Betrachtung über Hebräer (Synopsis)
Kapitel 4
Der Apostel fährt fort, diesen Teil der Geschichte Israels auf die Empfänger des Briefes anzuwenden, indem er besonders auf zwei Punkte Nachdruck legt: erstens hatte Israel durch Unglauben den Eingang in die Ruhe verfehlt; zweitens war die Ruhe noch zukünftig, und die Gläubigen (diejenigen, die nicht hier die Ruhe suchten, sondern für die Gegenwart mit der Wüste vorlieb nahmen) sollten in sie eingehen. Er beginnt mit den Worten: „Fürchten wir uns nun, dass nicht etwa, da eine Verheißung, in seine Ruhe einzugehen, hinterlassen ist jemand von euch zurückgeblieben zu sein scheine“, d. h. sie nicht erreiche. Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie Israel in den vergangenen Tagen, aber das Wort, das an sie gerichtet wurde, blieb ohne Frucht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war. „Denn wir, die wir geglaubt haben, gehen in die Ruhe ein.“ Die Ruhe ist noch zukünftig, und es sind Glaubende, die in sie eingehen. Denn eine Ruhe Gottes ist vorhanden, und etliche gehen in sie ein, denn Gott hat gesagt: „Sie“ (d. h. eine gewisse Klasse, die davon ausgeschlossen werden sollte) „werden nicht in meine Ruhe eingehen.“ Gott hatte vormals in der Schöpfung gewirkt und dann von seinen Werken geruht, nachdem Er sie alle vollendet hatte. Gott hat also von Gründung der Welt an bewiesen, dass Er eine Ruhe hatte, wie es auch in der schon angeführten Stelle heißt: „Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden!“ Aber indem Er zeigt, dass es sich noch um den Eingang in sie handelt, gibt Er zu verstehen, dass der Mensch in der ersten Schöpfung nicht in die Ruhe Gottes eingegangen ist. Zwei Dinge sind nun augenscheinlich, nämlich dass etliche in die Ruhe eingehen sollen, und dass die Israeliten, denen sie zuerst vorgestellt wurde, wegen ihres Unglaubens nicht eingegangen sind. Darum bestimmt Gott wiederum einen gewissen Tag, indem Er in David, lange nach dem Einzug in Kanaan, sagt: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!“ (V. 7).
Hier macht sich ein natürlicher Einwand geltend, auf den der inspirierte Schreiber eine erschöpfende Antwort gibt, ohne von dem Einwand selbst zu reden. Die Israeliten, hätte man sagen können, sind freilich in der Wüste gefallen, aber danach hat Josua das Volk nach Kanaan gebracht, das die Ungläubigen niemals erreichten. Die Juden befanden sich ja im Land, sie waren also in die Ruhe eingegangen, zu der die anderen nicht gelangt waren. Die Antwort auf diesen Einwand ist sehr einfach. Lange nach dieser Zeit hatte Gott durch David gesagt: „Ich schwur in meinem Zorn: wenn sie in meine Ruhe eingehen werden!“ Wenn Josua Israel in die Ruhe gebracht hätte, so hätte David nachher nicht von einem anderen Tag sprechen können. Es bleibt also noch eine Ruhe für das Volk Gottes übrig. Sie ist noch zukünftig, aber sie ist gesichert durch das Wort Gottes – eine Wahrheit, deren Tragweite man sofort erfasst, wenn man an die Verbindung der gläubigen Juden mit dem Volk denkt, in dessen Mitte sie versucht waren, eine Ruhe zu suchen, die für den Augenblick der Glaube ihnen nicht gewährte, und die ihr Glaube, da er geschwächt war, sogar nur dunkel vor sich sah. Um die Ruhe Gottes zu haben, muss man im Glauben ausharren. Eine gegenwärtige, sichtbare Ruhe war nicht die wahre Ruhe. Die Ruhe Gottes stand noch in Erwartung. Der Glaube allein erkannte das an und suchte im Vertrauen auf die Verheißung keine Ruhe in der Wüste. Gott sagte immer noch: „Heute.“ Der Zustand des Volkes in jener Zeit war schlechter als die Ruhe, in die Josua sie eingeführt hatte, und diese selbst war gar keine Ruhe, wie die eigenen Psalmen der Juden es beweisen.
