Einführung in die geschichtlichen Bücher des Neuen Testaments
(Matthäus – Apostelgeschichte)

Teil 5: Einführung in das Johannesevangelium

Einführung in die geschichtlichen Bücher des Neuen Testaments

1. Einleitung

Das Johannesevangelium übt auf jeden, der es aufrichtig liest, eine besondere Wirkung aus. Es ist ein Buch, das ausdrücklich unser Herz anspricht, weil es uns ganz besonders mit der Person und der persönlichen Herrlichkeit des Sohnes Gottes beschäftigt, der einmal als Mensch auf dieser Erde gelebt hat. Das Thema von Johannes ist die Offenbarung des ewigen Lebens in einer Person. Das wird gleich zu Beginn des Buches deutlich:

„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles wurde durch dasselbe, und ohne dasselbe wurde auch nicht eins, das geworden ist. In ihm war Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst“ (Joh 1,1–5).

In seinen Briefen zeigt Johannes, wie dieses Leben in denen, die Christus besitzen, sichtbar wird. In seinem Evangelium sehen wir besonders, wie es sich in Christus selbst offenbart hat. Seine göttliche Natur leuchtete unter dem Schleier seiner Menschheit hervor, und zwar in allem, was Er redete und tat. Menschen, die tiefer sahen, konnte seine Herrlichkeit nicht verborgen bleiben. Es war eine Herrlichkeit „als eines Eingeborenen vom Vater“ (Joh 1,14). Er kam, um den Vater zu offenbaren und nach seiner Himmelfahrt den Heiligen Geist zu senden. Johannes zeigt, wie Gott in der Person des Sohnes zu uns Menschen kommt. Bei Paulus ist es anders. Er beschreibt vor allen Dingen, auf welchem Weg ein Mensch zu Gott kommen kann.

Die Offenbarung des ewigen Lebens in der Person des Herrn Jesus hat äußerst weitreichende Folgen für uns. Der Sohn Gottes ist nicht nur offenbar geworden, um dann wieder in den Himmel zurückzugehen, sondern Er kam, um verlorenen Menschen ewiges Leben zu schenken. Wer an Ihn glaubt, bekommt dieses Leben und wird ein Kind Gottes. Das ist das große Thema von Johannes. Deshalb spricht er in seinem Evangelium und in seinen Briefen nicht von der Versammlung, sondern davon, dass wir Kinder Gottes sind. Er sieht die Gläubigen als individuelle Personen, die göttliches Leben besitzen und jetzt zur Familie Gottes gehören.1 Das ist ein weiterer Grund, warum das Johannesevangelium eine besondere Anziehungskraft für den gläubigen Leser hat.

Johannes schreibt weder über die Geburt des Heilandes noch über seine Himmelfahrt. Sein Evangelium beginnt und endet völlig anders als die übrigen Evangelien. Das ist mit dem besonderen Charakter dieses Evangeliums verbunden. Die ersten Verse zeigen uns, wer Er wirklich ist, nämlich der ewige Gott, der keinen Anfang und kein Ende hat. Es endet mit dem Hinweis, dass die Dinge, die Jesus getan hat, unmöglich einzeln aufgeschrieben werden können und dass – wenn es doch so wäre – die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen könnte. Wie könnte das, was der Sohn Gottes tut, von uns Menschen je erfasst werden?

2. Verfasser und Authentizität

Johannes nennt sich ebenso wie die übrigen Evangelisten nicht selbst als Autor. Dennoch gehen die meisten Bibelleser wie selbstverständlich davon aus, dass Johannes der Schreiber ist. Sie tun das aus gutem Grund. Sicher gibt es wichtigere Fragen als die nach dem Autor oder der Zeit und dem Ort der Niederschrift, dennoch sind diese Fragen nicht ganz ohne Bedeutung, denn sie werfen ein gewisses Licht auf den Inhalt und können eine Hilfe sein, um bestimmte Punkte besser zu verstehen und einzuordnen. In gewisser Hinsicht ist der Inhalt eines Bibelbuches immer durch die Persönlichkeit des Autors geprägt. Im Johannesevangelium wird das besonders deutlich. Es gibt nicht nur externe Belege aus den Schriften der Kirchenväter, sondern genügend interne Belege, die klarmachen, dass Johannes tatsächlich der Autor ist.

2.1. Interne Belege

Wer das Evangelium komplett liest, kann nur zu dem Ergebnis kommen, dass es der Jünger Johannes geschrieben hat. Zunächst ist klar, dass der Autor ein Jude ist. Stil, Wortwahl und Vertrautheit mit jüdischen Gebräuchen lassen keinen anderen Rückschluss zu. Weiterhin muss dieser Jude zur Zeit des Herrn Jesus in Israel gelebt haben. Außerdem zeigt die Berichterstattung, dass er ein Augen- und Ohrenzeuge der Ereignisse war, von denen er schreibt (Joh 1,14; 19,35). Andernfalls hätte er viele Einzelheiten nicht so berichten können, wie er es tut. Zudem hat der Autor sehr genaue Kenntnisse über den Herrn Jesus und über die Jünger. Er kann deshalb nur einer der 12 Jünger gewesen sein.

Gerade weil der Autor sich selbst nicht mit Namen nennt, liegt der Rückschluss sehr nahe, dass es Johannes ist. Eine Reihe der übrigen Jünger wird mit Namen genannt. Der Name des Jüngers Johannes – der in allen anderen Evangelien wiederholt genannt wird – wird in diesem Evangelium nicht erwähnt.

Ganz deutlich wird das ganz am Ende des Evangeliums. Eigentlich müssen wir das ganze Evangelium lesen, bevor eindeutig klar wird, wer es geschrieben hat. Dort schreibt der Verfasser: „Dies ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dieses geschrieben hat; und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist“ (Joh 21,24). Das bezieht sich nicht nur auf Kapitel 21, sondern auf das komplette Evangelium. Unmittelbar vorher wird von dem Jünger gesprochen, „den Jesus liebte“ und der sich bei dem Abendessen an seine Brust gelehnt hatte (Joh 21,20). Es besteht unter bibeltreuen Auslegern kein Zweifel, dass es sich dabei um Johannes handelt.

2.2. Externe Belege

Die Aussagen in den Schriften der sogenannten „Kirchenväter“ bestätigen das. Sie gehen durchweg davon aus, dass Johannes der Autor ist. Eines der ältesten Zeugnisse stammt von Irenäus (ca. 135–200 n. Chr.), der ein Schüler von Polycarp (ca. 69–155 n. Chr.) war, der wiederum Johannes noch persönlich gekannt hat. Irenäus schreibt, dass „Johannes, der Jünger des Herrn, der auch an seiner Brust gelegen hatte, selbst das Evangelium herausgab, als er in Ephesus in Asien weilte“.2 Theophilus von Antiochien zitiert den ersten Vers des Evangeliums um 180 n. Chr. und nennt Johannes ausdrücklich als Verfasser. Polykrates, Clemens von Alexandria, Tertullian, Eusebius und andere spätere Kirchenväter bestätigen diese Überlieferung. Sogar ausgesprochene Gegner des christlichen Glaubens in der Frühzeit des Christentums nennen Johannes als Autor. Abgesehen von einzelnen Ausnahmen bestritt niemand ernsthaft die Verfasserschaft von Johannes. Das Muratorische Fragment (2. Jahrhundert n. Chr.) enthält ebenfalls eine klare Aussage dazu, dass Johannes nicht nur ein Augenzeuge der Taten des Herrn war, sondern dass er der Verfasser des vierten Evangeliums ist.

2.3. Zweifel

Erst am Ende des 18. Jahrhunderts stellten liberale Theologen und Bibelkritiker die Behauptung auf, Johannes sei nicht der Verfasser. Sie behaupteten, das vierte Evangelium sei später, nämlich gegen Ende des zweiten Jahrhunderts, verfasst worden. Man versuchte damit zu belegen, dass kein Augenzeuge geschrieben hat, sondern irgendjemand anderes. Wenn das so wäre, würde das Evangelium nicht das zeigen, was Jesus Christus gesagt und getan hat, sondern das, was die frühen Christen darüber dachten. Seither wird in bestimmten theologischen Kreisen lebhaft darüber diskutiert, wer der Verfasser nun wirklich ist. An diesen Diskussionen beteiligen wir uns nicht, weil sie keinen geistlichen Nährwert haben und zu nichts führen. Es gibt genügend Belege, die klar zeigen, dass niemand anderes als Johannes dieses Evangelium geschrieben hat.3

2.4. Johannes, der Sohn des Zebedäus und Bruder des Jakobus

Wer war nun Johannes, der in Matthäus 4,21 als Sohn des Zebedäus und Bruder von Jakobus vorgestellt wird? Er wird in den ersten drei Evangelien und in der Apostelgeschichte recht häufig erwähnt, sodass wir uns ein gutes Bild über ihn machen können. Weitere Belegstellen sind Galater 2,9 sowie Offenbarung 1,1.4.9; 22,8. Hinzu kommen die indirekten Aussagen aus seinem eigenen Evangelium, in dem er sich als einen Jünger bezeichnet, den Jesus liebte (siehe weiter oben).

