Einführung in die geschichtlichen Bücher des Neuen Testaments
(Matthäus – Apostelgeschichte)

Teil 1: Allgemeine Hinweise

Einführung in die geschichtlichen Bücher des Neuen Testaments

Zum Thema

Mit den vier Evangelien – Matthäus, Markus, Lukas und Johannes – und der Apostelgeschichte beginnt das Neue Testament. Diese fünf Bücher sind zwar der Zeit nach nicht die ältesten Schriften des Neuen Testamentes, bilden jedoch geschichtlich (und ebenfalls der Lehre nach) die Grundlage für die folgenden Bücher (die Briefe und die Offenbarung). Sie sind für jeden Bibelleser – unabhängig vom Alter und der geistlichen Reife – wichtig und sollten immer wieder gelesen werden.

  • Die vier Evangelien geben uns vom Geist Gottes inspirierte Berichte über das Leben des Sohnes Gottes, der Mensch geworden ist. Es handelt sich dabei durchaus nicht um klassische Biografien, sondern um ausgewählte Ereignisse aus dem Leben des Sohnes Gottes, der als Mensch auf dieser Erde gelebt und am Ende sein Leben gegeben hat, bevor Er danach siegreich aus den Toten auferstanden und in den Himmel zurückgekehrt ist.1
  • Die Apostelgeschichte zeigt, wie das Evangelium – die Botschaft Gottes über seinen Sohn –, in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod von Jesus Christus verbreitet wurde.

A. C. Gaebelein weist darauf hin, dass Gott in diesen geschichtlichen Büchern nicht wie ein „Reporter“, sondern eher wie ein „Herausgeber“ schreibt.2 Die Aufgabe des Reporters besteht darin, Sachverhalte so zu schreiben, wie sie passiert sind. Der Herausgeber hingegen stellt das Material in einer Weise zusammen, die seinen Überlegungen entspricht. Deshalb legen die Schreiber den Schwerpunkt häufig nicht auf die zeitliche Reihenfolge, sondern stellen sie nach inhaltlichen Themen dar.

Eine treffliche Zusammenfassung dessen, was die Evangelien und die Apostelgeschichte berichten, gibt Petrus im Haus des Kornelius:

„Jesus, den von Nazareth, wie Gott ihn mit Heiligem Geist und mit Kraft gesalbt hat, der umherging, wohltuend und alle heilend, die von dem Teufel überwältigt waren; denn Gott war mit ihm. Und wir sind Zeugen alles dessen, was er sowohl im Land der Juden als auch in Jerusalem getan hat; den sie auch umgebracht haben, indem sie ihn an ein Holz hängten. Diesen hat Gott am dritten Tag auferweckt und ihn sichtbar werden lassen“ (Apg 10,38-40).

Die Evangelien zeigen, wie Gott seine Zusagen aus dem Alten Testament erfüllt und den „zuvor bestimmten Christus Jesus“ gesandt hat (Apg 3,20). Allerdings machen sie ebenfalls klar, dass die Juden, zu denen Er vornehmlich kam, Ihn abgelehnt und umgebracht haben. Die Apostelgesichte zeigt, wie sich die Botschaft über „diesen Jesus“ verbreitet hat. Für jeden Bibelleser ist es unerlässlich, das zu tun, wozu uns der Schreiber des Hebräerbriefes auffordert:

„... hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet“ (Heb 12,2.3).

Man kann die Evangelien und die Apostelgeschichte nur mit großer Ehrfurcht und mit Respekt lesen. Sie beinhalten nicht nur das Handeln Gottes und seine großen Taten, sondern es geht um Gott selbst, der in seinem Sohn Mensch wird und zu uns Menschen kommt – Gott offenbart im Fleisch (1. Tim 3,16). Während die Evangelien den Schwerpunkt darauf legen, was Er für uns tat, legt die Apostelgeschichte den Schwerpunkt auf das, was Er durch uns tun will.

1. Teil des Neuen Testamentes

Die genannten fünf Bücher eröffnen den Kanon des Neuen Testamentes. Dieser zweite Teil der Bibel ist anders als der erste Teil und dennoch untrennbar damit verbunden. Das Alte Testament beschäftigt sich (mit Ausnahme der ersten 11 Kapitel des 1. Buches Mose) mit der Geschichte des irdischen Volkes Gottes. Die Juden teilen das Alte Testament in drei Teile ein. Diese Einteilung wird vom Herrn Jesus ausdrücklich bestätigt (vgl. Lk 24,44b): 3

  • Das Gesetz Moses – die Thora (dazu zählen die fünf Bücher Mose)
  • Die Propheten – die Nebiim (dazu zählen die Bücher Josua, Richter, Samuel, Könige, Jesaja, Jeremia, Hesekiel und die sogenannten 12 kleinen Propheten)
  • Die Psalmen (oder Schriften) – die Ketubim (dazu zählen die Psalmen, die Sprüche, die Bücher Hiob, Hohelied, Ruth, Klagelieder, Prediger, Esther, Daniel Esra, Nehemia und Chronika)

Das Neue Testament gehört – wie das Alte Testament – zu den von Gott eingegebenen Schriften. Es beschäftigt sich im Wesentlichen mit Gottes himmlischem Volk (ohne das irdische Volk völlig außer Acht zu lassen). Es entstand im 1. Jahrhundert n. Chr. (etwa zwischen 45 und 95 n. Chr.) und umfasst insgesamt 27 Bücher, die von weniger als 10 Schreibern verfasst wurden. Es wurde in griechischer Sprache geschrieben.

Die 27 Bücher des Neuen Testamentes können leicht in vier Teile unterteilt werden, sodass sich für die gesamte Bibel sieben Teile ergeben:

  • Die vier Evangelien – Erinnerung
  • Die Apostelgeschichte – Zeugnis
  • Die Briefe – Lehre
  • Die Offenbarung – Prophetie

Diese Einteilung ergibt sich u. a. in Anlehnung der Worte des Herrn Jesus, der seinen Jüngern vier Dinge nannte, die mit der Aktivität des Heiligen Geistes verbunden sind:

  1. Er würde sie an alles erinnern, was Er zu ihnen gesagt hatte (Joh 14,26) – das betrifft die Evangelien.
  2. Der Heilige Geist würde von Ihm zeugen und Er würde den Jüngern Kraft geben, um von Ihm zu zeugen (Joh 15,26; Apg 1,8) – das betrifft die Apostelgeschichte.
  3. Er würde sie alles lehren (Joh 14,26) und sie in die ganze Wahrheit leiten (Joh 16,13) – das betrifft besonders die Briefe des Neuen Testamentes.
  4. Er würde ihnen das Kommende verkündigen (Joh 16,13) – das betrifft besonders die Offenbarung.4

Zusammenfassend halten wir fest, dass die Bibel aus sieben Teilen besteht, deren Autorität der Herr Jesus ausdrücklich bestätigt. Die vier Evangelien bilden dabei einen eigenständigen Teil. Sie sind der zentrale Mittelpunkt und leiten zugleich das Neue Testament ein. Die Apostelgeschichte schließt sich unmittelbar an. Es sind die fünf historischen Bücher des Neuen Testamentes.

2. Vierhundert Jahre Schweigen und ihr Ende

Die Zeit zwischen dem Alten und dem Neuen Testament wird häufig dadurch beschrieben, dass Gott 400 Jahre lang geschwiegen hat. Das ist insofern zutreffend, weil zwischen dem letzten Propheten des Alten Testamentes – Maleachi – und Johannes dem Täufer (dem Vorläufer des Messias) in der Tat ca. 400 Jahre vergangen waren. In dieser Zeit hatte Gott keine direkte Botschaft an sein Volk. Das bedeutet allerdings nicht, dass Gott in seinem Wort über diese Zeit nichts zu sagen hat. Er hat sehr wohl darüber gesprochen. Besonders der Prophet Daniel schreibt über diese Zeit. Er erwähnt die vier Weltreiche, von denen drei in dieser Phase an der Macht waren. Das sind zunächst das persische Reich (von 539–331 v. Chr.), dann das griechische Reich (von 331–143 v. Chr.) und schließlich das aufkommende Römische Reich. Sowohl in Daniel 2 als auch in Daniel 7 ist von diesen politischen Mächten die Rede. Sehr ausführlich wird in Daniel 11 über die Zeit zwischen Maleachi und Johannes gesprochen.

Nachdem die Juden nach der siebzigjährigen Gefangenschaft in ihr Land zurückgekehrt waren und die Tempel und die Stadt Jerusalem wiederaufgebaut hatten, zeigte sich erneuter Verfall. Davon sprechen die geschichtlichen Bücher Esra und Nehemia sowie die dazu gehörenden prophetischen Bücher Haggai, Sacharja und Maleachi.5 Danach schweigt Gott. Und doch hat Er sein Volk nicht aus den Augen verloren. In diese Zeit fällt z. B. der Aufstand der Makkabäer, in der Gott seinem Volk ein gewisses Aufleben schenkte. Dennoch ist diese Zeit im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass das Volk insgesamt ein Spielball politischer Mächte im Norden und Süden (die Nachfolger Alexander des Großen im Norden und Ägypten im Süden) war und nur wenige Juden treu an ihrem Gott festhielten.

Am Ende dieser Zeitperiode gehörten die ersten drei Weltreiche (Babylon, Persien, Griechenland) der Vergangenheit an. Zu Beginn des Neuen Testamentes regierten die römischen Kaiser als Vertreter des vierten Weltreiches. Und Gott benutzte in seiner Vorsehung gerade die Römer, um – äußerlich gesehen – günstige Voraussetzungen für die Verbreitung des Evangeliums weit über die Grenzen Israels hinaus zu schaffen. Er tat das durch die „Pax Romana“ (oder „Pax Augusta“). Darunter versteht man den Römischen Frieden, eine ca. 250 Jahre währende Periode, die im Großen und Ganzen von innerem politischen Frieden und Stabilität geprägt war. Die Phase begann unter Kaiser Augustus kurz vor der Geburt Christi und währte bis etwa 235 n. Chr. Während dieser Zeitperiode war es aufgrund des äußeren Friedens relativ ungefährlich, im römischen Reich von einer Region zur anderen zu reisen. Hinzu kam, dass die Römer über ein gut ausgebautes Wegenetz (Land und Mittelmeer) verfügten, wodurch das Reisen erleichtert wurde.6 Das alles trug nicht unwesentlich zur Verbreitung des Evangeliums in der Zeit der Apostelgeschichte und danach bei.

Das Ende dieser Zeit nennt die Bibel „die Fülle der Zeit“ (d. h. die von Gott festgelegte Zeit). Als dieser Zeitpunkt gekommen war, sandte Gott seinen Sohn (Gal 4,4). Zu diesem Zeitpunkt waren 69 der 70 Jahrwochen erfüllt, über die Gott zu Daniel gesprochen hatte (Dan 8,25.26). Danach sollte der Messias kommen – und Er ist gekommen. Doch Er wurde – wie vorausgesagt – weggetan und hatte nichts.

Der Vorläufer des Messias – Johannes der Täufer – war ebenfalls angekündigt worden. Der letzte Prophet des Alten Testamentes spricht von ihm: „Siehe, ich sende meinen Boten, damit er den Weg vor mir her bereite. Und plötzlich wird zu seinem Tempel kommen der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehrt: Siehe, er kommt, spricht der HERR der Heerscharen“ (Mal 3,1). Er war die „Stimme eines Rufenden“, von der wir bereits in Jesaja 40,3 lesen. Mit Johannes dem Täufer endete die Zeit des Schweigens Gottes – die zugleich eine Zeit des Gerichtes war. Die Fülle der Zeit war gekommen und Gott sandte seinen Sohn, der jedoch abgelehnt und am Ende an ein Kreuz genagelt wurde. Genau das ist – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – das Thema der vier Evangelien. In der Apostelgeschichte wird davon Zeugnis abgelegt.