Was die Reihenfolge der Verse betrifft, so hängt die Ermahnung in Vers 11 mit dem ganzen Vorhergehenden zusammen, indem durch das Zeugnis Davids, der nach Josua kam, die Beweisführung vollständig geworden ist. Nach der Schöpfung hatte Gott wirklich geruht, aber danach hatte Er gesagt: „Wenn sie in meine Ruhe eingehen werden!“ Die Menschen waren also nicht in jene Ruhe eingegangen. Josua ging in das verheißene Land ein, aber das Wort durch David, das lange nachher kam, bewies, dass die Ruhe Gottes auch damit noch nicht erreicht war. Dessen ungeachtet zeigte dasselbe Zeugnis, das den Eingang in die Ruhe des Unglaubens wegen verwehrte, dass etliche eingehen sollten, denn sonst wäre es nicht nötig gewesen, den Ausschluss anderer als etwas Besonderes hinzustellen, noch die Menschen dringend zu ermahnen, dem zu entfliehen, was ihrem Eingang in die Ruhe sich hindernd in den Weg stellte.
Solange jemand nicht ruht von seinen Werken, ist er nicht in die Ruhe eingegangen. Wer eingegangen ist, hört auf zu wirken, so wie Gott von seinen Werken ruhte, als Er in seine Ruhe einging. „Lasst uns nun Fleiß anwenden“, lautet die Ermahnung des treuen Zeugen Gottes, „in jene Ruhe – die Ruhe Gottes – einzugehen“, damit wir nicht nach demselben Beispiel des Ungehorsams fallen (V. 11).
Wir müssen besonders beachten, dass hier von der Ruhe Gottes die Rede ist. Dies lässt uns das Glück und die Vollkommenheit dieser Ruhe verstehen. Gott muss in dem ruhen, was sein Herz befriedigt. Das war sogar schon bei der Schöpfung der Fall. Alles war sehr gut. Und heute kann die vollkommene Liebe in Bezug auf uns nur durch unsere vollkommene Segnung befriedigt werden: wir werden ein himmlisches Teil haben in der Segnung, die wir in der Gegenwart Gottes in vollkommener Heiligkeit und in vollkommenem Licht besitzen werden. Demgemäß wird all das mühsame Werk des Glaubens, die Übung des Glaubens in der Wüste, der Kampf (obwohl es darin auch viele Freuden gibt), die hienieden geübten guten Werke, ja, alle Art von Arbeit aufhören. Wir werden nicht nur von der Macht der innewohnenden Sünde befreit sein, sondern jede Mühsal und alle Leiden des neuen Menschen werden aufhören. Vom Gesetz der Sünde sind wir schon frei gemacht; dann aber werden auch unsere geistlichen Übungen für Gott aufhören. Wir werden ruhen von unseren Werken (an böse Werke ist hier selbstredend nicht zu denken). Wir haben schon geruht von unseren Werken, was unsere Rechtfertigung betrifft, und deshalb haben wir in diesem Sinn jetzt Ruhe in unserem Gewissen: aber darum handelt es sich hier nicht. Hier ist von der Ruhe des Christen von allen seinen Werken die Rede. Gott ruhte von seinen (sicherlich guten) Werken, und so werden auch wir dann mit Ihm ruhen. Wir sind jetzt in der Wüste. Wir kämpfen auch mit bösen Geistern in den himmlischen Örtern. Eine gesegnete Ruhe bleibt uns noch, in der unsere Herzen ruhen werden in der Gegenwart Gottes. Da wird nichts die Vollkommenheit unserer Ruhe trüben, und Gott wird in der Vollkommenheit der Segnung ruhen, die Er seinem Volk bereitet haben wird.