Zebedäus, der Vater von Johannes, war ein Fischer am See von Genezareth. Offensichtlich war er kein armer Fischer, denn er hatte Knechte (Mk 1,19.20). Johannes‘ Mutter scheint eine recht energische Person gewesen zu sein (vgl. Mt 20,20). Er und sein Bruder Jakobus scheinen etwas von ihrem Temperament mitbekommen zu haben. Als der Herr Jesus seine Jünger auswählte, gab er den beiden ausdrücklich den Beinamen „Söhne des Donners“ (Mk 3,17). In Lukas 9,54 sehen wir, dass sie diesen Namen zu Recht trugen, denn sie wollten in einer bestimmten Situation Feuer des Gerichts vom Himmel fallen lassen.4

Die Berufung von Johannes als Jünger wird in den ersten drei Evangelien berichtet (Mt 4,21.22; Mk 1,19.20; Lk 5,10.11). Er war dabei, Netze zu flicken, als Jesus ihn in seine Nachfolge berief. Diese berufliche Tätigkeit sollte später seinen geistlichen Dienst prägen. Er sollte den Schaden begrenzen, den falsche Lehren anrichteten, und die Löcher flicken, die dadurch entstanden.

Johannes war vermutlich einer der jüngeren Jünger Jesus. Es gibt gute Gründe, anzunehmen, dass er sogar der Jüngste von ihnen war, während jedenfalls Petrus deutlich älter gewesen sein muss. Wie bereits erwähnt, hatten Johannes, sein Bruder Jakobus und Petrus eine besondere Beziehung zu ihrem Herrn. Diese drei Jünger waren bei der Auferweckung der Tochter des Jairus dabei (Lk 8,51). Sie waren auf dem Berg der Verklärung anwesend (Lk 9,28) und ebenfalls in Gethsemane (Mk 14,33). Petrus und Johannes sollten das letzte Passah vorbereiten, das der Herr auf dieser Erde mit seinen Jüngern feierte (Lk 22,8), und diese beiden waren es auch, die am Auferstehungsmorgen gemeinsam zur Gruft liefen, um zu sehen, was geschehen war (Joh 20,3.4). Johannes war es, der sich bei dem letzten Abendessen an die Brust des Herrn Jesus lehnte (Joh 13,25) und der später bei dem Kreuz stand (Joh 19,26). Er war es, der den Herrn in Johannes 21,7 am See als Erster erkannte und Petrus auf Ihn aufmerksam machte. Aus diesen – und anderen – Referenzstellen gewinnen wir ein Bild von diesem Mann, der trotz seiner Jugend durch geistliche Einsicht, Energie und Hingabe gekennzeichnet war und besondere Nähe und Gemeinschaft zu seinem Herrn hatte. Es überrascht uns nicht, dass der Heilige Geist gerade einen solchen Mann auswählte, um das Evangelium über den Sohn Gottes zu schreiben.

In Apostelgeschichte 3 und 4 finden wir Johannes – wieder gemeinsam mit Petrus – als einen treuen Zeugen für seinen Herrn. In Kapitel 8,14 werden die beiden nach Samaria geschickt. In Galater 2,9 trifft Paulus Johannes bei seinem zweiten Besuch in Jerusalem. Als dann Paulus vom Herrn berufen wird, lesen wir von Johannes zunächst nichts weiter. Er muss zu einem bestimmten Zeitpunkt, den wir nicht genau bestimmen können, nach Ephesus gezogen sein. Dort blieb er vermutlich bis zum Ende seines Lebens. Sein Aufenthalt dort wurde lediglich durch das Exil auf der Insel Patmos5 unterbrochen (Off 1,9), wo er die Offenbarung schrieb. Johannes muss sehr alt geworden sein und ein Alter von über 90 Jahren erreicht haben.

3. Verfassungszeit und Ort der Niederschrift

Es gibt gute Gründe, der kirchlichen Tradition folgend davon auszugehen, dass Johannes sein Evangelium gegen Ende des ersten Jahrhunderts n. Chr. geschrieben hat. Möglicherweise ist es – der Zeit nach – das letzte Bibelbuch, das geschrieben wurde.6 Andere Ausleger kommen zu der Schlussfolgerung, dass es zeitlich vor den Johannesbriefen geschrieben wurde, weil gerade der erste Brief besser verständlich ist, wenn man das Evangelium kennt. Es ist jedenfalls klar, dass Johannes auf das aufbaut, was die anderen drei Schreiber vor ihm niedergelegt haben. Schon von den Kirchenvätern wurde das Johannesevangelium deshalb als das vierte oder das zuletzt geschriebene Evangelium bezeichnet.7 Viele Bibelkenner nennen eine Verfassungszeit, die zwischen 85 und 95 n. Chr. liegt. Die relativ späte Verfassungszeit kann man indirekt sogar aus dem Evangelium selbst rückschließen. In Kapitel 21,23 heißt es: „Es ging nun dieses Wort unter die Brüder aus: Jener Jünger stirbt nicht. Aber Jesus sprach nicht zu ihm, dass er nicht sterbe, sondern: Wenn ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es dich an?“ Zum Zeitpunkt, als das aufgeschrieben wurde, lebte beispielsweise Petrus bereits nicht mehr. Die Kirchengeschichte spricht davon, dass er im Jahr 67 n. Chr. als Märtyrer sein Leben ließ.

Über den Ort der Niederschrift macht die Bibel keine Aussage. Der kirchlichen Tradition folgend, wohnte Johannes längere Zeit in Ephesus und arbeitete dort unter den Gläubigen. Man nimmt deshalb an, dass er von dort aus das Evangelium geschrieben hat. Irenäus gibt ausdrücklich Ephesus als Verfassungsort an. Nach seiner Aussage lebte Johannes bis zur Regierungszeit von Kaiser Trajan, der ab 98 n. Chr. regierte. Wenn Ephesus tatsächlich der Ort war, an dem Johannes das Evangelium schrieb, wirft das ebenso Licht auf die ersten Christen, die dieses Evangelium gelesen haben – es waren überwiegend Gläubige aus den Nationen.

4. Adressaten

Anders als die Briefe, haben die Evangelien – abgesehen vom Lukasevangelium – keinen direkten Adressaten, an den sie ursprünglich gerichtet wurden. Dennoch wird beim Lesen erkennbar, dass es eine jeweils voneinander unterschiedene Zielgruppe gibt. Man kann die Menschen, die damals lebten, in drei große Gruppen einteilen. Erstens gab es die Juden, die – zumindest äußerlich – eine religiöse Beziehung zu Gott hatten. Zweitens gab es die Römer, die politisch verantwortlich waren. Drittens gab es die Griechen, die für den kulturellen Einfluss im Römischen Reich sorgten. Durch die Botschaft des Evangeliums kam nun eine vierte Gruppe hinzu, nämlich die Christen.

Genau diese vier Gruppen waren die ursprünglichen Zielgruppen der vier Evangelien. Matthäus schreibt an die Juden. Er stellt den Messias vor, der kam, um sein Reich zu gründen. Markus spricht (möglicherweise) vor allem die Römer an, während Lukas – der einzige nichtjüdische Autor des Neuen Testamentes – erkennbar an die kulturellen Griechen schreibt. Alle drei Gruppen sollten durch die Evangelien von der Identität Jesu überzeugt werden. Zugleich musste ihnen klargemacht werden, dass sie diesen Jesus als ihren Heiland nötig hatten.

Johannes hingegen hatte eine andere Zielgruppe im Auge. Er schreibt besonders an Kinder Gottes, an Jünger Jesu, die zwar aus einer dieser drei Gruppen stammten, allerdings nach ihrer Bekehrung nicht mehr wirklich dazugehörten, sondern zu Christus. Johannes war es vorbehalten, unter der Leitung des Heiligen Geistes an diejenigen zu schreiben, die an den Herrn Jesus geglaubt hatten, um sie im Glauben zu befestigen und ihnen zu zeigen, wie sehr der Mensch Jesus Christus zur gleichen Zeit der ewige Sohn Gottes ist.

