Gedanken über das Johannesevangelium
Leiden: "Siehe, deine Mutter!"
„Bei dem Kreuz Jesu standen aber seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Kleopas, und Maria Magdalene. Als nun Jesus die Mutter sah und den Jünger, den er liebte, dabeistehen, spricht er zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann spricht er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm der Jünger sie zu sich“ (Joh 19,25–27).
Hier stand sie beim Kreuz Jesu, seiner Mutter! Welche Gedanken müssen Maria, der gesegnetsten aller Frauen, durch das Herz gegangen sein, als sie am Kreuz Jesu stand!
Man fragt sich, ob sie an die Prophezeiung des Simeon dachte, der ihr vor so langer Zeit sagte:
„Aber auch deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen –, damit die Überlegungen vieler Herzen offenbar werden“ (Lk 2,35).
Zweifellos hatte das Schwert ihre Seele viele Male durchbohrt, sogar vor der Geburt ihres Sohnes. Von vielen verachtet, die sie für unkeusch hielten, trug sie schon damals die bitteren Vorwürfe Christi. Und später, als sich der Hass der Führer der Nation auf Ihn konzentrierte, als sie sagten, Er habe einen Teufel und sei verrückt. Als sie immer wieder versuchten, Ihn zu töten, da hatte das Schwert gewiss ihre Seele durchbohrt. Und jetzt, als Er dort hing, muss ihr Herz schwer gewesen sein.
Sehr wahrscheinlich verstand sie, wie die anderen Jünger des Herrn, dieses tragische Ende nicht. Obwohl sie es vielleicht nicht verstand, war ihr Herz bei Ihm und so stand sie am Kreuz Jesu. Es ist bedauerlich, dass die tiefe Hingabe oft nicht dem Niveau des eigenen Verständnisses entspricht. Wenn wir in einem von beiden mangelhaft sein müssen, ist es besser, etwas weniger zu wissen und Ihn mehr zu lieben. Das ist Hingabe: am Kreuz Jesu zu stehen, wenn alle Welt gegen Ihn ist, und ein Herz zu besitzen, das mit Seinem Herzen schlägt, wenn die Welt nur spottet und verhöhnt.
Diese am Kreuz haben Ihn geliebt, obwohl Er seiner Kleider beraubt war, blutend und verachtet, obwohl sie dieses traurige Ende nicht verstanden haben.
Diese Mutter hatte viel für Ihn getan, aber jetzt tat Er etwas für sie – etwas, das sie niemals tun konnte. Er starb und trug ihre Sünde weg, denn auch Maria brauchte einen Erlöser. Sie sagt uns, dass ihr Geist sich in Gott, ihrem Retter, freute (Lk 1,47). Und wenn sie, die heilige Jungfrau, die Sühnung für die Sünden durch Christus brauchte, dann benötigen auch wir diese Rettung!
In jenen schrecklichen Stunden der Angst und der Schmerzen denkt unser Herr an andere. Nachdem Er die Seinen, die in der Welt sind, geliebt hat, liebt Er sie bis zum Ende. Er denkt an die Seinen, und er sorgt für sie vor.
Zu der Frau sagt Er: „Siehe, dein Sohn!“ Und dann zu Johannes: „Siehe, deine Mutter!“ Er hätte seine Mutter der Fürsorge ihrer eigenen Söhne anvertrauen können, aber er vertraut sie Johannes an. Er wusste, wie sehr Johannes Ihn liebte. Es muss etwas Schönes gewesen sein, zu sehen, wie Johannes vom Kreuz wegging und den Arm um die Mutter seines Herrn legte.
Vor allen anderen Bindungen zwingt uns die Liebe Christi, Ihm zu dienen. Und so hat Er uns jetzt, da Er nicht mehr bei uns ist, gebeten, füreinander zu sorgen, so wie Er Seine Mutter der Fürsorge von Johannes und den geliebten Jünger der Fürsorge von Maria anvertraut hat.
Es ist der Aufruf unseres sterbenden Herrn vom Kreuz selbst. Mögen wir ihn nicht vergessen! Hören wir auf das, was Er gesagt hat:
„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,34.35).