, dass er sie holen ließ und Geschlechtsverkehr mit ihr hatte.
- Der Tod kam in diesem Fall in mehrfacherer Hinsicht hinzu. Die im Gesetz festgeschriebene Strafe war der Tod (3. Mo 20,10). Dass Gott ihm diese Todesstrafe nicht auferlegte, bedeutete nicht, dass kein Tod in die Familie kam. Denn sein in der Sünde gezeugter Sohn musste sterben (2. Sam 12,14.18). Hinzu kommt drittens der Tod von Urija, dem Ehemann von Bathseba, durch den Mord, den David verübte. Das war ein Beweis, dass David nicht mehr in Gemeinschaft mit Gott lebte. Hinzu kommt, dass insgesamt vier Söhne Davids einen unnatürlichen Tod sterben mussten.
Schließlich kennen wir den Fall von Judas Iskariot, wobei hier natürlich ein Ungläubiger vor uns kommt.
- Die Versuchung für ihn war das Geld.
- Seine Begierde war die Geldliebe seines Herzens. Dieser Begierde konnte und wollte er nicht widerstehen.
- Das führte zu der furchtbaren Sünde des Verrats an dem Herrn Jesus. Für 30 Silberstücke verkaufte Judas den Herrn Jesus an die Hohenpriester (Mt 26,15).
- Das Ergebnis dieser Sünde war sein Selbstmord (vgl. Mt 27,5). Judas wird „Sohn des Verderbens“ genannt. Er wird den ewigen Tod erleiden.
Die Bibel hat uns durch die Begebenheit von Judas ein sehr ernstes Beispiel für diese „Kette“ gegeben. Seine Geldliebe, vielleicht die verhängnisvollste Begierde, die es gibt (1. Tim 6,10), vielleicht auch die am weitesten verbreitete, brachte ihn dazu, seinen Meister zu verraten.
Auch in der heutigen Zeit kennen wir Versuchungen, die über die Begierde und Sünde zum Tod führen. Ist nicht das Virus Aids mit seiner Erkrankung, über viele Jahre mit Todesfolge etc., dafür ein Beispiel? Die gefährliche Begierde kann für jeden von uns etwas anderes sein. Sie führt, wenn wir ihr nicht Einhalt gebieten, zwangsläufig zum Tod.
Fußnoten
- 1 Wir sollten uns zurückhalten, beurteilen zu wollen, warum jemand durch eine Prüfung gehen muss. Wir sollten zuerst uns selbst fragen, ob der Herr uns vielleicht damit eine Botschaft übermitteln möchte. Danach sollten wir in einer guten Weise versuchen, dem anderen Trost und Ermutigung zu schenken.
- 2 Siehe in der Einleitung das Kapitel über die Empfänger des Briefes.