Den Beweis dafür liefert Johannes selbst. Am Ende seines Evangeliums schreibt er: „Auch viele andere Zeichen hat nun zwar Jesus vor seinen Jüngern getan, die nicht in diesem Buch geschrieben sind. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes8, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,30.31). Der Zusammenhang der Verse macht klar, dass Johannes sich nicht zuerst an ungläubige Menschen wendet, sondern primär an solche, die wir als gläubige Menschen bezeichnen.9 Warum ist das so?

  • Diese Aussage steht in Verbindung mit dem sogenannten „ungläubigen Thomas“, der natürlich ein Gläubiger war, jedoch nicht von Glauben gekennzeichnet war.
  • Es ist die Rede von den Zeichen, die Jesus vor seinen Jüngern tat, nicht vor den Menschen.
  • Die Bedeutung von „Glauben“ ist in diesem Vers nicht in erster Linie die einmalige Annahme des Retters Jesus Christus im Glauben, sondern vor allem der permanente Glaube, in dem wir jeden Tag leben. Man kann die Aussage etwas freier übersetzen: „... damit ihr weiter im Glauben vorangeht“.

Dabei ist dennoch klar, dass Gottes Wort an jeder Stelle zugleich ungläubige Menschen anspricht. So ist es immer, wenn wir die Bibel lesen. Stellen, die für Gläubige bestimmt sind, können durchaus eine evangelistische Anwendung haben. Umgekehrt ist es ebenso. Das eine schließt das andere nie aus. Gerade das Johannesevangelium enthält eine Vielzahl von Aussagen, durch die Menschen davon überzeugt werden, den Herrn Jesus im Glauben anzunehmen, um ewiges Leben zu bekommen. Umgekehrt sprechen die ersten drei Evangelien nicht nur ungläubige Menschen an, sondern haben unbedingt eine Botschaft für jeden, der Christus im Glauben angenommen hat.

5. Anlass und Zweck

Eng mit der Frage der Adressaten ist die Frage nach dem Anlass für dieses Evangelium verbunden. Wir fragen uns: Warum schreibt Johannes dieses vierte Evangelium? Und vor allen Dingen: Warum schreibt er erst Jahrzehnte später, nachdem die ersten drei Evangelien längst geschrieben sind, und warum wendet er sich besonders an Gläubige? Waren die ersten drei Evangelien nicht ausreichend? Gab es Dinge zu korrigieren? Natürlich nicht. Gottes Wort ist immer vollkommen und fehlerfrei. Dennoch gibt es einen wichtigen Grund, warum Johannes viele Jahre nach den anderen drei Evangelisten im hohen Alter unter der Leitung des Heiligen Geistes zur Feder greift und Dinge aufschreibt, über die die anderen Evangelisten in dieser Form nicht geschrieben haben.10

Wir müssen bedenken, dass es dem Teufel, dem Feind Gottes, bereits sehr früh gelungen war, verkehrte Lehren über die Person des Herrn Jesus unter den Christen in Umlauf zu bringen. Dabei ging es nicht um falsche Lehren von Pharisäern oder Sadduzäern, die ohne Frage bedrohlich waren. Es ging nicht um heidnische und philosophische Einflüsse von außen, die ebenfalls eine große Gefahr darstellten. Die Angriffe waren vielmehr Angriffe von anti-christlichen Lehrern unter den Gläubigen, die unmittelbar die Person des Herrn Jesus zum Ziel hatten und sowohl seine wahre Menschheit als auch seine wahre Gottheit angriffen.

Diese falschen und bösen Lehrer brachten nicht die „Lehre des Christus“. Damit wurden Christus und Gott selbst angegriffen. In seinen Briefen greift Johannes diesen Punkt auf (1. Joh 2,18.22.23; 4,1–6; 2. Joh 9.10). Es war vor allem der als „gnostisches Gedankengut“ bezeichnete Irrtum, der sich breitmachen wollte. Das Wort „Gnostiker“ bezeichnet Menschen, die den Eindruck erwecken, etwas zu wissen.11 Es gab Agnostiker, die jede sichere Kenntnis über Gott und göttliche Dinge leugneten. Die Gnostiker hingegen taten gerade das Gegenteil. Sie behaupteten, Wissende zu sein, und gerade darin bestand ihre Verführung. Sie beanspruchten für sich, eine höhere Kenntnis zu haben. Sie akzeptierten das Christentum als eine gute Basis, behaupteten aber, sie hätten inzwischen mehr Licht empfangen und könnten die christliche Lehre weiterentwickeln. Für die christliche Familie war das eine ernst zu nehmende Gefahr.

Die Gnostiker waren keine geschlossene und einheitliche Gruppe, sondern sie entwickelten sich in unterschiedliche Richtungen. Im Kern ihrer Lehre griffen sie vor allem die Person des Herrn Jesus an. Einige leugneten, dass Christus der ewige Sohn Gottes ist. Andere leugneten, dass Er wahrer Mensch geworden ist. Es schien ihnen undenkbar zu sein, dass Gott und Mensch in einer Person zu finden ist. Es gab darüber hinaus eine Lehre, die versuchte, „Jesus“ und „Christus“ voneinander zu trennen. Christus wurde als ein Ideal vorgestellt, zu dem hin man sich mehr und mehr entwickeln sollte, während Jesus nur als historischer Mensch vorgestellt wurde, der als der Nazarener auf dieser Erde gelebt hatte.

Eine weitere These der Gnostiker lautete, dass alles Materielle böse sei und dass nur das Geistige Wert habe. Deshalb hätte der Sohn Gottes ihrer Meinung nach keinen menschlichen Körper annehmen können. Eine andere These lautete, Christus habe nur scheinbar Menschengestalt angenommen. Er sei kein echter Mensch gewesen, sondern den Menschen nur ähnlich geworden. Wieder andere behaupteten, Jesus sei der leibliche Sohn von Joseph und Maria. Er sei wohl der Messias, jedoch nicht Gott. Schließlich wurde durch die falschen Lehren das Erlösungswerk des Herrn Jesus infrage gestellt. Diese uns bis heute mehr oder weniger bekannten Angriffe auf seine Person sind also nicht neu. Es kann nur das Interesse des Widersachers Gottes sein, die Gott- und Menschheit des Herrn Jesus immer wieder zu hinterfragen und zu leugnen.

Um den falschen Lehren die Wahrheit gegenüberzustellen, schreibt Johannes sein Evangelium. Damit wird das Falsche bloßgestellt, indem das Richtige vorgestellt wird. Johannes geht nicht auf die Details der falschen Lehren ein, sondern stellt die Wahrheit vor. Das ist immer das beste Heilmittel gegen den Irrtum. Die Glaubenden sollen wissen, „dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (Joh 20,31). Diese kurze Aussage macht alles klar. Erstens: Jesus ist der Christus, der wahre Mensch. Zweitens: Er ist der Sohn Gottes. Wir erkennen, wie hochaktuell die Botschaft des Evangeliums von Johannes bis heute ist.

Johannes verteidigt die Person und das Werk des Herrn Jesus und zeigt deutlich, wer Er ist. Er spricht über die Person des Herrn Jesus als ewiger Gott und wahrer Mensch. Er spricht von der Liebe des Vaters, der seinen eigenen Sohn gegeben hat. Er zeigt, wie vortrefflich und perfekt der Sohn ist und das, was Er zur Ehre des Vaters getan hat. Und schließlich spricht er – mehr als alle anderen Autoren biblischer Bücher – von der Person des Heiligen Geistes, der ebenso Gott ist wie der Vater und der Sohn. Alle drei Personen der Gottheit – der Vater, der Sohn und der Heilige Geist – nehmen in seinem Evangelium einen wichtigen Platz ein.

6. Charakter und Inhalt

Das Johannesevangelium besteht aus 21 Kapiteln und enthält eine Fülle tiefer Gedanken. Wir konzentrieren uns zunächst auf vier wesentliche Kernbotschaften.

6.1. Vier Kernbotschaften

a) Gott offenbart sich im Sohn

In allen vier Evangelien finden wir den Herrn Jesus, der vom Himmel auf die Erde kam, um hier auf dieser Erde das Werk am Kreuz zu vollenden. Das Johannesevangelium legt dabei die Betonung auf die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, der Mensch wurde und auf dieser Erde Gott offenbarte und verherrlichte. Es zeigt uns vor allem seine persönliche Herrlichkeit und weniger seine amtliche Herrlichkeit12. Er ist der „eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist“ und der Gott, den Vater, offenbart hat (Joh 1,18). Zugleich ist Er der „Sohn des Menschen, der im Himmel ist“ (Joh 3,13). Gott und Mensch – das bleibt das unergründliche Geheimnis seiner Person. Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater (Mt 11,27; Lk 10,22).