Es bleibt die Frage, wann genau Jesus Christus geboren wurde, wann Er seinen Dienst begann und wann Er starb. Die Kalender, die wir heute benutzen, gehen davon aus, dass Er im Jahr 1 geboren wurde (AD bedeutet Anno Domini oder im Jahr des Herrn). Allerdings gibt es gute Gründe anzunehmen, dass das Jahr 1 als tatsächliches Geburtsjahr nicht ganz korrekt ist. Interne Belege der Bibel selbst und externe Belege außerhalb der Bibel lassen auf ein etwas früheres Datum schließen (wahrscheinlich 5 v. Chr.). Matthäus 2,1 und Lukas 1,5 zeigen, dass Herodes (der Große) noch lebte, als Jesus geboren wurde. Historischen Quellen zufolge verstarb er im Jahr 4 v. Chr. Demnach muss das Geburtsjahr unseres Herrn mindestens ein Jahr vorher liegen (vgl. Mt 2,6).

Unser Herr begann seinen Dienst, als Er ungefähr 30 Jahre alt war (Lk 3,23).7 Vorher trat Johannes der Täufer auf – und zwar im fünfzehnten Jahr des Kaisers Tiberius (Lk 3,1). Wann genau das war, lässt sich ebenfalls nicht mit letzter Sicherheit sagen. Es muss 28 oder 29 n. Chr. gewesen sein. Damit fällt der Beginn des Dienstes des Herrn wahrscheinlich in das Jahr 29 n. Chr. Das Jahr seiner Kreuzigung war demzufolge mit hoher Wahrscheinlichkeit das Jahr 33 n. Chr. – und zwar am jüdischen Passahfest. Das war im Jahr 33 n. Chr. ein Freitag (der 14. Nisan). Der Zeitraum des öffentlichen Dienstes des Herrn umfasst damit zwischen 3 und 4 Jahren. Johannes erwähnt drei Passahfeste, die in dieser Zeit stattfanden (Joh 2,13; 6,4; 11,55). Möglicherweise gab es noch ein weiteres Passahfest, das nicht mit Namen genannt wird (Joh 5,1). Wenn das so ist, dann umfasste der öffentliche Dienst des Herrn mindestens drei und maximal vier Jahre.

3. Der politische Hintergrund

Zum Verständnis mancher Aussagen in den Evangelien und der Apostelgeschichte ist es nützlich, den politischen Hintergrund der damaligen Zeit ein wenig zu kennen. Die politische Situation leitet sich aus den Ereignissen ab, die zwischen dem Alten und dem Neuen Testament stattfanden.

Die Juden waren aufgrund ihrer Untreue und Rebellion gegen Gott von dem Regenten des ersten Weltreiches – dem babylonischen Reich – in die Gefangenschaft gebracht worden. Damit hatten die „Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24) begonnen, in der Gott die Regierung der Völker ausdrücklich in die Hand der Nationen gegeben hatte. Diese Zeit dauerte an, als Christus geboren wurde. Das babylonische Reich war längst Geschichte, ebenso das folgende persische und das darauffolgende griechische Reich. Gerade unter den Nachfolgern des ersten Regenten des griechischen Reiches – Alexander des Großen – hatten die Juden besonders zu leiden gehabt. Inzwischen hatten die Römer (das vierte Weltreich) die Macht ergriffen und regierten über Palästina. Pilatus war der Vertreter der römischen Besatzungsmacht, der Christus zum Tod verurteilte.

Die Juden litten unter der römischen Besatzung und wünschten sich Befreiung. Das galt für alle Bevölkerungsschichten (vgl. Lk 2,38; 17,20; 19,11; 24,21; Apg 1,6). Doch das römische Joch konnte nicht abgeschüttelt werden, weil die Juden ihren Messias ablehnten und Ihn – sogar in Kooperation mit den Römern – zu Tode brachten. Am Ende behaupteten sie sogar, dass sie keinen König hätten als nur den Kaiser.

3.1. Die römischen Kaiser

In Rom herrschten um die Jahrtausendwende die Kaiser (Cäsaren). Die Familie Cäsars regierte bis zu Kaiser Nero. Die Bibel erwähnt namentlich Kaiser Augustus (Lk 2,1) und Kaiser Tiberius (Lk 3,1), der während des öffentlichen Dienstes des Herrn Jesus Kaiser war. Nero – ohne Frage ein besonders grausamer Kaiser – wird namentlich nicht erwähnt. Wir finden ihn allerdings andeutungsweise in 2. Timotheus 4,17 als „Löwe“ erwähnt. Einen direkteren Hinweis gibt es in Apostelgeschichte 25,21 und 25, wo er „Augustus“ (wörtlich „der zu Verehrende“) genannt wird8.

Hier eine Liste der Kaiser in der Zeit des Neuen Testamentes:

Regierungszeit Kaiser Biblische Referenz Hinweis
27 v. Chr. – 14 n. Chr. Augustus (Octavian) Lk 2,1  
14–37 n. Chr. Tiberius Lk 3,1  
37–41 n. Chr. Caligula    
41–54 n. Chr. Claudius   Juden werden aus Rom vertrieben
54–68 n. Chr. Nero Apg 25,21.25; 2. Tim 4,17 Beginn der Christenverfolgung
68–69 n. Chr. Galba    
69 n. Chr. Otho    
69 n. Chr. Vitellius    
69–79 n. Chr. Vespasian    
79–81 n. Chr. Titus    
81–96 n. Chr. Domitian   Fortsetzung der Christenverfolgung

3.2. Die römischen Statthalter

Das Römische Reich erstreckte sich um die Jahrtausendwende über den gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus. Es bestand aus einer Vielzahl von kleineren und größeren Satellitenstaaten, mit denen in der Regel gesonderte Vereinbarungen geschlossen worden waren. Die einzelnen Länder wurden von römischen Statthaltern (Landpflegern, Prokuratoren, Prokonsuln) verwaltet. Sie mussten unter anderem dafür Sorge tragen, dass die öffentliche Ordnung und Sicherheit gewährleistet wurde, dass die Steuern rechtzeitig bezahlt wurden (dies geschah durch die „Zöllner“) und dass das römische Recht eingehalten wurde. Der bekannteste Statthalter im Neuen Testament ist Pilatus, den Kaiser Tiberius eingesetzt hatte. Er verfügte über große Macht und war Oberbefehlshaber der in Cäsarea stationierten römischen Besatzungsarmee. Er war es, der die Hohenpriester einsetzte. Pilatus galt als brutal und exzessiv und wurde von den Juden gehasst. Am Ende seiner Amtszeit wurde er nach Rom zurückbeordert, wo er wenig später vermutlich durch Selbstmord starb. Weitere in der Bibel erwähnte Prokuratoren sind Felix und Festus. Beide verhörten Paulus, bevor er nach Rom kam (Apg 23-26).

Hier eine Aufstellung der römischen Statthalter in Palästina:

Amtszeit Statthalter (Prokurator) Biblische Referenz Hinweis
6–9 n. Chr. Coponius    
9–12 n. Chr. Ambibulus    
12–15 n. Chr. Rufus    
15–26 n. Chr. Valerius Gratus    
26–36 n. Chr. Pontius Pilatus vier Evangelien und Apg. verurteilte Jesus zum Tod
36 n. Chr. Marcellus    
37–41 n. Chr. Marullus    
41–44 n. Chr. König Herodes Agrippa I    
44–46 n. Chr. Cuspius Fadus    
46–48 n. Chr. Tiberius Alexander    
48–52 n. Chr. Ventidius Cumanus    
52–59 n. Chr. Antonius Felix Apg 23 und 24 verhörte Paulus
59–62 n. Chr. Porcius Festus Apg 24 und 25 verhörte Paulus
62–64 n. Chr. Lucceius Albinus    
64–66 n. Chr. Gessius Florus    

3.3. Die Könige aus der Dynastie des Herodes

Es war eine Besonderheit, dass die Juden trotz der römischen Besatzung in einem gewissen Umfang eigene politische Aktivitäten entwickeln durften. Im Jahr 63 v. Chr. wurde der jüdische Hohepriester Johannes Hyrkanos II von Rom als Herrscher (Ethnarch) in Palästina eingesetzt. Doch schon während seiner Regierungszeit gewann ein Idumäer (eine Nachkomme Esaus oder Edoms) mit Namen Antipater die Gunst der Römer. Es gelang ihm, seinen Söhnen einflussreiche Machtpositionen in Palästina zu verschaffen. Einer davon war Herodes (der Große). Er wurde schließlich zum König ernannt und regierte von 37 bis 4 v. Chr. Unter König Herodes blühte Israel wirtschaftlich und politisch in gewisser Hinsicht auf, militärische Auseinandersetzungen hielten sich in Grenzen. Unter seiner Regierung begann der umfangreiche Umbau des Tempels zu einem besonderen Prachtbau.

Obwohl er ein Edomiter war, hatte er die jüdische Religion angenommen. Doch schon aufgrund seiner Herkunft konnte er nur ein „falscher“ König der Juden sein. Bei den Juden war er sehr unbeliebt. Er galt als grausam und brutal und misstraute zugleich jedem. Deshalb ließ er einige seiner Kinder und Verwandten ebenso wie seine zweite Ehefrau (von insgesamt zehn) ermorden. Seine möglicherweise letzte Gräueltat war das Massaker der Jungen in Bethlehem (Mt 2,12-18), dem auch der geborene wirkliche König der Juden zum Opfer fallen sollte.

Sein Sohn Archelaus (Mt 2,22) wurde sehr bald von den Römern abgesetzt. Dessen Bruder „Herodes, der Vierfürst“ (Antipas) (Lk 3,19), regierte über den anderen Teil des Reiches seines Vaters. Mit diesem Herodes hatten sowohl Johannes der Täufer als auch Jesus selbst unmittelbar vor seiner Kreuzigung zu tun. Im Jahr 36 n. Chr. wurde er abgesetzt. Ihm folgte sein Sohn, der „Herodes, der König“ (Agrippa I) genannt wird (Apg 12,1). Er starb plötzlich (Apg 12,23) und wurde von seinem Sohn Agrippa II beerbt, dem die Römer erneut den Königstitel gaben (vgl. Apg 25 und 26).

Hier eine Übersicht der Dynastie der Könige aus der Dynastie des Herodes:

Name Regierungszeit Herrschaftsgebiet Beziehung zu Herodes Biblische Referenz
Herodes der Große 37 – 4 v. Chr. Israel   Mt 2,1-17; Lk 1,5
Herodes Antipas 4 v. Chr. – 39 n. Chr. Galiläa und Peräa Sohn Lk 3,1; 13,31; 23,7
Archelaus 4 v. Chr. – 6. n. Chr. Judaä, Samaria, Idumäa Sohn Mt 2,22
Herodes Philippus II 4 v. Chr. – 34 n. Chr. Itrea, Trachonitis Sohn Lk 3,1
Herodes Agrippa I 37 – 44 n. Chr. Israel Enkel Apg 12,1-23
Herodes Agrippa II 48 – 70 n. Chr. Israel Urenkel Apg 25,26

Das Neue Testament erwähnt weitere Verwandte des Herodes, die jedoch nicht König waren. Es sind Herodes Philippus I (Mk 6,17), Herodias (Mk 6,17), Drusilla (Apg 24,24) und Bernice (Apg 25,13.23; 26,30).