Der leitende Gedanke in dieser Stelle ist der, dass noch eine Ruhe bleibt, d. h. dass der Gläubige sie nicht hier zu erwarten hat, ohne zu sagen, wo sie ist. Auch wird der Charakter der Ruhe nicht im einzelnen erläutert, weil die Stelle die Tür zu einer irdischen Ruhe für das irdische Volk, aufgrund der Verheißungen, offen lässt, obwohl für die christlichen Teilhaber der himmlischen Berufung die Ruhe Gottes augenscheinlich himmlisch ist.
Sodann stellt der Apostel uns das Werkzeug vor, das Gott benutzt, um den Unglauben, sowie alle Regungen des Herzens zu verurteilen, die, wie wir gesehen haben, dahin gerichtet sind, den Gläubigen zum Aufgeben der Glaubensstellung zu verleiten und Gott vor ihm zu verbergen, indem sie ihn dahin bringen, sein Fleisch zu befriedigen und Ruhe in der Wüste zu suchen. Für einen von Herzen aufrichtigen Gläubigen ist diese Beurteilung der Regungen seines Herzens von großem Nutzen. Sie befähigt ihn, alles das zu unterscheiden, was dahin zielt, seine Fortschritte zu hemmen oder seine Schritte zu verlangsamen. Es ist das Wort Gottes, das (als die Offenbarung Gottes, der Ausdruck dessen, was Er ist, und alles dessen, was Ihn umgibt, sowie der Ausdruck seines Willens inmitten all der Umstände, in denen wir uns befinden) alles in dem Herzen verurteilt, was nicht von Ihm ist. Das Wort Gottes ist durchdringender als jedes zweischneidige Schwert. Lebendig und wirksam, scheidet es alles, was in unseren Herzen und Sinnen aufs innigste miteinander verbunden ist. Da, wo die Natur – die „Seele“ und ihre Gefühle – sich mit dem, was geistlich ist, vermengt, bringt es die Schneide des Schwertes der lebendigen Wahrheit Gottes zwischen beide und beurteilt und richtet im Blick auf die verborgenen Herzensregungen. Es unterscheidet alle Gedanken und Vorsätze des Herzens. Doch hat es noch einen anderen Charakter, da es von Gott kommt: es ist gleichsam sein auf das Gewissen gerichtetes Auge. Es bringt uns in seine Gegenwart, und alles, was es uns zu entdecken zwingt, stellt es in unserem Gewissen vor das Auge Gottes selbst. Nichts ist verborgen. „Alles ist bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (V. 13). Die Verbindung zwischen dem an den Menschen gerichteten Wort und Gott selbst ist hier sehr bemerkenswert.
Das ist die wahre Hilfe, das mächtige Werkzeug Gottes, um alles in uns zu verurteilen, was uns verhindern will, unseren Lauf durch die Wüste mit Freuden und mit einem fröhlichen Herzen, das durch Glauben und Vertrauen auf Gott stark gemacht ist, zu verfolgen. Köstliches Werkzeug eines treuen Gottes – feierlich und ernst in seiner Wirksamkeit, aber von unschätzbarer und unendlicher Segnung in seinen Wirkungen, in seinen Erfolgen! Es ist ein Werkzeug, das, wenn es in Tätigkeit tritt, „dem Willen des Fleisches und der Gedanken“ nicht erlaubt zu handeln, das dem Herzen nicht gestattet, sich selbst zu betrügen, das uns aber Kraft verleiht und uns ohne ein Bewusstsein von Sünde in die Gegenwart Gottes stellt, so dass wir unseren Lauf mit Freude und geistlicher Energie verfolgen können. Hiermit schließt die auf die Kraft des Wortes Gottes gegründete Ermahnung.
Es gibt aber auch noch eine andere, von jener völlig verschiedene Hilfe, um uns auf unserer Reise durch die Wüste zu unterstützen: nämlich das Priestertum – ein Gegenstand, den der Brief hier beginnt und durch mehrere Kapitel hindurch fortsetzt.