Dieser ewige Sohn kommt auf die Erde, um unter Menschen zu leben und zu wohnen. Das Wort wird Fleisch (Mensch) und wohnt unter uns (Joh 1,14). Gott offenbart sich in seinem Sohn, der Mensch geworden ist und in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte und wohnt (Kol 1,19; 2,9). Dieser Mensch ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben (1. Joh 5,20). Es wird unmittelbar klar, warum der Vorhang des Tempels, der nach vollbrachtem Werk vom Kreuz zerriss, wohl von den ersten drei Evangelisten, nicht aber von Johannes erwähnt wird. Das Auge des Glaubens sieht von Anfang an in Ihm die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater.

b) Göttliche Herrlichkeit

Das Johannesevangelium zeigt uns göttliche Herrlichkeiten. Es spricht ausführlich von allen drei Personen der Gottheit: vom Vater, vom Sohn und vom Heiligen Geist, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der persönlichen Herrlichkeit des Sohnes Gottes liegt. Er soll „verherrlicht“ werden –, und zwar als Sohn Gottes und zugleich als Sohn des Menschen (Joh 11,4; 12,23; 13,31). Wir lernen Ihn kennen als den, der von Ewigkeit her ist und als Mensch auf diese Erde kam. Wir erkennen, wie vollkommen und herrlich Er ist. Wir hören außerdem etwas über seine Herrlichkeit nach vollbrachtem Werk (Joh 17,5).

Andererseits spricht der Herr Jesus davon, dass Er Gott verherrlichen würde bzw. verherrlicht hat (Joh 13,31; 17,4). Jemanden zu verherrlichen bedeutet, ihn in dem darzustellen, was er ist, oder die Schönheit und Perfektion einer Person zeigen. Gott ist immer herrlich und seine Herrlichkeit ändert sich nicht. Dennoch kann diese Herrlichkeit in der einen oder anderen Form sichtbar werden. Denn wo immer Gott sich offenbart, zeigt sich etwas von seiner Größe und Herrlichkeit. Es kann nicht anders sein. Das war (ist) in der Schöpfung so (Ps 19,2). Das war bei der Gesetzgebung im Alten Testament so (2. Mo 24,16). In der Stiftshütte bzw. dem Tempel Salomos wurde ebenfalls etwas von Gottes Herrlichkeit sichtbar (2. Mo 40,34.35; 1. Kön 8,11). Doch als der Sohn Gottes auf diese Erde kam, wurde nicht nur etwas von der Herrlichkeit Gottes sichtbar, sondern Gott wurde in allem so gesehen, wie Er wirklich ist. In der Person des Sohnes wurde sichtbar, wer Gott ist. Gnade und Wahrheit ist in der Person des Sohnes Gottes geworden (Joh 1,17).

Gott ist Licht und Gott ist Liebe (1. Joh 1,5; 4,8.16). Gnade ist eine Folge der Liebe Gottes, während Wahrheit eine Folge davon ist, dass Gott Licht ist. Beides wurde vollkommen in Jesus Christus, dem Sohn Gottes, sichtbar. Er hat Gott verherrlicht und gezeigt, wie vollkommen Gott Liebe ist und wie vollkommen Er Licht ist. Diese beiden Tatsachen stehen beim Lesen des Johannesevangeliums immer wieder vor uns. Die großen Taten und Zeichen des Herrn Jesus offenbaren und unterstreichen besonders die Liebe Gottes, während seine Worte besonders die Wahrheit zeigen. Dabei wollen wir nicht vergessen, dass Licht und Liebe ebenso wenig voneinander getrennt werden können wie Gnade und Wahrheit. Deshalb sagt Johannes nicht: „Gnade und Wahrheit sind geworden“, sondern er schreibt: „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17). Beides gehört untrennbar zusammen. Im Leben des Herrn Jesus Christus als Mensch ist Gott auf einzigartige und vollkommene Weise verherrlicht worden.

c) Gott wird Mensch

Der Mensch Christus Jesus ist zugleich der ewige Gott, der „Jahwe“ des Alten Testamentes. Er ist der „Ich bin, der ich bin“ (2. Mo 3,14). Darauf spielt Er selbst in Johannes 18,5 an. Nur bei Johannes finden wir die Aussage des Herrn Jesus: „Ehe Abraham wurde, bin ich“ (Joh 8,58).

Die ersten Verse des Evangeliums unterstreichen diesen Gedanken. Der ewige Sohn Gottes ist das Wort, das Fleisch – d. h. Mensch – wird. Deshalb fehlt jedes Geschlechtsregister. Es wird nichts über die Geburt, die Kindheit und die Zeit vor dem Beginn seines öffentlichen Dienstes gesagt. Als ewiger Sohn Gottes hat Er keinen Anfang und kein Ende (vgl. Joh 8,58; 17,5.24).

Der Herr Jesus ist der ewige Sohn und wird Mensch, ohne eine Sekunde aufzuhören, Gott zu sein. Er kommt aus dem Himmel hernieder (Joh 6,33.50). Er ist und bleibt der eingeborene Sohn des Vaters, der bei dem Vater ist und Ihn auf der Erde offenbart. Zugleich ist Er der Sohn des Menschen, der auf der Erde lebt und im Himmel ist (Joh 3,13). Er ist der Tempel, in dem die Herrlichkeit Gottes wohnt (Joh 2,19–21). Er ist das Brot vom Himmel, von dem wir uns nähren (Joh 6,35.48). Er ist das Licht der Welt (Joh 8,12; 9,5). Er ist der gute Hirte (Joh 10,11.14). Er ist das Weizenkorn, das stirbt und Frucht bringt (Joh 12,24).

d) Der Vater und der Sohn

Noch etwas macht Johannes klar: Der Vater offenbart sich in seinem Sohn. Das einzigartige Gebet des Sohnes zum Vater in Johannes 17 finden wir nur in diesem Evangelium, und es ist in der Tat ein besonderer Höhepunkt. Der Herr Jesus sagt zu Philippus: „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9). An anderer Stelle sagt Er sogar: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30).

Johannes spricht über die Liebe des Vaters zum Sohn und über die Liebe des Sohnes zum Vater (Joh 3,35; 5,20; 14,31; 17,24). Es sind bewegende Aussagen, die wir mit Anbetung im Herzen überdenken. In Kapitel 16 sieht der Herr Jesus das Kreuz vor sich und spricht davon, dass die Jünger Ihn allein lassen würden. Doch dann denkt Er nicht an die Stunden der Finsternis – die Johannes gar nicht erwähnt –, sondern Er sagt: „... und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Joh 16,32).

Doch das ist nicht alles: So einzigartig und den Verstand übersteigend die Beziehung zwischen dem Sohn und dem Vater ist, so wahr ist es, dass diejenigen, die das ewige Leben besitzen, jetzt den Vater kennen und in eine Beziehung zu Ihm gebracht worden sind. Jesus ist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ohne Ihn kann niemand zum Vater kommen (Joh 14,6). Wenn Gott im Alten Testament als Vater bezeichnet wird (z. B. Mal 2,10), meint der Ausdruck dort, dass Er Schöpfer oder Ursprung von etwas (jemand) ist. Im Johannesevangelium lernen wir, dass Gott in dem Herrn Jesus unser Vater geworden ist, zu dem wir eine glückliche Beziehung haben. Das war die gewaltige Botschaft am Auferstehungstag an Maria Magdalene: „Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Diese Beziehung ist von Liebe gekennzeichnet, von der Liebe, die zwischen dem Vater und dem Sohn herrscht (vgl. Joh 15,9; 17,23–26). In Johannes 14,23 sagt der Herr Jesus seinen Jüngern: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Alle diese Aussagen suchen wir in den anderen Evangelien vergeblich.