3.4. Die Herodianer

Die Herodianer hatten zwar ebenfalls einen gewissen religiösen Einfluss, sind jedoch eher eine politische Partei als eine religiöse Gruppierung. Sie fanden ihre Wurzeln in der Zeit der Regierung von Herodes und seiner Söhne und unterstützten sie. Sie waren der fortschreitenden Hellenisierung Palästinas gegenüber offen und standen damit im Widerspruch zu den Pharisäern und den Schriftgelehrten. Im Neuen Testament werden sie nur dreimal erwähnt (Mt 22,16; Mk 3,6; 12,13). Es ist bezeichnend, dass diese politische Gruppierung und die der Pharisäer und Schriftgelehrten in ihrem Hass gegen Christus einig waren. Schon in Markus 3,6 halten sie gemeinsam Rat gegen Ihn, um Ihn umzubringen.

4. Der religiöse Hintergrund

Wichtiger als der politische Hintergrund ist der religiöse Hintergrund, vor dem sich die Ereignisse in den Evangelien und in der Apostelgeschichte abspielen. Dies sind zum einen die Religionen und Philosophien der römischen Welt und ihr Einfluss (die griechisch-römische Götterwelt, der Kaiserkult, die Mysterienkulte und der Gnostizismus9).

Zum anderen sind die verschiedenen religiösen Strömungen unter den Juden bedeutsam. Unser Herr wurde mit verschiedenen religiösen Gruppen konfrontiert. Hinzu kommt, dass verschiedene Institutionen und Gewohnheiten erwähnt werden, die man als Leser verstehen muss, um den Inhalt richtig zu erfassen. Die Wurzeln dieser jüdischen Gruppen, Institutionen und Gewohnheiten liegen in der Geschichte der Juden – und zwar besonders in der Zeit nach dem babylonischen Exil. Nachfolgend werden einige genannt:

4.1. Die Pharisäer

Der Name leitet sich von einem hebräischen Wort ab, das „abtrennen“ oder „absondern“ bedeutet. Diese Gruppe von Leuten bezeichneten sich deshalb als Abgesonderte. Es war eine relativ kleine, dennoch sehr einflussreiche Vereinigung von Juden, die eine strikte Trennung von der Lebensweise und den Praktiken der Nichtjuden forderten. Man schätzt ihre Zahl zu Beginn des ersten Jahrhunderts n. Chr. auf ca. 6.000. Es ist nicht eindeutig, wie diese Gruppe entstanden ist. Sie geht jedoch sehr wahrscheinlich auf die Zeit nach dem babylonischen Exil zurück. Dort gab es Juden, die für ihre abwehrende Haltung gegenüber dem damals aufkommenden Hellenismus bekannt waren (man nannte sie „Chassidim“ oder „Fromme“). Sie bildeten vermutlich die Grundlage für die Pharisäer, wie sie uns in den Evangelien begegnen.

Obwohl die Pharisäer nur eine relativ kleine Gruppe von Personen waren, hatten sie großen Einfluss unter den Juden. Zudem sahen sie sich als Vertreter des gemeinen Volkes an. Klassenunterschiede machten sie kaum. Deshalb blickten viele Menschen zu ihnen auf und respektierten sie.

Es ist wahrscheinlich so, dass gerade die Pharisäer durch ihr äußerliches Festhalten am Alten Testament die Erwartung auf den Messias hochhielten. Doch als Er wirklich kam, waren die Pharisäer Ihm gegenüber nicht nur kritisch, sondern sogar feindlich eingestellt. Die Ursache liegt auf der Hand, denn der Herr Jesus demaskierte diese Menschen, die zwar einen frommen Schein an den Tag legten, in Wirklichkeit jedoch Heuchler waren. Worte und Taten stimmten nicht überein. Am Ende gehörten sie zu denen, die vehement den Tod Jesu forderten.

4.2. Die Schriftgelehrten

Die Schriftgelehrten waren – im Gegensatz zu den Pharisäern – keine Partei oder Gruppe, sondern eine bestimmte Gesellschaftsschicht. Die meisten unter ihnen waren gebildet und ihre Aufgabe bestand darin, das Gesetz zu lehren und zu erklären. Das taten sie vornehmlich in den Synagogen. Aufgrund ihrer Tätigkeit werden sie manchmal als „Gesetzgelehrte“ bezeichnet. Sie waren darüber hinaus dafür zuständig, Gesetzesbrecher zu verfolgen. Eine Reihe von Schriftgelehrten – wie z. B. Paulus – waren zugleich Pharisäer. Deshalb werden sie häufig (vor allem bei Matthäus und Lukas) zusammen erwähnt. Die Schriftgelehrten fügten dem Gesetz Gottes eigene Vorschriften hinzu und machten so das Wort Gottes ungültig (Mk 7,13). Der Herr brandmarkte das Verhalten dieser Männer wiederholt und deutlich.

4.3. Die Sadduzäer

Die Sekte der Sadduzäer entstand ebenfalls in der Zeit zwischen den beiden Testamenten. Die Herleitung des Namens ist unklar. Sie waren zahlenmäßig zwar noch geringer als die Pharisäer, dennoch sehr einflussreich. Während die Pharisäer fast 100-mal und die Schriftgelehrten ca. 70-mal im Neuen Testament erwähnt werden, kommen die Sadduzäer nur etwa 15-mal vor. Ihre Mitglieder stammten überwiegend aus der Oberschicht. Es waren hochrangige Priester und Männer aus dem Laienstand. Ihr Einfluss war nicht nur religiös, sondern ebenso politisch. Sie waren deutlich strenger als die Pharisäer, wenn es darum ging, Verbrechen zu bestrafen. Sie waren – um ihre gesellschaftliche Position zu wahren – eher zur Zusammenarbeit mit den Römern bereit als die Pharisäer und Schriftgelehrten. Mit ihnen standen sie ohnehin häufig auf Konfrontation, denn sie lehnten deren mündliche Hinzufügungen zum Gesetz ab, leugneten die Auferstehung der Toten und glaubten weder an Engel noch an den kommenden Messias. Sie beschränkten sich darauf, die fünf Bücher Mose als von Gott gegeben anzuerkennen. In ihrer Feindschaft gegen Christus waren sie sich hingegen mit den Pharisäern und Schriftgelehrten einig.

4.4. Das Synedrium

Das Synedrium war der hohe Rat, der wichtige religiöse und juristische Entscheidungen traf. Es war so etwas wie der oberste jüdische Gerichtshof. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Zusammensitz“. Es wurde ebenfalls auf ein Gericht oder ein Direktorium angewandt. Das Synedrium bestand aus 71 Mitgliedern und tagte unter dem Vorsitz des jeweiligen Hohenpriesters. Es bestand neben den Hohenpriestern aus Ältesten, Obersten, Schriftgelehrten, Pharisäern und Sadduzäern. Der Rat kam auf dem Tempelgelände in Jerusalem zusammen. Entstanden ist dieses Gremium um ca. 135 v. Chr. in der Zeit der bedingten Unabhängigkeit der Juden unter den Makkabäern. Das Synedrium hatte einen relativ großen Einfluss in religiösen und zivilrechtlichen Fragen – der allerdings aufgrund der römischen Oberherrschaft doch eingeschränkt war. So konnte das Synedrium zur Zeit Jesu keine Todesurteile fällen. Dennoch gestanden die Römer dem Synedrium gerade bei internen Angelegenheiten relativ große Freiheiten zu. In der Apostelgeschichte wird das Synedrium auch „Rat“, „hoher Rat“ oder „Ältestenschaft“ genannt.

Das Synedrium war – schon aufgrund seiner Besetzung – gegen Christus eingestellt. Seine Mitglieder versuchten mehrfach, Ihn zu verhaften (Joh 7,32) und zu töten (Lk 22,2). Bei seiner Festnahme und Verurteilung spielte der hohe Rat eine wichtige Rolle (Mk 14,43), obwohl die Beteiligten dabei gegen ihre eigenen Gesetze und Regeln verstießen (Mt 26,59; 27,41).

4.5. Der Tempel

Der Tempel war – zusammen mit dem Synedrium – eine wesentliche Institution, die die jüdische Religion zur Zeit des Neuen Testamentes prägte. Der Tempel war das Haus Gottes, das nach Gottes Gedanken in Jerusalem stand. Den ersten Tempel hatte Salomo gebaut. Die Herrlichkeit Gottes hatte diesen Tempel erfüllt, ihn jedoch später aufgrund der Untreue der Juden verlassen. Nebukadnezar hatte diesen Tempel zerstört. Unter Serubbabel und Joschua wurde er nach der babylonischen Gefangenschaft neu aufgebaut. Es war dann Herodes der Große, der damit begann, diesen Tempel um- und auszubauen. Er begann damit im Jahr 19 v. Chr. Vollendet wurde der Bau erst 64 n. Chr., d. h. wenige Jahre bevor er 70 n. Chr. erneut zerstört wurde. Zur Zeit Jesu befand sich der Tempel also noch im Bau (vgl. Joh 2,20), war jedoch bereits ein prachtvolles Gebäude (Mt 24,1.2; Mk 13,1.2). Der Herr Jesus erkannte den Tempel einerseits als das „Haus seines Vaters“ an (Joh 2,16), allerdings musste Er zugleich feststellen, dass die Juden dieses Haus zu einer „Räuberhöhle“ gemacht hatten (Mt 21,13; Mk 11,17; Lk 19,46).

Das Tempelgelände hatte drei Vorhöfe. Der äußere war der „Vorhof der Heiden“, den auch Menschen betreten durften, die keine Juden waren. Dann gab es den „Vorhof der Frauen“ und den „Vorhof Israels“. Nichtjuden war es bei Todesstrafe verboten, diese beiden zuletzt genannten Vorhöfe zu betreten. Eine von den Römern genehmigte „Tempelwache“ (eine Art Polizei) wachte darüber, wer Zutritt haben durfte (vgl. z. B. Apg 21,28). Den inneren Hof durften nur Männer betreten und den eigentlichen Tempel nur die Priester. Innerhalb des Tempels gab es die bekannte Aufteilung in das „Heiligtum“ und das „Allerheiligste“. Gold und Marmor waren wesentliche Bestandteile des Gebäudes. Die Vorderseite war komplett vergoldet.

Im Tempel fand der Opferdienst statt. Vor allem an den Festtagen wurden dort große Mengen an Opfern geschlachtet. Das Blut wurde in das Kidrontal und den Fluss abgeleitet. Um das eigentliche Tempelgebäude herum gab es Hallen, in denen die Schriftgelehrten ihre Anhänger belehrten. Dort wird der Herr als Junge gewesen sein, als Er die Lehrer befragte und ihnen zuhörte (Lk 2,46). Dort wird Er später selbst das Volk belehrt haben (Joh 7,28; 8,20).

4.6. Die Hohenpriester

Im Tempel selbst übten die Hohenpriester den Dienst aus. Täglich wurden die Morgen- und Abendopfer dargebracht, obwohl Gott an diesen Opfern kein Gefallen haben konnte.10 Anders als von Gott nach der Ordnung Aarons vorgesehen, wurden sie jedoch von den politischen Machthabern eingesetzt. Annas war von Pilatus abgesetzt und durch Kajaphas ersetzt worden. Die Juden erkannten jedoch beide an (Lk 3,2). Beide beteiligten sich an dem Verhör des Herrn vor dem jüdischen Rat.