Wir haben einen Hohenpriester, der durch die Himmel gegangen ist (wie Aaron durch die aufeinander folgenden Abteilungen der Stiftshütte ging), Jesum, den Sohn Gottes. Er ist in allem versucht worden in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde, so dass Er mit unseren Schwachheiten Mitleid zu haben vermag. Das Wort bringt die Absichten des Herzens ans Licht, richtet den Willen und alles, was nicht Gott zum Ziel und zur Quelle hat. Aber insoweit es sich um unsere Schwachheit handelt, besitzen wir das Mitgefühl Christi. Er hatte unstreitig keine bösen Wünsche. Er ist auf alle Weise versucht worden, aber abgesondert von der Sünde. Die Sünde hatte durchaus keinen Anteil an seinen Versuchungen. In mir ist Sünde. Aber ich wünsche kein Mitleid mit der Sünde, die in mir ist. Ich verabscheue sie. Ich wünsche, dass sie getötet, dass sie schonungslos gerichtet werde. Dies tut das Wort. Für meine Schwachheit und meine Schwierigkeiten suche ich Mitgefühl, und ich finde es in dem Priestertum Jesu. Es ist nicht nötig, dass jemand, um Mitleid mit mir zu haben, in demselben Augenblick das fühlt, was ich fühle – eher das Gegenteil. Wenn ich Schmerz leide, so bin ich nicht in einem Zustand, um so viel an den Schmerz eines anderen denken zu können, als wenn ich selbst frei davon bin. Doch um Mitleid mit ihm zu haben, muss ich eine Natur besitzen, die fähig ist, seinen Schmerz zu würdigen.
Also ist es mit Jesus, wenn Er sein Priestertum ausübt. Er steht in jeder Beziehung außer dem Bereich des Schmerzes und der Versuchung, aber Er ist Mensch. Und nicht nur besitzt Er die menschliche Natur, die seiner Zeit Schmerz und Kummer litt, sondern Er erfuhr die Versuchungen, durch die ein Heiliger zu gehen hat, völliger als irgendeiner von uns, und sein Herz, frei und voll von Liebe, kann völlig mit uns fühlen gemäß der Erfahrung, die Er von dem Bösen gemacht hat, und gemäß der herrlichen Freiheit, in der Er sich jetzt befindet, um uns gegen das Böse zu wappnen und uns zu bewahren. Dies ermuntert uns, unser Bekenntnis festzuhalten trotz der Schwierigkeiten, die unseren Pfad umgeben; denn Jesus beschäftigt sich mit diesen Schwierigkeiten nach der Erkenntnis und Erfahrung, die Er selbst von ihnen hat, und nach der Macht seiner Gnade. Deshalb, da unser Hohepriester dort ist, können wir mit aller Freimütigkeit zum Gnadenthron gehen, um Barmherzigkeit und Gnade zu finden, so wie wir sie zu aller Zeit bedürfen – Barmherzigkeit, weil wir schwach und schwankend sind, die nötige Gnade, weil wir einen Kampf zu bestehen haben, den Gott anerkennt.
Beachten wir, dass wir nicht zum Hohenpriester gehen. Es geschieht oft, und Gott kann Mitleid haben, aber wenn wir es tun, so ist es ein Beweis, dass wir die Gnade nicht völlig verstehen. Einerseits beschäftigt sich der Priester, der Herr Jesus selbst, mit uns, hat Mitleid mit uns, und andererseits gehen wir unmittelbar zum Gnadenthron.
Der Heilige Geist spricht hier nicht bestimmt von Fehltritten. Das finden wir in 1. Johannes 2, wo von unserer Gemeinschaft mit dem Vater die Rede ist. Hier handelt es sich um unseren Zugang zu Gott. Der Zweck hier ist, uns zu stärken und zu ermutigen, damit wir auf dem Weg ausharren in dem Bewusstsein des Mitgefühls, das wir im Himmel finden, und in der Gewissheit, dass der Thron immer zugänglich für uns ist.