6.2. Ein universeller Charakter

Die Herrlichkeit des ewigen Sohnes Gottes geht weit hinaus über die Herrlichkeit, die mit dem kommenden Reich auf dieser Erde in Verbindung steht. Deshalb erwähnt Johannes die Szene auf dem Berg nicht, als Jesus vor den Augen der drei Jünger verherrlicht wurde. Es bleibt Petrus vorbehalten, als Augen- und Ohrenzeuge davon zu sprechen (2. Pet 1,16–18). Das Thema von Johannes ist die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes Gottes. Es ist immer sein Anliegen, diese Wahrheit in den Vordergrund zu stellen. Als Folge davon tritt jede andere Verbindung – sei es zu dem Volk Israel oder jede andere Verbindung im Fleisch – völlig in den Hintergrund. Die Juden lehnten den Sohn Gottes ebenso ab wie diese Welt Ihn ablehnte (Joh 1,5.11). Das Gesetz muss weichen, weil in Ihm Gnade und Wahrheit geworden ist (Joh 1,17). Es gibt keine Verbindung mehr zu dem Tempel in Jerusalem. Dort hat der Sohn Gottes keinen Platz. Nikodemus – ein Vertreter des jüdischen Systems – ist nicht einmal in der Lage, irdische Dinge zu glauben, wie viel weniger himmlische Dinge, über die der Sohn Gottes eigentlich mit ihm reden will (Joh 3,12). Die Frau am Jakobsbrunnen ist mit dem Wasser beschäftigt, das ihren natürlichen Durst löscht, während der Herr Jesus von dem lebendigen Wasser spricht, das den Durst der Seele stillt (Joh 4,10). Als der Herr Jesus die Volksmenge mit Brot gespeist hat, belehrt Er seine Jünger mit den Worten: „Wirkt nicht für die Speise, die vergeht, sondern für die Speise, die bleibt ins ewige Leben, die der Sohn des Menschen euch geben wird“ (Joh 6,27). Danach stellt Er sich selbst als das Brot des Lebens vor (Joh 6,35.48). Das alles macht klar, dass es um völlig neue Beziehungen geht, die durch die Offenbarung des Sohnes Gottes jetzt Wirklichkeit werden.

Es ist klar, dass die Offenbarung des Sohnes Gottes nicht auf eine bestimmte Gruppe von Menschen – etwa auf die Juden – beschränkt werden kann. Wenn der ewige Sohn, der Schöpfer von Himmel und Erde, als Mensch auf diese Erde kommt, muss das Folgen für alle haben. Paulus schreibt später, dass Gott nicht ein Gott der Juden allein ist, sondern ebenso der Nationen (Röm 3,29). Die besondere Stellung Israels wird im Johannesevangelium durchaus anerkannt, und zwar am Anfang und am Ende (Joh 1,11; 20,17), dennoch ist der Charakter des ganzen Evangeliums eindeutig universell und – in diesem Sinn – weltumfassend. Das Lamm Gottes ist gekommen, um die Sünde der Welt wegzunehmen (Joh 1,29). Das wird dadurch unterstrichen, dass Johannes etwa 80-mal von der „Welt“ spricht und dabei durchweg ein Wort verwendet, das wir in unserem deutschen Wort „Kosmos“ wiederfinden.13

6.3. Ein Vergleich mit den anderen Evangelien

Der besondere Charakter des Johannesevangeliums wird noch deutlicher, wenn wir es mit den übrigen drei Evangelien vergleichen. Selbst dem flüchtigen Leser wird unmittelbar klar, dass die drei ersten Evangelien sich deutlich von dem vierten unterscheiden. Das vierte Evangelium hat, obwohl es in völliger Harmonie mit den drei vorhergehenden Evangelien steht, einen erkennbar eigenständigen Charakter.

Wir benötigen ohne jede Frage alle vier Evangelien, um ein komplettes Bild von dem zu bekommen, was Gott uns über seinen Sohn zeigen will. Zugleich sind die ersten drei Evangelien notwendig, um Johannes richtig verstehen zu können und keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Es wird beim Lesen des Johannesevangeliums klar, dass er die drei ersten Evangelien als bekannt voraussetzt. Deshalb können wir manches in seinem Evangelium nur verstehen, wenn wir die übrigen Evangelien hinzunehmen.

Wir erkennen beim Lesen dieses vierten Evangeliums eine gewisse Übereinstimmung mit den ersten drei Evangelien, denn das Grundthema ist natürlich gleich. Dennoch ist es auf den ersten Blick erkennbar ganz anders. Johannes „überschneidet“ sich nur zu etwa 10 % mit den übrigen Evangelien. Zirka 90 % seines Textes findet man in den ersten drei Evangelien nicht und zählen somit zu seinem „Sondergut“.

  • Die ersten drei Evangelien beschäftigen sich im Schwerpunkt mit dem Menschen Jesus Christus und stellen Ihn als eine historische Person vor, die auf dieser Erde gelebt hat. Johannes hingegen zeigt uns eine göttliche Person, die auf die Erde kam. Gott offenbart sich in seinem Sohn.
  • Die ersten drei Evangelien zeigen, wie der Herr Jesus nach und nach von seinem Volk abgelehnt wird. Der Hass nimmt zu und endet darin, dass sie Ihn an das Kreuz nageln. Im Johannesevangelium ist die Ablehnung des Herrn Jesus von Anfang an eine Tatsache. Sowohl die Welt als auch sein Volk lehnen Ihn ab (Joh 1,10.11).
  • Die ersten drei Evangelien schreiben ausführlich über die Wunder des Herrn Jesus. Johannes spricht gar nicht von Wundern, er nennt sie Zeichen. Von den etwa dreißig Wundertaten, die in den ersten drei Evangelien beschrieben werden, erwähnt Johannes nur in Kapitel 5 die Speisung der fünftausend Männer. Insgesamt spricht er ohnehin nur von sieben Zeichen, die der Herr vor seinem Werk am Kreuz getan hat (Joh 20,30). Die Zahl sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Diese Zeichen reichen völlig aus, um die Herrlichkeit des Sohnes Gottes zu zeigen. Es folgt in Kapitel 21 ein weiteres Zeichen, sodass im Johannesevangelium insgesamt acht Zeichen beschrieben werden.
  • In den ersten drei Evangelien geht es vornehmlich um die Bedürfnisse des sündigen Menschen. Deshalb ist sehr häufig von Sünden und von Vergebung die Rede. Johannes spricht nur ein einziges Mal von Vergebung (Joh 20,23), und dort geht es nicht einmal um die Vergebung für den Himmel. Wir vermissen ebenso den Appell zur Buße und Umkehr. Der Ausgangspunkt in diesem Evangelium ist nicht das Bedürfnis des sündigen Menschen, sondern das Herz Gottes. Gott offenbart sich in seinem Sohn und öffnet uns sein Herz. Deshalb spricht Johannes viel von der wunderbaren Gabe des ewigen Lebens. Das unterscheidet ihn deutlich von den übrigen drei Evangelisten. Gott hatte es im Herzen, verlorenen und sündigen Menschen nicht nur das zu geben, was sie nötig hatten, sondern unendlich viel mehr. In seinem Sohn Jesus Christus gibt Er jedem Glaubenden ewiges Leben (Joh 3,16; 5,24; 6,47.54; 10,28; 17,2).
  • Die Tatsache, dass Johannes nicht primär vom Bedürfnis des Menschen ausgeht, sondern vielmehr die Seite Gottes vorstellt, wird durch die Beschreibung des Opfers des Herrn Jesus unterstrichen. Im 3. Buch Mose werden zu Beginn vier blutige Opfer gezeigt: das Brandopfer, das Dank- und Friedensopfer, das Sündopfer und das Schuldopfer. In den vier Evangelien finden wir sie in umgekehrter Reihenfolge wieder. Das Schuld- und Sündopfer finden wir bei Matthäus und Markus. Das Dank- und Friedensopfer finden wir besonders bei Lukas, während Johannes das Brandopfer vorstellt. Jesus selbst gibt sein Leben (Joh 10,18). Er ist der Handelnde, der sich selbst als Darbringung und Schlachtopfer Gott hingibt (Eph 5,2) und sich durch den ewigen Geist selbst Gott opfert (Heb 9,14). Der Herr vollbringt das Werk, um Gott zu verherrlichen (Joh 13,31). Jetzt kann Gott seiner Liebe freien Lauf lassen und jedem, der an seinen Sohn glaubt, ewiges Leben geben.
  • Das Johannesevangelium beginnt völlig anders als die anderen drei Evangelien. Zwar bestätigt Markus die Gottheit des Herrn Jesus ebenfalls mit den Worten: „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ (Mk 1,1), doch die Fortsetzung ist völlig anders als bei Johannes. Johannes stellt unmittelbar fest, dass der Herr Jesus das ewige Wort und der ewige Gott ist. Es geht von Anfang an um seine göttliche Natur und darum, dass das Wort Fleisch (Mensch) wurde. Christus ist das Wort, d.h. der vollkommene Ausdruck dessen, was Gott ist und was in Gott ist (Joh 1,14.18). Die ersten fünf Verse zeigen den Charakter des ganzen Evangeliums. Er ist der Sohn Gottes, der von Ewigkeit her existiert.
  • Die ersten drei Evangelien berichten ausführlich über die Gleichnisse, mit denen Jesus die Menschen belehrte. Johannes hingegen spricht gar nicht von Gleichnissen. Das Wort kommt nicht einmal vor.14 Stattdessen ist das Johannesevangelium geprägt von vielen persönlichen Unterhaltungen des Herrn Jesus – deutlich ausgeprägter als in den ersten drei Evangelien. Dazu zählen z.B. die Gespräche mit Nikodemus (Joh 3), mit der Frau am Jakobsbrunnen (Joh 4) und vor allem mit seinen Jüngern (Joh 13–17).
  • Johannes erwähnt manche Begebenheiten, über die in den ersten drei Evangelien gar nichts zu finden ist. Beispiele dafür sind die Hochzeit in Kana (Kap. 2), das Gespräch mit Nikodemus (Kap. 3), das Gespräch mit der Frau am Brunnen (Kap. 4), die Unterweisungen über den guten Hirten (Kap. 10), die letzten Worte des Herrn an seine Jünger (Kap. 13–17) sowie der Schlussakkord in Kapitel 21. Andererseits gibt es wichtige Themen, über die alle anderen Evangelisten sprechen, Johannes jedoch ausdrücklich nicht. Dazu zählen die Versuchung des Herrn zu Beginn seines Dienstes, der sogenannte Berg der Verklärung, die Einsetzung des Gedächtnismahles, die Todesangst in Gethsemane15 und die Stunden der Finsternis. Diese Unterschiede haben ihre Bedeutung und es lohnt sich, darüber nachzudenken.