Hier eine Übersicht der Hohenpriester in der Zeit der Evangelien und kurz danach, von denen das Neue Testament nur zwei nennt:

Amtszeit Hoherpriester Biblische Referenz
6–15 n. Chr. (H)Annas Joh 18,13.24; Apg 4,6
15–16 n. Chr. Ismael  
16–17 n. Chr. Eleasar  
17–18 n. Chr. Simon  
18–36 n. Chr. Kajaphas (Joseph Qajfa) diverse bei Mt, Lk, Joh, Apg
36 n. Chr. Jonathan  
37–41 n. Chr. Theophilos  
ab 41 n. Chr. Simon Kantheras  
? Matthias  
bis 44 Elionaios  
? Joseph  
47–59 n. Chr. Ananias  

4.7. Die Synagoge

Eine Synagoge ist eigentlich eine „Ansammlung von Menschen“ oder eine „Gemeinde“. Sie war zur Zeit des Neuen Testamentes ein Ort, wo Menschen zusammenkamen, um das Gesetz zu hören. Die Anfänge der Synagogen im Land Israel lassen sich möglicherweise auf die Zeit des babylonischen Exils zurückführen (Hes 8,1; 20,1-3). Nach der Rückkehr in ihr Land entstanden an vielen Orten Versammlungsorte, in denen die Menschen zum Gebet und Studium des Gesetzes zusammenkamen. Der hebräische Text wurde in Aramäisch übersetzt, damit er verstanden wurde.

In der Zeit des Neuen Testamentes gab es solche Synagogen überall im Land und auch im Ausland. Es wird gesagt, dass zehn fromme Juden erforderlich waren, um eine Synagoge zu gründen. Jeder Jude konnte daran aktiv teilnehmen und etwas vorlesen und dazu sagen. Der jeweilige Vorsteher der Synagoge war dafür verantwortlich, dass alles der vorgegebenen Ordnung entsprach. Obwohl im Ablauf der Zusammenkünfte einerseits eine gewisse Freiheit gegeben war, gab es andererseits einen ausgeprägten Formalismus.11 Männer und Frauen saßen getrennt und nur Männer durften reden. In den Synagogen wurden ebenfalls die Jungen im Wort Gottes unterwiesen. Für viele Juden in der Zeit Jesu – vor allem außerhalb von Jerusalem – war die Synagoge Dreh- und Angelpunkt des religiösen Lebens. Die Ältesten, die einer Synagoge gemeinsam mit dem Vorsteher vorstanden, hatten weitreichende Kompetenzen, ihre Mitglieder zu strafen oder sogar auszuschließen (Joh 9,22; 12,42), was einer Ächtung gleichkam.

5. Der Begriff Evangelium

Die vier Berichte über das Leben und Sterben des Herrn sind mit dem Wort „Evangelium“ überschrieben. Diese Überschriften sind nicht vom Geist Gottes inspiriert, sondern später von Menschen hinzugefügt worden. Die vier Evangelien tragen diese Überschrift jedoch mit vollem Recht. In der Apostelgeschichte lesen wir wiederholt, dass das Evangelium verkündigt wurde.

Das Wort „Evangelium“ kommt im Neuen Testament über 70-mal vor, zum ersten Mal in Matthäus 4,23, wo von dem Herrn gesagt wird, dass Er das Evangelium des Reiches predigte. Hinzu kommen die Verse, die von einer „guten Botschaft“ sprechen, die verkündigt wird (z. B. Mt 11,5; Lk 1,19; 3,18; 4,18; 7,22).

Mit „Evangelium“ wurde ursprünglich der Lohn für das Überbringen einer guten Botschaft bzw. die Botschaft selbst beschrieben. Dabei handelte es sich häufig um Siegesbotschaften nach einem militärischen Sieg oder auch um politische oder private Freudenbotschaften. Religiöse Bedeutung bekam das Wort im Kaiserkult der Römer. So wurden z. B. der Regierungsantritt und Geburtstag des Kaisers oder andere große Taten als „Evangelium“ vom „göttlichen Weltherrscher“ proklamiert. Es geht also jedenfalls um eine gute oder freudige Nachricht.

Das Neue Testament verbindet mit dem „Evangelium“ vor allem die Heilsbotschaft über den Retter, das ist Gott. Es ist in der Tat vor allem eine „gute Botschaft“, dass alle Menschen – obwohl sie Sünder sind – von einem heiligen und gerechten Gott auf der Grundlage des Werkes seines Sohnes am Kreuz angenommen werden können. In Matthäus 11,5 lesen wir, dass Armen „gute Botschaft“ verkündigt wird. In diesem Sinn gebraucht vor allem Paulus das Wort „Evangelium“ (vgl. z. B. Röm 1,1; 1,9; 1. Kor 15,1; 2. Kor 4,4; Gal 1,7; Eph 1,13 u.a.). In den Briefen der übrigen Schreiber kommt das Wort nur einmal vor, nämlich in 1. Petrus 4,6.

Das Evangelium ist somit die gute Botschaft Gottes über seinen Sohn. Markus 1,1 verbindet diesen Ausdruck ausdrücklich mit dem Bericht über die Person des Herrn Jesus. Markus schreibt: „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes“. Es fällt allerdings auf, dass das Wort in der Bibel stets in der Einzahl gebraucht wird. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn es gibt nur das eine Evangelium von Jesus Christus, dem Sohn Gottes. Es umfasst seine Person und sein Werk. Diese Botschaft verkündigten die Apostel. Dennoch sprechen wir heute häufig von den „vier Evangelien“ (Mehrzahl). Schon die frühen Kirchenväter haben dieses Vokabular so benutzt – und das nicht zu Unrecht. Die ersten vier Bücher des Neuen Testamentes enthalten tatsächlich Gottes gute Botschaft an uns Menschen. Gott kommt in Jesus Christus zu uns Menschen, um uns zu retten. Die Verkündiger dieser Botschaft werden folglich zu Recht „Evangelisten“ genannt, selbst wenn die Bibel das nicht ausdrücklich tut.12

Der biblische Begriff „Evangelium“ hat seine Wurzeln allerdings bereits im Alten Testament. Dort steht in Jesaja 61,1.2 der Ausdruck „frohe Botschaft“. Er entspricht in etwa dem neutestamentlichen Wort „Evangelium“. Der Herr Jesus bezieht sich in Lukas 4,17.18 ausdrücklich auf diese Stelle und zeigt, dass sie in seiner Person erfüllt worden ist. Die Evangelien dokumentieren somit die Erfüllung alttestamentlicher Voraussagen auf und durch Jesus Christus. Was die Propheten im Alten Bund geweissagt haben, hat sich zu einem Teil bereits erfüllt. Das Evangelium von Jesus Christus ist die gute Botschaft Gottes für alle Menschen! Was noch nicht erfüllt ist, wird sich ebenso sicher in der Zukunft noch erfüllen.

6. Der Inhalt der Evangelien und der Apostelgeschichte

Ohne zunächst auf die Unterschiede der vier Evangelien einzugehen, können wir acht Perioden im Leben unseres Herrn unterscheiden, die behandelt werden (obwohl aus gutem Grund nicht von allen Schreibern gleichzeitig):

Die Zeit vor seiner Geburt: Matthäus und Lukas schreiben davon, wie seine Geburt angekündigt wurde und unter welchen Umständen das geschah. Markus und Johannes erwähnen diese Zeit überhaupt nicht. Johannes geht allerdings auf die Ewigkeit vor der Zeit zurück, wenn er davon spricht, dass im Anfang das Wort war.

  1. Seine Geburt und seine Kindheit: Auch darüber berichten lediglich Matthäus und Lukas, während Markus und Johannes darüber schweigen. Jesus wird in Bethlehem geboren, seine Eltern fliehen mit Ihm nach Ägypten. Nach ihrer Rückkehr wächst Jesus in Nazareth (in Galiläa) auf.
  2. Vorbereitung zum Dienst: Darüber schreiben die drei Synoptiker (Matthäus, Markus und Lukas). Johannes erwähnt zwar den Vorläufer des Herrn (Johannes den Täufer) auch, jedoch anders, als die ersten drei Evangelisten es tun. Zur Vorbereitung gehören die Taufe Jesu und seine Salbung mit dem Heiligen Geist und seine Versuchung durch den Teufel in der Wüste.
  3. Beginn des Dienstes: Darüber schreiben alle vier Evangelisten, allerdings unterscheidet sich die Berichterstattung von Johannes erneut deutlich von den drei anderen. Der Herr Jesus wählt seine Jünger aus und beginnt seinen Dienst in Galiläa mit einem ersten kurzen Aufenthalt in Judäa. Sein erster Aufenthalt in Samaria fällt ebenfalls in diese Zeit.
  4. Dienst in Galiläa und die zunehmende Feindschaft der Juden: Dies ist erneut ein Schwerpunktthema der ersten drei Evangelien. Sie berichten ausführlich von dem, was Er getan und gelehrt hat. Viele Wunder und Heilungen begleiten seine Lehre. Doch mehr und mehr wird deutlich, dass die Menschen Ihn nicht akzeptierten und ablehnten. Bei Johannes ist der Herr Jesus von Anfang an derjenige, der nicht angenommen wird – und zwar weder von seinem irdischen Volk noch von dieser Welt (Joh 1,10.11).
  5. Erfüllung des Dienstes in Judäa: Johannes spricht von Anfang an sehr viel über den Dienst des Herrn in Judäa. Über das, was Er in Galiläa getan hat, berichtet er nur wenig. Bei den drei Synoptikern ist das gerade umgekehrt. Sein Aufenthalt in Judäa ist weniger von Zeichen und Wundern als vielmehr durch seine Lehre geprägt.
  6. Sein Leiden und Sterben in Jerusalem: Davon sprechen alle vier Evangelien ausführlich, jedoch mit unterschiedlichem Schwerpunkt. Ein Vergleich der Passionsgeschichte ist sehr aufschlussreich.
  7. Sein Sieg, seine Auferstehung und seine Himmelfahrt: Alle vier Evangelisten sprechen über den Sieg und die Auferstehung. Erneut enthält ein Vergleich interessante Details. Allerdings erwähnen nur Markus und Lukas die Himmelfahrt des Herrn Jesus, während Matthäus und Johannes darüber schweigen.

Die Apostelgeschichte bezeugt das, was in den Evangelien berichtet wird. Es geht um das authentische Zeugnis derer, die Jesus Christus entweder auf der Erde erlebt hatten (die 12 Jünger) oder Ihm als dem Auferstandenen begegnet waren (Paulus).

Je nachdem, welches Evangelium wir lesen, liegt der Schwerpunkt der Berichterstattung etwas anders. Warum das so ist, werden wir in der Einführung zu dem jeweiligen Evangelium im Detail besehen. Hier im Folgenden nur ein Überblick.

7. Vier Evangelien und ihre Schreiber

Die Bibel enthält bewusst nicht nur eine einzige Beschreibung des Lebens und Sterbens unseres Heilandes, sondern Gott beauftragt vier Männer, unter der Leitung des Heiligen Geistes über seinen Sohn zu schreiben. Er tut das nicht ohne Grund und jedes menschliche Bemühen, aus den vier verschiedenen Evangelien ein Einheitsevangelium zu schaffen, ist zum Scheitern verurteilt. Gott hat uns mit Absicht vier Evangelien gegeben.

W. Kelly schreibt: „Es hat Gott gefallen, in den verschiedenen Berichten, die Er uns von unserem Herrn Jesus gegeben hat, nicht nur Seine eigene Gnade und Weisheit, sondern auch die unendliche Vortrefflichkeit Seines Sohnes darzustellen. Wir sind weise, wenn wir danach trachten, aus all dem Licht, welches Er uns gegeben hat, Nutzen zu ziehen. In dieser Absicht sollen wir vorbehaltlos, wie es der aufrichtige Christ sicher tut, das annehmen, was Gott zu unserer Belehrung in diesen verschiedenen Evangelien geschrieben hat. Wir sollen sie vergleichen, und zwar unter den verschiedenen Gesichtspunkten, die Gott in jedem Evangelium mitgeteilt hat. Dann sehen wir konzentriert die wechselnden Linien der ewigen Wahrheit, die sich in Christus treffen“.13

Auf die Frage, warum Gott vier Schreiber beauftragt, über seinen Sohn zu schreiben, können wir verschiedene Antworten geben. Eine Antwort lautet, dass die Person, die beschrieben wird, so groß ist, dass eine einzige Beschreibung (und selbst zwei oder drei) nicht ausreichen würden, sie angemessen zu würdigen. Deshalb beauftragt Gott vier Männer damit (Joh 21,25). Vier ist die Zahl der Universalität (vier Himmelsrichtungen, vier Winde, vier Ecken der Erde, vier Jahreszeiten, vier Weltreiche, vier Ackerböden usw.). Die vier verschiedenen Blickwinkel geben uns ein angemessenes und notwendiges Verständnis dieser für uns Menschen nicht zu erfassenden Person, obwohl wir niemals wirklich in der Lage sein werden, das Geheimnis seiner Person – Gott und Mensch zugleich – ergründen zu können. Zudem richtet sich das Heil, das in dem Sohn Gottes offenbart wird, ohne Unterschied an jeden Menschen, sei er Jude, Römer, Grieche oder unzivilisierter Heide. Und gerade aus den unterschiedlichen Lesern ergibt sich eine weitere Notwendigkeit für vier Evangelien. Einem Juden musste das Evangelium anders erklärt werden als einem Römer, einem Griechen oder einem Heiden. Die missionarische Zielsetzung der Evangelien erfordert unterschiedliche Verfasser.

Eine weitere Antwort ist, dass Gott Wert darauf legt, das Wirken seines Sohnes eindrucksvoll und nachhaltig zu bezeugen. Im Alten Testament galt der Grundsatz, dass jede Sache von mindestens zwei (besser drei) Zeugen bestätigt werden sollte (vgl. 5. Mo 17,6; 19,7). Dieses Prinzip wird im Neuen Testament ausdrücklich bestätigt (Mt 18,16; 2. Kor 13,1). Nun geht Gott in den Evangelien sogar darüber hinaus und gibt uns vier Zeugen. In einem gewissen Sinn beschreiben die Evangelien den Höhepunkt der göttlichen Heilsgeschichte und da reichen zwei oder drei Zeugen nicht aus. Es sind zweimal zwei Zeugen.

Die vier ausgewählten Schreiber der fünf Bücher sind Matthäus (Levi), Markus (Johannes), Lukas (der geliebte Arzt, Schreiber des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte) und Johannes (der Jünger, den Jesus liebte). Zwei (Matthäus und Johannes) waren Jünger des Herrn Jesus und damit direkte Augen- und Ohrenzeugen dessen, wovon sie berichten. Sie wurden später zu den Aposteln gezählt. Zwei (Markus und Lukas) waren darauf angewiesen, dass andere ihnen von dem Leben Jesus erzählten.14 Lukas erwähnt das ausdrücklich (vgl. Lk 1,1-4).15 Im Fall von Markus ist davon auszugehen, dass er viele Informationen von Petrus empfangen hat, mit dem er eng verbunden war (vgl. 1. Pet 5,13). Wir können Lukas und Markus zu den neutestamentlichen Propheten zählen.

Drei Evangelisten (Matthäus, Markus und Johannes) sind gebürtige Juden. Lukas hingegen war von Geburt griechischer Staatsbürger. Er ist der einzige Schreiber im Neuen Testament, der kein Jude war. Wir erkennen darin die besondere Weisheit Gottes, der das Evangelium der universalen Gnade Gottes, die jeden Menschen anspricht, einem Mann anvertraut, der aus den Heiden stammt. Und gerade er ist es, dem der Auftrag gegeben wurde, die Apostelgeschichte zu schreiben.

8. Unterschiedliche Schwerpunkte in den vier Evangelien

Beim Lesen der vier Evangelien wird unmittelbar klar, dass sie einerseits eine literarische Einheit bilden und ein gemeinsames Thema haben. Andererseits wird ebenso unmittelbar klar, dass jeder Schreiber einen unterschiedlichen Schwerpunkt hat. Die Apostelgeschichte hat ihren eigenen Charakter, schließt jedoch unmittelbar an die Berichterstattung in den Evangelien an (vgl. Apg 1,1). Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Schwerpunkte in den Evangelien.

8.1. Das Leben des Herrn Jesus

Im Blick auf das Leben des Herrn Jesus werden folgende Merkmale sichtbar:

  • Matthäus schreibt über den Messias (den Christus) und König. Das Wort „Königreich“ kommt in keinem Bibelbuch häufiger vor als bei Matthäus. Er war der im Alten Testament angekündigte König, der einmal in Gerechtigkeit und Frieden über diese Erde herrschen würde (z.B. Jes 32,1). Matthäus verweist häufig auf erfüllte Aussagen des Alten Testamentes und zitiert das Alte Testament. Als Christus kam, war dieses Reich nahegekommen. Allerdings wurde der König abgelehnt und so hat dieses Reich für einen langen Zeitraum einen ganz anderen Charakter angenommen. Schon im Alten Testament war angedeutet, dass die Regierung des Messias nicht auf das Land Israel und die Juden beschränkt bleiben würde.

Als Überschrift kann man die Aussage aus dem Propheten Jeremia setzen:

„Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da ich David einen gerechten Spross erwecken werde; und er wird als König regieren und verständig handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Land“ (Jer 33,15).

  • Markus schreibt über den Diener und Propheten. Er war gekommen, nicht um bedient zu werden, sondern um zu dienen (Mk 10,45). Das kleine Wort „sogleich“ kommt in keinem Evangelium häufiger vor als bei Markus. Im Vergleich zu den anderen Evangelien finden wir bei Markus zwar die Tatsache, dass Christus geredet hat, allerdings nicht so ausgeprägt, was Er gesagt hat – der Schwerpunkt liegt eindeutig im ständigen Dienst. Auch das ist eine Erfüllung alttestamentlicher Weissagung. Das Alte Testament spricht sowohl über den „Knecht des Herrn“ (z.B. Jes 49,6; 52,13) als auch über den Propheten, den Gott sich erwecken würde (5. Mo 18,15.18).

Als Überschrift kann man die Aussage aus dem Propheten Sacharja setzen:

„Höre doch, Josua, du Hoherpriester, du und deine Gefährten, die vor dir sitzen – denn Männer des Wunders sind sie; denn siehe, ich will meinen Knecht, Spross genannt, kommen lassen“ (Sach 3,8).

  • Lukas schreibt über den wahren Menschen, den einen Mittler zwischen Gott und Menschen. Sein Evangelium ist das Evangelium der Gnade Gottes, die den Rahmen des Judentums sprengt. Die Gnade Gottes erscheint, und zwar heilbringend für alle Menschen (Tit 2,11). Der Sohn des Menschen kommt, um allen Menschen das Heil anzubieten (Lk 19,10). Dass der Messias zugleich „Sohn des Menschen“ ist, war im Alten Testament ebenfalls nicht unbekannt (vgl. Ps 8,5; Dan 7,13). Nur Lukas schreibt etwas von der Kindheit des Herrn Jesus. Nur Lukas sagt, dass Er an Weisheit und an Größe zunahm (Lk 2,52). In diesem Evangelium finden wir den Herrn Jesus zudem wiederholt im Gebet.

Als Überschrift kann man die Aussage aus dem Propheten Sacharja setzen:

„So spricht der HERR der Heerscharen und sagt: Siehe, ein Mann, sein Name ist Spross; und er wird von seiner Stelle aufsprossen und den Tempel des HERRN bauen“ (Sach 6,12).

  • Johannes schreibt über den ewigen Sohn Gottes, der Mensch wurde, um den Vater zu offenbaren. Sein Evangelium unterscheidet sich deutlich von den anderen. Über 90% seines Inhalts findet sich in den ersten drei Evangelien nicht. Sein Thema ist das ewige Leben, das uns die Fähigkeit vermittelt, Gemeinschaft mit göttlichen Personen zu haben (Joh 17,3). Die Tatsache, dass Gott selbst zu seinem Volk kommen würde, wird im Alten Testament zumindest angedeutet (z.B. Jes 35,4). Auch die Tatsache, dass Gott einen Sohn hat, ist im Alten Testament wenigstens andeutungsweise enthalten (Spr 30,4).

Als Überschrift kann man die Aussage aus dem Propheten Jesaja setzen:

„An jenem Tag wird der Spross des HERRN (des Ewigen) zur Zierde und zur Herrlichkeit sein und die Frucht der Erde zum Stolz und zum Schmuck für die Entronnenen Israels“ (Jes 4,2).

8.2. Das Opfer des Herrn

Das Leiden und Sterben des Herrn Jesus reflektiert die vier blutigen Opfer, die zu Beginn des 3. Buches Mose genannt werden, nämlich

  • das Brandopfer
  • das Dank- und Friedensopfer
  • das Sündopfer
  • das Schuldopfer

Die Reihenfolge in den Evangelien ist allerdings umgekehrt. In 3. Mose sehen wir die Opfer aus der Sichtweise Gottes (deshalb steht das Brandopfer an erster Stelle). In den Evangelien sehen wir die Sichtweise des Menschen (deshalb beginnt es mit dem Schuldopfer).