Bibelkritiker und liberale Theologen wenden bisweilen ein, dass Jesus Christus in den ersten drei Evangelien zwar historisch, jedoch nicht göttlich sei, während Er im vierten Evangelium zwar göttlich, aber nicht historisch sei. Das ist völliger Unsinn. In allen vier Evangelien ist der Herr Jesus wahrer Mensch und wahrer Gott. Matthäus, Markus und Lukas zeigen uns sehr wohl, dass Er Gott ist, und Johannes spricht ausführlich über seine Menschheit. Der Vergleich zeigt uns vielmehr, wo jeder Evangelist seinen Schwerpunkt setzt.

6.4. Inhaltsübersicht

Johannes beginnt sein Evangelium mit einem relativ ausführlichen und inhaltsreichen Prolog (Joh 1,1–18). Die Geburtsgeschichte wird völlig übergangen. Stattdessen erklärt Johannes mit wenigen Worten, mit wem wir es zu tun haben, nämlich mit dem, der ewig existiert und doch Mensch wird. Das Ziel seiner Menschwerdung wird ebenfalls angegeben. Die wesentlichen Punkte sind:

  • Er ist das Wort, das im Anfang bei Gott war und selbst Gott ist
  • Er ist der Schöpfer der Welt
  • Er ist Leben und Licht der Welt
  • Er wurde Mensch und offenbarte göttliche Herrlichkeit
  • Er offenbart den Vater

Allerdings machen diese Verse schon deutlich, dass die Menschen – Juden und Nationen – Ihn von Anfang an nicht haben wollten und abgelehnt haben.

Es folgt ein erster Hauptteil (Joh 1,19–12,50). Darin schreibt Johannes über den öffentlichen Dienst des Herrn Jesus. Er tut das allerdings völlig anders als die übrigen drei Evangelisten. Ein Schwerpunkt dieses Abschnitts sind die sieben Zeichen, die Jesus in diesem Evangelium tut und die damit verbundenen Belehrungen, in denen Er sich besonders als das Leben und das Licht vorstellt. In diesem Teil beschäftigt sich der Sohn Gottes sowohl mit den Volksmengen, den religiösen Führern des Volkes als auch ganz gezielt mit einzelnen Personen.

Geografisch setzt Johannes einen anderen Schwerpunkt als die Synoptiker: Während die ersten drei Evangelisten viel über seinen Dienst in Galiläa schreiben, betont Johannes den Dienst des Sohnes Gottes in Judäa. Er berichtet von verschiedenen Besuchen in Jerusalem. Um eine chronologische Aufstellung des öffentlichen Dienstes des Herrn zu bekommen, sind die Hinweise von Johannes unerlässlich.

Der zweite Hauptteil (Joh 13–17) hat wiederum einen besonderen Charakter. Die Aufmerksamkeit Jesu konzentriert sich auf seine Jünger, die Er liebte und denen Er sich nun zuwendet. Ohne die Abschiedsworte des Herrn würde uns ein wesentlicher Teil des Neuen Testamentes fehlen. Es sind seine letzten Handlungen (die Fußwaschung) und Worte, bevor Er den schweren Weg zum Kreuz geht. In Gedanken steht Er bereits hinter dem Kreuz und freut sich auf seine Rückkehr zum Vater. Er behandelt wichtige Themen, wie z. B. das Gebot einander zu lieben, sein Versprechen bald zurückzukommen, um die Jünger in das Haus seines Vaters zu bringen, Belehrungen über die Person und das Wirken des Heiligen Geistes. Der Herr spricht vom Fruchtbringen, aber auch von Feindschaft, Hass und Verfolgung durch diese Welt. Ein besonderer Höhepunkt ist das Gebet des Sohnes zum Vater in Kapitel 17.

Im dritten Hauptteil geht es um das Leiden, das Sterben und die Auferstehung des Sohnes Gottes. Die Schwerpunkte bei Johannes sind wiederum anders als bei den übrigen Evangelisten. Er erwähnt z. B. die Stunden der Finsternis überhaupt nicht und widmet ein ganzes Kapitel der Auferstehung des Sohnes Gottes.

Der längere Epilog (Joh 21) beschreibt ein letztes Zeichen des Sohnes Gottes und enthält zugleich seine letzten Worte an die Jünger am See von Tiberias. Dabei steht vor allem Petrus im Mittelpunkt. Mit einer Schlussbemerkung des Johannes endet dieses besondere Evangelium.

7. Besonderheiten

7.1. Die Sprache

Was beim Lesen dieses Evangeliums besonders auffällt, ist die einfache Sprache. Obwohl Johannes unter der Leitung des Heiligen Geistes in seinem Evangelium sehr tiefe Wahrheiten vorstellt, benutzt er eine besonders schlichte Sprache. Er kommt mit einem Vokabular von nur etwa 700 verschiedenen Wörtern aus. Das ist mehr als erstaunlich und macht das Lesen seines Evangeliums auf der einen Seite sehr einfach. Andererseits gelingt es nur dem Heiligen Geist, mit einfachen Worten tiefe Wahrheiten vorzustellen. Man hat das Johannesevangelium mit einem – in der Realität nicht denkbaren – Teich verglichen, der so flach ist, dass ein kleines Kind ihn durchwaten und der zugleich so tief ist, dass ein Elefant ihn nicht durchqueren kann. Das zeigt das Geheimnis der göttlichen Inspiration, denn ein solches Buch kann kein Mensch aus eigener Initiative schreiben.

Eine Besonderheit in der Sprache des Johannes ist die manchmal sehr abstrakte Schreibweise. Das wird in seinem ersten Brief besonders deutlich. An einigen Stellen in seinem Evangelium finden wir das ebenfalls. Johannes spricht häufig über das Wesen einer Sache, ohne irgendwelche Nebeneinflüsse zu berücksichtigen, die es durchaus geben mag. Das macht das Verständnis manchmal etwas schwieriger, hilft jedoch, die eigentliche Wahrheit besser zu verstehen. Ein Beispiel dafür finden wir in Kapitel 1,4. Die Aussage: „Das Leben war das Licht der Menschen“ (Joh 1,4) ist absolut wahr, sie sagt allerdings (noch) nichts darüber aus, ob die Menschen das Licht angenommen haben oder nicht.

7.2. Ich bin

Nur im Johannesevangelium finden wir die sieben großen „Ich bin“-Aussagen, die darauf hinweisen, dass der Sohn Gottes niemand anderes ist als der „Jahwe“ des Alten Testamentes, der ewige Gott. Er ist:

  • das Brot des Lebens (Joh 6,35), d.h. die geistliche Nahrung für jeden Hunger der Seele
  • das Licht der Welt (Joh 8,12), das die Finsternis verbannt, die jeden Menschen von Natur kennzeichnet
  • die Tür der Schafe (Joh 10,7.9), d.h. er kam auf dem rechtmäßigen Weg und ist derjenige, durch den wir jetzt Zugang finden
  • der gute Hirte (Joh 10,11.14), der sein Leben für seine Schafe lässt und seine eigenen Schafe mit Namen ruft
  • die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25), d.h. derjenige, der jedem die Furcht vor dem Tod nimmt, der an Ihn glaubt
  • der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Nur durch Ihn gibt es Zugang zum Vater
  • der wahre Weinstock (Joh 15,1.5), in dem wir bleiben müssen, um selbst Frucht zu bringen.

7.3. Sieben Zeichen

Das Johannesevangelium spricht von sieben Zeichen, die der Herr Jesus vor seinem Werk am Kreuz getan hat (vgl. Joh 20,30.31). Es sind nicht nur Zeichen der Gnade und Barmherzigkeit des Herrn, sondern vor allem Beweise dafür, dass Er der vom Vater gesandte Sohn war. Zudem offenbaren sie seine Herrlichkeit (Joh 2,11). Das achte Zeichen nach seiner Auferstehung in Kapitel 21 hat einen besonderen Charakter. Die sieben Zeichen sind:

  • Wasser wird zu Wein (Joh 2). Damit offenbart Jesus seine Macht über die Materie.
  • Der Sohn des königlichen Beamten wird geheilt (Joh 4). Hier wird deutlich, dass der Sohn Gottes nicht an den Raum gebunden ist.
  • Der Lahme am Teich von Bethesda wird gesund gemacht (Joh 5). Es spielt für unseren Herrn keine Rolle, ob jemand schon lange krank ist oder nicht. Er steht über der Zeit.
  • Fünftausend Männer werden gesättigt (Joh 6). Die Zeichen, die der Herr tat, sind nicht an die Menge gebunden. Er stillt den Seelendurst einer einzigen Frau und sättig mehrere Tausend Menschen.
  • Jesus geht auf dem See von Galiläa (Joh 6). Naturgesetze sind für den Sohn Gottes kein Hindernis.
  • Der Blindgeborene bekommt das Augenlicht geschenkt (Joh 9). Es gibt kein menschliches „Schicksal“, das eine Veränderung durch den Herrn Jesus unmöglich macht.
  • Lazarus wird aus den Toten auferweckt (Joh 11). Der Sohn Gottes ist der Herr über Leben und Tod. Der Tod kann Ihn nicht aufhalten.

Das Ziel der Zeichen des Herrn ist der Glaube an Ihn. Es ist gefährlich, die Wunderwerke zu stark zu betonen. Sie sind stets Mittel zum Zweck. Es geht nicht in erster Linie um das Wunder, sondern um den Glauben. Es geht darum, die Herrlichkeit des Sohnes Gottes zu erkennen.

7.4. Schlüsselwörter und Schlüsselverse

Johannes benutzt bestimmte Wörter sehr häufig, sodass wir sie als Schlüsselwörter bezeichnen könnten. Dazu zählen die Wörter „Vater“ (über 100-mal) und „Sohn“ (ca. 40-mal). „Liebe“ (ca. 40-mal), „Leben“16 (ca. 40-mal) und „Licht“ (ca. 20-mal) sind ebenso häufig vorkommende Wörter, die Johannes in seinen Briefen erneut aufgreift. Obwohl der Sohn Gottes selbst auf diese Erde kam, um Gott zu offenbaren, wird immer wieder davon gesprochen, dass Er der „Gesandte“ war. Die Wörter „gekommen“ und „gesandt“ kommen jeweils ca. 40-mal vor. Weitere zentrale Wörter sind „Welt“ (ca. 80-mal), „Wort“ (ca. 40-mal) und „Zeugnis“ (ca. 50-mal). Der Sohn Gottes kam tatsächlich in die Welt, um hier ein Zeugnis abzulegen. Das Wort „Zeichen“ wird ca. 20-mal erwähnt, und ca. 25-mal lesen wir die betonten Wörter „wahrlich, wahrlich“. Zirka 25-mal wird von „Wahrheit“ gesprochen. Die Wörter „Herrlichkeit“ und „verherrlichen“ (insgesamt ca. 25-mal) sind ebenfalls kennzeichnend für das vierte Evangelium.

Besonders auffallend ist, dass das Wort „glauben“ fast 100-mal vorkommt, und zwar fast immer im Präsens oder in der Partizipialform. Als Substantiv hingegen kommt es gar nicht vor. Es geht im Johannesevangelium um ein aktives und konstantes Vertrauen in Jesus. Nur wer glaubt, kann ewiges Leben empfangen.

Häufig bietet es sich an, bestimmte Schlüsselverse eines Bibelbuches zu suchen. Diese gibt es im Johannesevangelium ebenfalls. Allerdings müsste man an dieser Stelle eine ganze Reihe von Versen aufführen, die kennzeichnend für das Evangelium sind. Deshalb möchte ich bewusst darauf verzichten. Wir gehen wohl nicht zu weit, wenn wir behaupten, dass einer der bekanntesten Verse der ganzen Bibel – wenn nicht der bekannteste überhaupt – diesem Evangelium entnommen ist.

„Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16).

Eingerahmt wird das Evangelium durch folgende Verse:

„Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht“ (Joh 1,18).

„Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr glaubend Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31).

8. Sondergut

Das Johannesevangelium ist völlig anders als die drei synoptischen Evangelien. Gemeinsam ist allen vier Evangelien, dass sie das Leben und Sterben des Heilandes sowie seine Auferstehung beschreiben. Ansonsten ergänzt Johannes die drei übrigen Schreiber. 90% dessen, was er berichtet, steht nicht in den übrigen Evangelien. Deshalb macht es wenig Sinn, an dieser Stelle das aufzulisten, was Johannes von den übrigen Schreibern unterscheidet. Der Leser merkt, dass Johannes Wiederholungen vermeidet und die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was in den übrigen Evangelien nicht steht. Anders als bei den Synoptikern, finden wir bei Johannes z. B. relativ wenige Begebenheiten, bei denen der Herr zu einer Volksmenge spricht. Er beschränkt sich vielmehr darauf, über Unterredungen mit Einzelnen zu berichten. Von den vielen Wundern, die Jesus getan hat, gib es nur ein einziges, das in allen vier Evangelien genannt wird. Es handelt sich um die Speisung der 5.000 Männer. Zu den Besonderheiten des Johannes zählen ohne jede Frage auch die Kapitel 13–17, in denen unser Herr mit seinen Jüngern zusammen ist und ihnen letzte Mitteilungen macht.

9. Gliederung

Eine gute Möglichkeit, den Text des Johannesevangeliums einzuteilen, ist der Vergleich mit der Stiftshütte im Alten Testament. Demnach befinden wir uns in den Kapiteln 1–12 im Vorhof, in den Kapiteln 13–16 im Heiligtum und in den Kapiteln 17–21 im Allerheiligsten. Wenn man diese drei Teile etwas näher besieht, kann man folgende Übersicht geben:

Prolog: Kapitel 1,1–18: Jesus Christus ist das Wort (Einleitung)

Teil 1: Kapitel 1,19–12,50: Der öffentliche Dienst des Sohnes Gottes

  • Kapitel 1,19–51: Jesus, der Sohn Gottes, das Lamm Gottes, der Messias und der Sohn des Menschen
  • Kapitel 2: Die Hochzeit zu Kana und die Reinigung des Tempels
  • Kapitel 3: Gespräch mit Nikodemus und Johannes der Täufer
  • Kapitel 4: Gespräch mit der Frau am Jakobsbrunnen und der Sohn des königlichen Beamten
  • Kapitel 5: Die Heilung am Teich von Bethesda und der Widerstand der Juden
  • Kapitel 6: Die Speisung der 5.000 und Belehrungen über das Brot des Lebens
  • Kapitel 7: Der Herr Jesus auf dem Laubhüttenfest in Jerusalem
  • Kapitel 8: Die Ehebrecherin und die Ablehnung der Worte des Herrn Jesus
  • Kapitel 9: Der Blindgeborene und die Ablehnung der Werke des Herrn Jesus
  • Kapitel 10: Belehrungen über den guten Hirten und seine Schafe
  • Kapitel 11: Der Herr Jesus in Bethanien und die Auferweckung von Lazarus
  • Kapitel 12: Die Salbung des Herrn Jesus durch Maria, der Wunsch der Griechen und der Unglaube der Juden

Teil 2: Kapitel 13,1–17,26: Der Dienst des Sohnes Gottes an seinen Jüngern

  • Kapitel 13: Belehrungen über die Fußwaschung
  • Kapitel 14: Belehrungen über den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist
  • Kapitel 15: Belehrungen über den wahren Weinstock und die Frucht
  • Kapitel 16: Belehrungen über den Heiligen Geist und die neue Zeit
  • Kapitel 17: Das Gebet des Sohnes zu seinem Vater

Teil 3: Kapitel 18–20: Die Leiden, der Tod und die Auferstehung des Sohnes Gottes

  • Kapitel 18–19: Der Weg zum Kreuz und das Werk am Kreuz
  • Kapitel 20: Die Auferstehung des Herrn Jesus und seine Erscheinung

Epilog: Kapitel 21: Der Herr erscheint seinen Jüngern am See

10. Praktische Lektionen

Jedes Evangelium zeigt uns einerseits die Herrlichkeit der Person unseres Herrn, der auf diese Erde kam, um ein Leben zur Ehre Gottes zu leben. Andererseits beinhaltet jedes Evangelium praktische Lektionen für uns, um von unserem Herrn zu lernen und Ihm ähnlicher zu werden.