  • Matthäus beschreibt das Schuldopfer, d.h. die Tatsache, dass Christus unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat (1. Pet 2,24). Es geht um die bösen Taten, die aus einer verdorbenen Quelle hervorkommen. Im Matthäusevangelium wird gesagt, dass der Herr sein Blut „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28) vergießen würde. Gerade Matthäus spricht über die Schuld, die die Juden auf sich geladen hatten. In diesem Evangelium wäscht sich Pilatus die Hände und sagt: „Ich bin schuldlos an dem Blut dieses Gerechten, seht ihr zu“, (27,24), worauf die Juden antworten: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ Wie Markus berichtet Matthäus über die Stunden der Finsternis und über den Notschrei des Herrn: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Es waren die Sünden der Menschen, die das notwendig machten.
  • Markus beschreibt das Sündopfer, d.h. die Tatsache, dass Christus für uns zur Sünde gemacht worden ist (2. Kor 5,21). Markus erwähnt – wie Matthäus – die drei Stunden der Finsternis und den Notschrei des Herrn. Im Vergleich zur Länge des gesamten Evangeliums nimmt die Leidensgeschichte – relativ gesehen – einen großen Raum ein. Und es ist gerade Markus, der in seinem Buch die Verdorbenheit des Menschen – die Wurzel, aus der die bösen Früchte hervorkommen – besonders beschreibt. Der besondere Charakter der Schuld, die Vergebung erfordert, wird bei Matthäus betont, während Markus besonders die Verdorbenheit des Menschen zeigt. Es geht nicht nur um die schlechten Früchte (die Sünden), sondern darum, dass der ganze Baum verdorben ist (die Sünde als böses Prinzip in uns Menschen).
  • Lukas beschreibt das Dank- und Friedensopfer, d.h. die Tatsache, dass Christus Frieden gemacht hat durch das Blut seines Kreuzes (Kol 1,20) und wir auf diese Weise Gemeinschaft mit Gott haben können. Lukas zeigt besonders die Seite der Gemeinschaft. Wir finden eine Reihe von Szenen, in denen der Herr Tischgemeinschaft mit Menschen pflegt. Lukas erwähnt, dass Gott „zu Besuch“ gekommen ist (Lk 1,78; 7,16). Nur Lukas erwähnt die Worte des Herrn, die Er an den Räuber am Kreuz richtet: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Und gerade bei Lukas finden wir eine besonders ausführliche Beschreibung des Gedächtnismahles unseres Herrn, das Er seinen Jüngern gab. Das Friedensopfer war zugleich ein Freudenopfer. Deshalb wundert es uns nicht, dass die beiden Worte „Frieden“ und „Freude“ im Lukasevangelium häufiger vorkommen als in den anderen Evangelien. Gleich am Anfang ist von „großer Freude“ die Rede (Lk 2,10) und am Ende noch einmal (Lk 24,52). Weitere Stichworte in diesem Evangelium sind „Lob“ und „Preis“ – und auch das ist mit dem Dank- und Friedensopfer verbunden.
  • Johannes beschreibt das Brandopfer, d.h. die Tatsache, dass Christus sich ohne Flecken völlig Gott geopfert hat (Heb 9,14). Das Brandopfer gehörte ganz Gott. So hat der ewige Sohn sich zur Ehre und Herrlichkeit Gottes geopfert. Es fällt auf, dass die Begriffe „Herrlichkeit“ und „verherrlichen“ im Johannesevangelium öfter vorkommen als in allen drei anderen Evangelien zusammen (über 40-mal). Es fällt weiter auf, dass die Stunden der Finsternis von Johannes nicht erwähnt werden. Die Frage der Sünden und der Sünde steht nicht im Vordergrund.

Wenn wir abschließend noch an das Speisopfer denken (ein unblutiges Opfer), so finden wir darin das Leben des Herrn Jesus in seiner Reinheit vorgestellt. Das Speisopfer wurde stets zusammen mit einem anderen Opfer gebracht. Es erinnert an das reine und vollkommene Leben des Herrn Jesus, so wie es uns in allen vier Evangelien gezeigt wird.

Die Predigt von Jesus Christus in der Auferstehung basiert auf seinem Werk am Kreuz. Ohne das Opfer des Herrn Jesus gibt es keine gute Botschaft für verlorene Menschen. Deshalb schließt die Apostelgeschichte unmittelbar an die Evangelien an.

8.3. Hinweise im Alten Testament

Man findet speziell die Unterschiede zwischen den vier Evangelien im Alten Testament illustriert. Hier einige Beispiele:

  • Die vier Cherubim in der ersten Vision Hesekiels (Hes 1,10; vgl. Off 4,7): Das Angesicht eines Menschen weist auf den vollkommenen Menschen bei Lukas hin. Das Angesicht des Löwen weist auf den König in Matthäus hin. Das Angesicht des Stieres (des dreschenden Ochsen) zeigt den Diener bei Markus und das Angesicht des Adlers, der sich in die Lüfte erhebt, zeigt den Herrn, wie er von Johannes beschrieben wird. Er kommt vom Himmel auf die Erde und kehrt nach vollbrachtem Werk dorthin zurück.
  • Die vier Farben des Zeltes der Zusammenkunft (2. Mo 25,4): Blau ist die Farbe des Himmels und zeigt den Sohn Gottes, der vom Himmel auf die Erde kommt (Johannes). Rot ist die Farbe der Könige der Nationen. Sie zeigt den Herrn als den „Sohn des Menschen“, der einmal über alle Völker regieren wird (Lukas). Karmesin ist die Farbe der Könige Israels (Matthäus). Weiß spricht von der Reinheit und Gerechtigkeit und erinnert daran, dass Christus der treue und gerechte Knecht ist (Markus).
  • Die vier Bezeichnungen der Bundeslade in Josua 3 und 4: Die Bundeslade (aus Holz mit Gold überzogen) spricht von dem Menschen Christus Jesus, der zugleich Gott ist. Sie wird erstens die „Lade des Bundes“ genannt (Jos 3,6). Das verbindet sich mit dem Matthäusevangelium, denn der Bund hat besonders mit Israel zu tun. In Josua 3,11 ist es die „Lade des Bundes des Herrn der ganzen Erde“. Das weitet den Blickwinkel und verbindet sich mit dem Lukasevangelium, wo die ganze Menschheit im Blick ist. Die „Lade des Herrn“ (Jos 4,11) ist die Lade des „Ewigen“ und das lässt uns an Johannes denken. In Josua 4,16 ist es die „Lade des Zeugnisses“, in der die Tafeln mit den 10 Geboten aufbewahrt wurde. Diese Gebote zeigen, welche Taten Gott von den Menschen erwartet (bzw. was Er nicht erwartet). Niemand anders als der Herr Jesus hat das ausgelebt. Markus ist es, der den Aspekt der Taten besonders fokussiert.

8.4. Weitere Unterschiede

Weitere Unterschiede in den Evangelien zeigen, dass sich häufig eine Einteilung in „zwei und zwei“ ergibt:

  • Zwei Evangelisten schreiben – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in einer zeitlichen Chronologie, nämlich Markus und Johannes. Matthäus und Lukas hingegen ordnen ihre Beschreibung vorwiegend inhaltlichen (thematischen) Gesichtspunkten unter. Sie weichen damit ausdrücklich von der eigentlichen zeitlichen Chronologie ab. Lukas erwähnt in seiner Einleitung, dass er „der Reihe nach“ schreiben wollte (Lk 1,3). Dies ist keine zeitliche, sondern eine inhaltliche (thematische) Reihenfolge.
  • Zwei Evangelisten beschreiben insbesondere die amtliche Herrlichkeit des Herrn Jesus. Es sind Matthäus (er spricht über den König) und Markus (er spricht über den Diener). König und Knecht zu sein, bedeutet eine gewisse Funktion ausüben. Lukas und Johannes hingegen zeigen mehr die persönliche Herrlichkeit des Herrn Jesus. Lukas beschreibt Ihn als den wahren Menschen und Johannes als den Sohn Gottes. Das hat insbesondere mit dem zu tun, was Er in seinem Wesen und seiner Person ist.16
  • Zwei Evangelisten sprechen besonders über die Erhabenheit des Herrn Jesus, der sich so sehr erniedrigt hat. Es sind Matthäus und Johannes. Als König hat Er einen Herrschaftsanspruch und als Sohn Gottes ist Er von Ewigkeit her über alles erhaben. Markus und Lukas hingegen zeigen uns besonders die tiefe Erniedrigung des Herrn Jesus, der Knecht und Mensch wurde. Sie vergessen dabei allerdings nicht, wer Er dem Wesen nach ist, nämlich „Gott gepriesen in Ewigkeit“.

Auffallend ist jedoch, dass es ebenso eine Einteilung in „drei plus eins“ gibt.17 Die ersten drei Evangelien werden häufig die „synoptischen Evangelien“ genannt. „Synopsis“ bedeutet so viel wie „Zusammenschau“. Die Berichte der drei Synoptiker weisen inhaltlich deutliche Parallelen auf, die man gut nebeneinanderstellen und vergleichen kann. Johannes hingegen schreibt völlig anders. Die Parallelen zwischen Johannes einerseits und den drei übrigen andererseits sind nicht sehr groß. Ca 90% dessen, was Johannes schreibt, findet sich in den anderen Evangelien nicht.

Johannes erwähnt z. B. nur ein einziges Wunder, das die übrigen Evangelisten ebenfalls erwähnen. Alle übrigen Zeichen, von denen Johannes spricht, werden wiederum in den ersten drei Evangelien nicht erwähnt. Der Inhalt der Kapitel 13 bis 17 des Johannesevangeliums fehlt in den ersten dreien vollständig, während Johannes keine der großen Ansprachen des Herrn Jesus erwähnt, von denen in den ersten dreien die Rede ist (z.B. die Bergpredigt oder die Endzeitrede). Hier wird besonders deutlich, dass Gott nicht nur drei Zeugen auswählt, sondern einen vierten, der völlig anders schreibt.

Bei Johannes ist die Ablehnung des Herrn Jesus durch sein Volk von Anfang an eine feststehende Tatsache, während sie sich in den drei übrigen Evangelien erst sukzessive zeigt.

Die ersten drei Evangelien wurden vor der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n. Chr. geschrieben. Johannes hingegen schreibt sein Evangelium erst ca. 20 Jahre danach. Während in den ersten drei Evangelien die Zerstörung des Tempels noch angekündigt wird, ist sie bei Johannes längst eine bekannte Tatsache. Der jüdische Gottesdienst war damit bereits zu einem Ende gekommen.

Johannes beschreibt überwiegend den Dienst des Herrn Jesus in Judäa, während sich die Synoptiker mehr mit seinem Dienst in Galiläa beschäftigen.

8.5. Die Adressaten

Mit Ausnahme des Lukasevangeliums werden die ursprünglichen Adressaten nicht ausdrücklich genannt. Dennoch ist es der Mühe wert, auf diese Frage kurz einzugehen, denn es hilft häufig, ein Bibelbuch besser zu verstehen, wenn man die ursprüngliche Zielgruppe kennt.

In der Zeit, in der das Neue Testament geschrieben wurde, konnte man die Menschheit in vier Gruppen einteilen, nämlich erstens die Juden (das irdische/alte Volk Gottes), zweitens die Römer (die politischen Machthaber), drittens die Griechen (die kulturellen Menschen) und viertens die Christen. Gott in seiner Weisheit hat es so geführt, dass jeweils ein Evangelium sich ursprünglich besonders an eine dieser vier Gruppen richtete (wobei klar ist, dass der Inhalt grundsätzlich für jeden Menschen wichtig ist).

  • Bei Matthäus ist es offensichtlich, dass er sich ursprünglich an Juden richtet. Er schreibt an Menschen, die das Alte Testament kannten und auf den warteten, der als König kommen, sie von den Römern befreien und in Gerechtigkeit regieren würde. Matthäus verweist häufig auf das Alte Testament und setzt voraus, dass seine Leser es kannten.
  • Markus richtet sich (wahrscheinlich) vornehmlich an Römer. Die kirchliche Tradition geht zum großen Teil davon aus, dass er sein Evangelium in Rom geschrieben hat.18 Für die Römer zählten die Taten und die Energie eines Menschen. Deshalb stellt Markus gerade das in den Vordergrund. Außerdem erklärt er eine Reihe von jüdischen Gebräuchen, die den Römern unbekannt waren.
  • Lukas, der selbst ein Grieche war, richtet sich in seinen beiden Büchern an einen vornehmen Griechen. Er schreibt über den Menschensohn, der jeden sucht, der verloren ist – sei er ein Jude oder nicht. In vielen Einzelheiten und zugleich durch seine anspruchsvolle Sprache entspricht Lukas den Erwartungen geistig anspruchsvoller Menschen.
  • Johannes schreibt an Jünger Jesu, d.h. an solche, die ewiges Leben hatten. Er wollte sie im Glauben stärken (vgl. Joh 20,31). Als Johannes sein Evangelium schrieb, waren bereits eine Reihe von falschen Lehren über die Person des Sohnes Gottes in Umlauf. Deshalb ist sein Evangelium – obwohl es andererseits eine klare Botschaft für Ungläubige enthält – in erster Linie zur Glaubensstärkung der Jünger Jesu gedacht. Viele Begriffe können in ihrer Tiefe nur von solchen verstanden werden, die Teil der Familie Gottes sind.

8.6. Keine Widersprüche in den vier Evangelien

Selbst wenn es auf den ersten Blick an manchen Stellen so aussieht, beinhalten die vier Evangelien an keiner einzigen Stelle einen Widerspruch. Im Gegenteil: Sie ergänzen einander und gerade im Studium der Unterschiede liegt ein besonderer Segen für jeden Leser.

Einige Beispiele aus dem täglichen Leben machen klar, dass unterschiedliche Berichte sich keineswegs widersprechen müssen, sondern einander vielmehr ergänzen.

  1. Stellen wir uns vor, vier Maler bekommen den Auftrag, ein Haus zu malen. Der erste zeichnet die Ostseite, der zweite die Südseite, der dritte die Westseite und der vierte die Nordseite. Alle vier Bilder werden am Ende sehr verschieden aussehen und doch ist es immer ein und dasselbe Haus.
  2. Stellen wir uns vor, ein Autounfall soll vor Gericht beschrieben werden. Der Unfallverursacher wird seine Sichtweise geben. Der Unfallgegner wird sehr wahrscheinlich eine etwas andere Darstellung geben. Dann gibt es die neutrale Zeugenaussage eines Dritten und schließlich gibt noch ein Sachverständiger seine Beurteilung ab. Vier Berichte, die in sich völlig richtig sein können und doch voneinander abweichen werden.
  3. Stellen wir uns die Beschreibung einer Klassenfahrt vor. Der Lehrer hat seine Sichtweise, die Schüler haben ihre Sichtweise. Zwei Eltern, die die Klasse begleiten, haben die Reise ebenfalls erlebt und schließlich hat noch der Hausmeister der Jugendherberge seinen Eindruck notiert. Es ergeben sich vier Berichte ein und desselben Ereignisses, die nicht identisch sind und doch einander nicht widersprechen müssen.

Es ist deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt zu versuchen, aus den vier Evangelien ein einziges Evangelium zu machen. Das entspricht nicht der Absicht Gottes, der uns gerade durch die Unterschiede der vier Evangelien ein helles Licht auf die Größe und Herrlichkeit seines Sohnes gibt. So wie niemand in der Lage ist, die verschiedenen Farben eines Regenbogens zu einer Einheitsfarbe zu mischen, wollen wir die einzelnen Berichte so stehen lassen wie sie sind. Das entspricht erstens der Absicht Gottes, zweitens macht es uns unseren Herrn und Heiland umso größer und herrlicher.

8.7. Zwischenfazit

Als Zwischenfazit halten wir fest, dass es zwar vier Evangeliumsberichte, aber nur ein Evangelium gibt. Es gibt vier Berichterstatter, doch nur einen, von dem sie berichten und nur einen, der sie inspiriert hat (der Heilige Geist). Das Zeugnis der Jünger in der Apostelgeschichte beweist das nachdrücklich. Es gibt vier verschiedene Empfänger, die repräsentativ für alle Menschen stehen, denen das Evangelium des Heils in Christus gilt.

Folgende Tabelle fasst einige Punkte zusammen:

  Matthäus Markus Lukas Johannes
Verfasser Augenzeuge (Jünger) kein Augenzeuge kein Augenzeuge Augenzeuge (Jünger)
Beruf des Verfassers Zöllner unbekannt Arzt Fischer
Kapitel 28 16 24 21
Verse 1071 678 1151 879
Adressaten Juden Römer Griechen Christen
Abfassung ca. 55–65 n. Chr. 55–69 n. Chr. ca. 55–60 n. Chr. 85–95 n. Chr.
Jesus als ... Messias und König Knecht und Prophet Sohn des Menschen Sohn Gottes
Schwerpunkt Reden Taten Gleichnisse Belehrung
Dienstschwerpunkt Galiläa Galiläa Galiläa Judäa
Opfertod als ... Schuldopfer Sündopfer Dank- / Friedensopfer Brandopfer
Schlüsselbegriffe Königreich der Himmel sogleich Gnade / Barmherzigkeit ewiges Leben
Schlüsselverse Mt 3,2 Mk 10,45 Lk 19,10 Joh 20,31
Chronologie inhaltlich zeitlich inhaltlich zeitlich
Sondergut19 ca. 42% ca. 7% Ca. 59% ca. 92%
Zitate aus dem AT 53 36 25 20

9. Die Entstehung der Evangelien

Die Frage stellt sich, wie es dazu kam, dass gerade die vier Evangelisten ihre unterschiedlichen Berichte über das Wirken des Herrn Jesus auf der Erde aufgeschrieben haben. Die Antwort darauf kann nur lauten: Sie taten es im Auftrag und unter der Leitung des Heiligen Geistes. Er hat ihnen Wort für Wort eingegeben, was sie schreiben sollten (2. Tim 3,16; 2. Pet 1,21). Deshalb sind die vier Evangelien (und die Apostelgeschichte) erstens fehlerfrei und ohne jeden Widerspruch, zweitens besitzen sie die volle Autorität des Wortes Gottes.

9.1. Mündliche und schriftliche Überlieferungen

Die Tatsache der geistgewirkten Inspiration schließt nicht aus, dass die Verfasser auf unterschiedliche Weise und in ihrer jeweiligen Persönlichkeit von Gott benutzt wurden und auf ihnen vorliegende Informationen zurückgegriffen haben. Gerade Lukas macht das in seinen einleitenden Worten deutlich (Lk 1,1-4). Er spricht von Berichten, die verfasst worden sind. Er spricht von Überlieferungen von Augenzeugen, denen er genau gefolgt ist.

Die Autoren waren keine „willenlosen Instrumente“. Das gilt für alle Verfasser biblischer Bücher – die vier Evangelisten und die Apostelgeschichte eingeschlossen. Wir können also davon ausgehen, dass die vier Schreiber – die ja nur zum Teil Augenzeugen waren – mündliche und schriftliche Berichte vorliegen hatten, auf die sie beim Schreiben unter der Leitung des Heiligen Geistes zurückgegriffen haben.

Zunächst werden das mündliche Überlieferungen gewesen sein, die aufgrund der Informationen der Augenzeugen (vor allem der Jünger) unter den ersten Christen kommuniziert wurden. Diese Überlieferungen stammten also aus unterschiedlichen Quellen. Die Jünger Jesu hatten sich gut gemerkt, was Jesus getan und gelehrt hatte und gaben es an andere weiter. Das bestätigt z. B. Petrus in seiner Rede im Haus des Kornelius (Apg 10,37-43). Wir können davon ausgehen, dass die Botschaft von Jesus Christus in den ersten 20 Jahren hauptsächlich mündlich weitergegeben wurde. Diese mündlichen Informationen bildeten neben den Erinnerungen der Augenzeugen die Basis für die geschriebenen Berichte.

Es liegt auf der Hand, dass es notwendig wurde, die Erinnerungen an das Leben des Heilands schriftlich niederzulegen. Nur so konnte – vor allem im Blick auf die zügige Verbreitung des Evangeliums in der damals bekannten Welt – sichergestellt werden, dass korrekte Informationen verfügbar waren. Außerdem verminderte sich im Lauf der Zeit die Anzahl der Augenzeugen auf natürliche Weise.

Das erste Evangelium entstand daher etwa 20 Jahre nach der Himmelfahrt Jesu. Viele Gelehrte gehen davon aus, dass Markus der erste Schreiber war (ca. 45–60 n. Chr.). Ganz sicher ist das jedoch nicht. Kurz darauf folgten Matthäus und Lukas. Als gesichert gilt, dass alle drei vor der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. geschrieben haben. Zuletzt schrieb Johannes (ca. 90–95 n. Chr.).

Woher nun hatten die vier Verfasser ihre Informationen?

  • Matthäus und Johannes waren als Jünger Jesu weitgehend Augen- und Ohrenzeugen. Sie benötigten keine mündlichen Überlieferungen, um das aufzuschreiben, was sie mit Jesus erlebt hatten. Die Tatsache, dass sie ihre Berichte erst Jahrzehnte später verfassten (im Fall von Johannes über 50 Jahre später) nimmt nichts davon weg, dass sie alles korrekt geschrieben haben. Der Heilige Geist hat sie an alles erinnert (Joh 14,26).
  • Lukas war ein Historiker. Er hat sorgfältig recherchiert, um einen zuverlässigen Bericht zu schreiben (Lk 1,3-4). Er konnte z.B. verschiedene Augenzeugen befragen und als Reisebegleiter von Paulus und Barnabas standen ihm weitere Informationsquellen zur Verfügung.
  • Markus war besonders mit dem Apostel Petrus verbunden (1. Pet 5,13) und wird von ihm manches gehört haben. Einiges wird er vermutlich sogar selbst direkt mitbekommen haben, weil er in Jerusalem wohnte.

9.2. Die synoptische Frage

Unter den frühen Christen gab es keine Zweifel darüber, wie die vier Evangelien entstanden sind. Später jedoch stellten sich vermehrt die Fragen, auf welche Quellen die Verfasser wohl zurückgegriffen haben und vor allen Dingen, ob sie voneinander abgeschrieben haben. Besonders Theologen, die die göttliche Inspiration der Bibel in Frage stellen, haben diese Fragen aufgeworfen und allerhand Theorien und Hypothesen aufgestellt. Die aufgeworfenen Fragen werden in der Theologie als das „synoptische Problem“ bezeichnet, weil davon besonders die ersten drei Evangelien betroffen sind.

Es würde den Rahmen und das Ziel dieser Einführung in die vier Evangelien sprengen, die verschiedenen Theorien hier im Einzelnen darzustellen. Heute gehen viele bibelkritische Theologen20 von der sogenannten „Zwei-Quellen-Theorie“ aus.21 Diese Theorie besagt im Prinzip zweierlei:

  1. Erstens, dass das Markusevangelium zuerst verfasst wurde und die beiden übrigen Synoptiker den Text von Markus ergänzt und durch sogenanntes „Sondergut“ ergänzt haben. Sowohl das Matthäus- als auch das Lukasevangelium sollen danach erst um ca. 80 n. Chr. (also nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels) entstanden sein.
  2. Zweitens, dass es eine außerbiblische Quelle gibt (die sogenannte Logienquelle oder kurz Q = Quelle genannt), die vor allem die Reden Jesu enthalten soll, die man bei Markus nicht findet.

Beide Hypothesen dieser Theorie sind zurückzuweisen. Dazu nur ein paar kurze Hinweise:

  1. Es ist zwar denkbar – allerdings nicht sicher –, dass Markus als erster geschrieben hat und Matthäus und Lukas möglicherweise den Text von Markus kannten. Dennoch kann es ausgeschlossen werden, dass sie – unter der Leitung des Geistes stehend – einfach von Markus abgeschrieben und seinen Text ergänzt haben.22 Gerade die Unterschiede zwischen den drei Synoptikern beweisen das Gegenteil.
  2. Es macht wenig Sinn davon auszugehen, dass Matthäus und Lukas erst nach der Zerstörung Jerusalems durch die Römer geschrieben haben. Beide Evangelien sprechen über die Zerstörung des Tempels als etwas Zukünftiges.
  3. Es gilt zu bedenken, dass einige Kirchenväter davon ausgehen, dass Matthäus zuerst geschrieben hat. Wenn das stimmt, hatte zumindest Matthäus die Vorlage von Markus überhaupt nicht verfügbar.
  4. Es gibt, was die sogenannte außerbiblische Vorlage Q betrifft, keinen einzigen Beweis für eine solche Quelle. Während es für alle übrigen neutestamentlichen Bücher reichhaltige Textfunde gibt, existiert kein einziger Textfund für eine solche vermeintliche Vorlage Q. Keiner der Kirchenväter zitiert eine solche Quelle.