In den synoptischen Evangelien sind es besonders die Fußspuren und Gesinnung des Herrn Jesus selbst, von denen wir lernen können. Sie betonen – wenngleich mit unterschiedlichen Schwerpunkten – die Menschheit des Herrn Jesus. Im Johannesevangelium ist das etwas anders. Dort steht seine Gottheit im Fokus, in der Er immer einzigartig vor uns steht. Beim Lesen des Johannesevangeliums sind die Lektionen deshalb etwas anderer Art. Es sind weniger die Fußspuren des Menschen Jesus Christus, von denen wir lernen, sondern vielmehr seine Belehrungen, die Er gibt. Exemplarisch sei an drei Dinge erinnert:

  1. In Ihm bleiben und lieben, wie Er geliebt hat: In Johannes 15,4 sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Bleibt in mir, und ich in euch. Wie die Rebe nicht von sich selbst aus Frucht bringen kann, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt“. Wenig später fügt Er hinzu: „Wie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibt in meiner Liebe“. In Ihm zu bleiben bedeutet, unsere Wohnung (unser Zuhause) in Ihm zu haben und in praktischer Gemeinschaft mit Ihm zu leben. Das ist die Voraussetzung dafür, Frucht für Ihn zu bringen, damit der Vater verherrlicht wird. Und nur dann, wenn wir in Ihm und in seiner Liebe bleiben, werden wir einander lieben.
  2. Von der Welt getrennt leben: Der Herr Jesus war auf dieser Erde ein Fremdkörper. Er war in der Welt und Er war das Licht der Welt. Dennoch gehörte Er nicht zu diesem System, das in Feindschaft zu Gott ist, ebenso wie wir nicht zu der Welt gehören. Es fällt auf, wie oft der Herr gerade in den Abschiedsreden an seine Jünger (Joh 13–17) über die Welt und unser Verhältnis zur Welt spricht. Die Welt hat Ihn gehasst und sie wird uns hassen. Dennoch haben wir in dieser Welt einen Auftrag zu erfüllen, nämlich seine Zeugen zu sein.
  3. Uns senden lassen, wie Er sich senden ließ: In Johannes 17,18 sagt der Sohn zum Vater: „Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“. Das wird ganz am Ende des Evangeliums mit etwas anderen Worten noch einmal gesagt: „Jesus sprach nun wieder zu ihnen: Friede euch! Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende auch ich euch“ (Joh 20,21). Die anderen Evangelien zeigen, dass das mit dem Auftrag verbunden ist, der ganzen Schöpfung das Evangelium zu verkündigen. Johannes zeigt den Herrn Jesus als den, der mit einer Mission vom Vater gesandt wurde. Unsere Mission ist eine andere und doch lernen wir von unserem Herrn, unsere Mission treu zu vollenden.

Fußnoten

  • 1 Das Thema der Versammlung Gottes war besonders dem Apostel Paulus anvertraut. Petrus legt den Schwerpunkt auf das Reich Gottes und Johannes auf die Familie Gottes.
  • 2 Quelle: Adversus häreses 3,1
  • 3 Es sei angemerkt, dass es vor knapp 100 Jahren Papyrusfunde in Ägypten gegeben hat, die eine frühe Verfassungszeit am Ende des ersten Jahrhunderts stützen und damit die Tatsache, dass Johannes der Autor ist. Der älteste Papyrusfund ist ein Fragment, der sogenannten Papyrus P52, der auf der einen Seite einen Text aus Johannes 18,31-33 und auf der anderen Seite aus Kapitel 18,37.38 enthält. Man hat dieses Papyrusfragment sehr genau untersucht und festgestellt, dass es aus der Zeit 125–130 n. Chr. stammt. Wenn ein solches Dokument in Ägypten gefunden wurde, muss man davon ausgehen, dass das Original einige Jahre vorher geschrieben worden ist. Wir können deshalb relativ sicher davon ausgehen, dass es nicht wesentlich später als im Jahr 100 n. Chr. geschrieben worden sein kann. P52 ist somit ein guter Beweis für das Alter und die Authentizität des Johannesevangeliums.
  • 4 Das zeigt, dass die häufig geäußerte Ansicht, Johannes sei ein sehr sanfter Mann gewesen, nicht unbedingt zutreffend ist. Von Natur aus war er es jedenfalls nicht.
  • 5 Die Insel Patmos liegt nicht sehr weit von Ephesus entfernt.
  • 6 Das steht nicht im Widerspruch zu der Aussage von Paulus in Kolosser 1,25, wo er von der Versammlung spricht und schreibt: „... deren Diener ich geworden bin nach der Verwaltung Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, um das Wort Gottes zu vollenden.“ Das Geheimnis von Christus und seiner Versammlung wurde in der Tat erst durch den Apostel Paulus offenbart. Johannes behandelt in seinen Schriften Themen, die nicht in diesem Sinn „neu“ waren, denn der Herr Jesus hatte zu seinen Lebzeiten selbst ausführlich darüber gesprochen, während Er das Thema „Versammlung“ nur sehr knapp angedeutet hatte (vgl. Mt 16,18; 18,20).
  • 7 Das mag der Grund dafür sein, dass es in fast allen Bibelausgaben an vierter Stelle steht.
  • 8 Jesus ist sein Name. Dieser Name wurde Ihm bei seiner Geburt gegeben. Christus ist sein Titel. Er ist der Gesalbte Gottes. Dass Er darüber hinaus der Sohn Gottes ist, zeigt, dass Er eine ewige und göttliche Person ist.
  • 9 Noch deutlicher wird das im ersten Johannesbrief. Dort schreibt er: „Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes“ (1. Joh 5,13). Es geht nicht nur darum, etwas „zu glauben“, sondern ebenfalls darum, etwas „zu wissen“. Die Formulierung „wir wissen“ kommt sowohl im Evangelium als auch im ersten Brief des Johannes häufiger vor als in jedem anderen Bibelbuch.
  • 10 Es ist völlig klar, dass Johannes – wie alle anderen Verfasser biblischer Bücher – unter der Leitung des Heiligen Geistes schrieb. Es ist gut möglich, dass es, der kirchlichen Überlieferung folgend, Menschen waren, die Johannes drängten, sein Evangelium zu schreiben, weil sie gewisse Gefahren durch falsche Lehre sahen. Doch wenn es so war, dann waren diese Menschen gleichwohl Werkzeuge in Gottes Hand. Was Johannes niederschrieb, entspricht Wort für Wort dem, was der Heilige Geist wollte (1. Kor 2,13; 2. Tim 3,16; 2. Pet 1,21).
  • 11 Das Wort „Gnosis“ bedeutet „höhere Kenntnis“.
  • 12 Seine amtliche Herrlichkeit ist z. B. die des Königs, des Knechtes, des Propheten, des Priesters usw. Seine persönliche Herrlichkeit besteht mehr in dem, was Er seinem Wesen nach ist.
  • 13 In den übrigen Evangelien kommt das Wort „Welt“ insgesamt nur fünfzehnmal vor. Zwölfmal ist es das Wort „Kosmos“, dreimal ein anderes Wort, das „Erdreich“ oder „bewohnte Erde“ bedeutet.
  • 14 Dem in Johannes 10,6; 16,25 und 16,29 übersetzten Wort „Gleichnis“ liegt ein anderes griechisches Wort zugrunde als das, was die ersten drei Evangelisten benutzen. Das Wort bedeutet eigentlich „Vergleich“. Es kommt noch einmal in 2. Pet 2,22 vor und ist dort mit „Sprichwort“ übersetzt.
  • 15 Johannes erwähnt das Wort Gethsemane gar nicht, sondern spricht von einem Garten.
  • 16 17-mal ist dabei von „ewigem Leben“ die Rede.
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