Letztlich ist es müßig, diesen Fragen ausführlich nachzugehen. Es stimmt nachdenklich, wenn man erstens bedenkt, dass Verfechter dieser Theorien die göttliche Inspiration der Evangelien im Wesentlichen ablehnen und stattdessen eine historisch-kritische Haltung einnehmen. Zweitens ist falsch, die Unterschiede in den Evangelien historisch erklären zu wollen. Sie sind – wie wir gesehen haben –, vielmehr von Gott beabsichtigt.

10. Der praktische Nutzen

Die Lektüre der vier Evangelien und der Apostelgeschichte ist von größtem praktischen Nutzen für jedes Kind Gottes. Mehr noch, es ist für jeden Jünger Jesu absolut notwendig, sich immer wieder diesen Büchern zuzuwenden und sie aufmerksam zu lesen. Der Nutzen liegt vor allem in drei Dingen:

  1. Sie machen uns Christus groß, um Ihm dafür zu danken, dass Er Mensch wurde und sein Leben für uns gegeben hat. Sie führen dazu, Ihn zu loben und zu preisen für das, was Er getan hat und Ihn anzubeten für das, was Er ist – ewiger Gott und wahrhaftiger Mensch.
  2. Sie machen uns Christus groß, um von Ihm zu lernen (Mt 11,29), in seinen Fußspuren zu folgen (1. Pet 2,21) und seine Gesinnung (Denkweise) zu offenbaren (Phil 2,5). Von wenigen Ausnahmen abgesehen finden wir nur in den Evangelien Worte unseres Herrn selbst. Darüber hinaus ist Er als der Anfänger und Vollender des Glaubens (Heb 12,2) das große Beispiel. Er hat uns nicht nur mit Worten, sondern vor allem in seinen Taten und seiner Gesinnung ein Beispiel hinterlassen. Nur indem wir Ihn hören, Ihn anschauen und von Ihm lernen, werden wir Ihm ähnlicher werden und wird sein Bild in uns gestaltet (Gal 4,19).
  3. Sie helfen uns, seine Zeugen zu sein. Die Kraft des Heiligen Geistes, die sich in den ersten Christen überaus mächtig erwies, ist heute keine andere. Wenn wir sehen wollen, wie wir authentische und überzeugende Zeugen unseres Herrn und Heilandes sein können, dann hilft uns besonders die Lektüre der Apostelgeschichte.

Die Evangelien lehren uns, wie Jesus auf der Erde gelebt und gewirkt hat. Die Apostelgeschichte lehrt uns, wie Er vom Himmel aus weiterwirkt (Mk 16,20). In den übrigen Büchern des Neuen Testamentes (und vorbildlich zusätzlich im Alten Testament) finden wir zwar durchaus wichtige Hinweise auf sein Leben auf der Erde. Doch nirgendwo finden wir eine solche Fülle von Informationen wie in den Evangelien und der Apostelgeschichte. Wir brauchen diese Bücher, um der Aufforderung des Johannes nachzukommen, so zu leben, wie Jesus gelebt hat (1. Joh 2,6)!

Wenn man jeweils eine praktische Kernkonsequenz nennen sollte, könnte man Folgendes sagen:

  • Matthäus: Sei bereit, als ein Jünger Jesus Ablehnung und Widerstand hinzunehmen!
  • Markus: Sei ein guter Diener Christi Jesu. Diene Gott so treu und unermüdlich, wie Christus es getan hat!
  • Lukas (in beiden Büchern): Sei ein treuer Zeuge deines Retters und trage das Wort der Versöhnung in die Welt hinaus!
  • Johannes: Lebe so, wie Kinder Gottes leben, die Nachahmer Gottes sind und Ihn auf dieser Erde verherrlichen wollen!

Fußnoten

  • 1 Biografien im klassischen Sinn geben einen Überblick über das gesamte Leben einer Person. Das tun die Evangelien ausdrücklich nicht. Sie behandeln jeweils nur einen relativ kurzen Abschnitt aus dem Leben unseres Herrn. Außerdem – und das ist unbedingt zu beachten – handelt es sich nicht einfach um historische Tatsachen, die beschrieben werden, sondern der Zweck der Beschreibung ist ein ganz anderer. Es geht um die Heilsbotschaft Gottes für uns Menschen. Es geht darum, dass sein Sohn in unseren Augen größer wird. Das ist weit mehr als eine Biografie.
  • 2 A. C. Gaebelein: The Gospel of Matthew
  • 3 Die Anordnung in den uns bekannten Bibelausgaben entspricht i. d. R. der Anordnung der Septuaginta (der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes) und nicht der Anordnung der hebräischen Bibel.
  • 4 Damit ist nicht gesagt, dass nicht andere Teile des Neuen Testamentes ebenfalls Prophetie enthalten (vgl. z. B. 2. Thes; Jud; 2. Pet). Die Offenbarung ist jedoch das einzige Buch im Neuen Testament, das einen durchgängig prophetischen Charakter hat.
  • 5 Zusammen mit dem Buch Esther schließen diese sechs Bücher zeitlich den Kanon des Alten Testamentes ab. Man nennt sie die post-exilischen Bücher, weil sie die Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft beschreiben. Das Buch Esther nimmt insofern eine Sonderstellung ein, weil es hier nicht um den Überrest der Juden in Jerusalem und Judäa geht, sondern um diejenigen, die – mehr oder weniger freiwillig – im Exil geblieben und nicht in das Land ihrer Väter zurückgekehrt waren.
  • 6 Die uns geläufige Redewendung: „alle Wege führen nach Rom“ geht auf dieses Wege- und Straßennetz im römischen Reich zurück, dessen Ursprung und Ziel sehr häufig Rom war.
  • 7 Der Hinweis „ungefähr“ lässt einen gewissen Spielraum nach oben und nach unten offen. Es wird häufig angenommen, dass Er wahrscheinlich etwas älter war, als Er seinen öffentlichen Dienst begann.
  • 8 Dieser Name ist nicht mit Kaiser Augustus („Erhabenster“) zu verwechseln. Augustus war nicht nur ein Name, sondern zugleich ein Titel, den sich viele Kaiser gaben, ohne selbst Augustus zu heißen.
  • 9 Letzterer spielt in einigen Briefen des Neuen Testamentes (z. B. an die Kolosser und denen von Johannes) eine wichtige Rolle. Die Apostel machten die Gefahren des Gnostizismus für die Gläubigen deutlich. „Gnosis“ bedeutet „Wissen“ oder „Erkenntnis“. Die Anhänger dieser Lehre behaupteten, dass Erlösung nur durch den Erwerb eines bestimmten Wissens möglich sein könnte. Sie stützten sich darüber hinaus auf die Lehre des Platon, dass die Materie (der Leib) böse und nur der Geist gut sei.
  • 10 Dies geschah bis zum Vorabend der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. Seitdem sind in Jerusalem keine Opfer mehr im Tempel dargebracht worden. Erst in dem Tempel, der in der Zeit nach der Entrückung der Gläubigen existieren wird, werden wieder Opfer gebracht werden (wann genau dieser Tempel gebaut werden wird, wissen wir nicht).
  • 11 Viele kirchliche Traditionen finden hier – und im Tempeldienst – ihren Ursprung, während in den ersten Versammlungen der Christen „Freiheit des Geistes“ bestand, ohne dass es zur Unordnung kommen durfte (1. Kor 14,40). Dieser „Freiheit“ ist bis heute ein Kennzeichen derer, die Versammlung nach dem Muster des Neuen Testamentes praktizieren möchten.
  • 12 Nur dreimal lesen wir im Neuen Testament von „Evangelisten“ (vgl. Apg 21,8; Eph 4,11; 2. Tim 4,5). Der Zusammenhang macht klar, dass alle drei Stellen nichts direkt mit den Schreibern der vier Evangelien zu tun haben.
  • 13 W. Kelly: The Gospel of Matthew, in: Lectures introductory to the New Testament
  • 14 Dabei kann man davon ausgehen, dass zumindest Markus teilweise ebenfalls Augen- und Ohrenzeuge war. Die meisten Ausleger gehen davon aus, dass er der Jüngling ist, von dem er in Markus 14,51 schreibt.
  • 15 Lukas ist somit der Einzige, der selbst nicht dabei war, als Jesus lebte und der keinen direkten Kontakt zu Augenzeugen gehabt zu haben scheint (zumindest lesen wir nichts davon). Dennoch fällt es auf, dass Paulus gerade das Lukasevangelium als Teil der „heiligen Schrift“ bezeichnet (1. Tim 5,18 in Verbindung mit Lk 10,7).
  • 16 Dennoch zeigen auch Matthäus und Markus persönliche Wesenszüge des Herrn (gerade Markus betont am Anfang und am Ende seine Gottheit). Der Schwerpunkt liegt jedoch bei den amtlichen Herrlichkeiten.
  • 17 Die Bezeichnung geht auf den bekannten Textforscher Johann Jakob Griesbach (1745–1812) zurück. Er hat 1774 zum ersten Mal eine „Synopse“ der ersten drei Evangelien publiziert.
  • 18 Ob das allerdings den Tatsachen entspricht, muss in Frage gestellt werden. Beweise dafür gibt es keine. Dass Markus in Rom gewesen ist, ist unstrittig (Kol 4,10; Phlm 24). Ob er allerdings dort sein Evangelium geschrieben hat, ist durchaus nicht sicher. Die kirchliche Tradition bringt Markus ebenfalls mit Petrus in Verbindung (1. Pet 5,13). Dass Petrus allerdings je in Rom gewesen ist, mag mit Fug und Recht bezweifelt werden. Die Bibel berichtet darüber jedenfalls nichts (der Ort Babylon, den Petrus in 1. Petrus 5,13 erwähnt, ist jedenfalls nicht als Umschreibung für Rom zu verstehen).
  • 19 Unter „Sondergut“ verstehen wir nicht – wie die moderne Theologie es zum Teil tut – eine Überlieferungsquelle, die dem Schreiber zur Verfügung gestanden haben soll, sondern gemeint sind Berichte, die nur in einem einzigen Evangelium stehen und in keinem anderen erwähnt werden.
  • 20 Gemeint ist die vorherrschende historisch-kritische Theologie, die davon ausgeht, die Bibel wissenschaftlich erklären zu wollen. Echte Wunder sind in dieser Theologie unmöglich, weil sie nicht wissenschaftlich beweisbar sind. Die Bibel ist in dieser Theologie nicht das Wort Gottes, sondern besteht aus subjektiv interpretierbaren Glaubenszeugnissen. Letztlich ist die Bibel für Anhänger der historisch-kritischen Theologie nichts als Menschenwort. Jesus Christus ist – wenn Er überhaupt existiert hat – nicht der ewige Sohn Gottes, der Mensch wurde, um Menschen zu retten.
  • 21 Vgl. dazu ausführlich bei E. Mauerhofer: Einleitung in die Schriften des Neuen Testamentes (Teil 1), ebenso: A. Remmers: Die Bibel im Überblick.
  • 22 Speziell im Fall von Matthäus würde es wenig Sinn machen, dass ein Augenzeuge den Bericht eines Nicht-Augenzeugen als Basis für sein Evangelium benutzt. Allein dieses Argument zeigt schon, wie wenig nachvollziehbar die Quellen-Theorie ist.
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