Die Rede und der Märtyrertod des Stephanus
Eine Bibelarbeit zu Apostelgeschichte 7
A) Der Märtyrertod des Stephanus
Stephanus ist der erste christliche Märtyrer, der für seinen Glauben an Jesus Christus starb. Viele Gläubige sind ihm auf diesem Weg gefolgt und haben ebenfalls ihr Leben für Christus gegeben. Wenn fast alle Leser dieser Abhandlung in Ländern wohnen, in denen wir keine offene Christenverfolgung kennen, ist das Grund zu großer Dankbarkeit. Es lohnt sich jedoch für uns alle, einen Blick auf die unmittelbaren Umstände des Todes von Stephanus zu richten, so wie er uns am Ende von Apostelgeschichte 7 beschrieben wird. Wir können aus diesen wenigen Versen viel lernen.
Rückblick
Dem Tod von Stephanus geht die lange Rede voraus, die er vor dem Synedrium gehalten hat (siehe Teil 1). Sie beinhaltet einen Rückblick auf die Geschichte des Volkes Israel und ist zugleich eine Anklage gegen die Juden, die ihrerseits Stephanus angeklagt hatten, gegen Mose und Gott sowie gegen den Tempel und das Gesetz geredet zu haben. Die Rede des Stephanus ist mehr als eine apologetische Rede, um die Anklage abzuweisen. Der Verklagte wird vielmehr zum Ankläger.
Seine Rede endete mit den Worten:
„Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren! Ihr widerstreitet allezeit dem Heiligen Geist; wie eure Väter, so auch ihr. Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten zuvor verkündigten, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, die ihr das Gesetz durch Anordnung von Engeln empfangen und nicht beachtet habt“ (Apg 7,51-53).
Es muss Stephanus klar gewesen sein, was er mit diesen Worten riskierte, doch er scheute die Folgen nicht. Ob er noch mehr sagen wollte oder nicht, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Es ist gut möglich, dass er noch einen Appell zur Buße anschließen wollte, doch dazu kam es nicht mehr. Gott ließ es zu, dass seine Feinde – von Satan selbst angestachelt – ihre ganze Wut, ihren Hass und ihre Bosheit an dem Diener Gottes ausließen und ihn ohne weitere Gerichtsverhandlung zu Tode quälten, indem sie ihn steinigten. Gott erlaubte den Feinden, ihn hier zum Schweigen zu bringen. Seine letzten Worte richtete Stephanus nicht mehr an die Menschen, sondern an seinen Retter und Herrn. Damit war das Schicksal des irdischen Volkes Gottes endgültig besiegelt. Sie hatte das Zeugnis Gottes abgelehnt, und es blieb nur Gericht für sie übrig.
Ein Überblick
Der inspirierte Bericht über die Steinigung lautet wie folgt:
„Als sie aber dies hörten, wurden ihre Herzen durchbohrt, und sie knirschten mit den Zähnen gegen ihn. Als er aber, voll Heiligen Geistes, unverwandt zum Himmel schaute, sah er die Herrlichkeit Gottes, und Jesus zur Rechten Gottes stehen; und er sprach: Siehe, ich sehe die Himmel geöffnet und den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen! Sie schrien aber mit lauter Stimme, hielten sich die Ohren zu und stürzten einmütig auf ihn los. Und als sie ihn aus der Stadt hinausgestoßen hatten, steinigten sie ihn. Und die Zeugen legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines Jünglings, genannt Saulus. Und sie steinigten Stephanus, der betete und sprach: Herr Jesus, nimm meinen Geist auf! Und niederkniend rief er mit lauter Stimme: Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu! Und als er dies gesagt hatte, entschlief er“ (Apg 7,54-60).
Drei Dinge stehen in diesen wenigen Versen im Vordergrund
1. Die Reaktion der Juden in ihrem blinden Hass gegen Stephanus
- ihre Herzen werden durchbohrt
- sie knirschen mit den Zähnen
- sie schreien mit lauter Stimme
- sie halten sich die Ohren zu
- sie stürzen einmütig auf ihn los
- sie stoßen ihn zur Stadt hinaus
- sie steinigen ihn
2. Die Blickrichtung des Stephanus
- er ist voll Heiligen Geistes
- er schaut zum Himmel
- er sieht die Herrlichkeit Gottes
- er spricht von dem geöffneten Himmel
- er sieht den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes stehen
3. Die beiden Gebete des Stephanus
Es sind zwei der kürzesten Gebete, die wir in der Bibel finden und doch voller Inhalt. Das erste Gebet ist eine Bitte für ihn selbst, das zweite eine Bitte für seine Feinde. Sie lauten:
- Herr Jesus, nimm meinen Geist auf!
- Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!
Beide Gebete werden erhört. Stephanus entschläft in Frieden und zumindest in Saulus von Tarsus gibt es eine Antwort auf das zweite Gebet. Es ist sicher nicht von ungefähr, dass Saulus – dessen römischer Name Paulus ist – hier zum ersten Mal erwähnt wird.
Die erste Reaktion der Juden
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Juden Stephanus zugehört. Doch als sie „dies hörten“ konnte die Reaktion nicht ausbleiben, und die aufgestaute Wut ihrer Herzen ergoss sich über Stephanus. Es ist nicht ganz klar, worauf sich der Ausdruck „dies“ bezieht. Wörtlich übersetzt kann man lesen: „Dies hörend“. Es kann sich auf die unmittelbare Anklage durch Stephanus beziehen oder auf seine ganze Rede. Wenn es sich auf die gesamte Rede bezieht, dann hatte sich die Wut bereits während der Rede sukzessiv aufgebaut, und nun eskalierte die Situation. Wenn man die Rede aufmerksam liest, kann man durchaus zu dem Rückschluss kommen, dass die Juden zwar nicht alle Anspielungen auf sich bezogen, ganz sicher aber einige Aussagen sehr gut verstanden haben müssen.
Der Text spricht zunächst von durchbohrten Herzen und dann von knirschenden Zähnen. Beides drückt ihre Wut aus. Es beginnt im Inneren (im Herzen) und zeigt sich dann nach außen. Durchbohrte Herzen können andere nicht wahrnehmen, knirschende Zähne jedoch sehr wohl. Hier zeigt sich deutlich ihr innerer Zustand, auch wenn sie in diesem Moment vor Wut und Zorn kein Wort sagen.
- Der Ausdruck „durchbohrte Herzen“ kommt nur noch einmal im Neuen Testament vor, nämlich in Apostelgeschichte 5,33. In Hebräer 11 wird das Wort „bohren“ mit „zersägen“ übersetzt. Ein durchbohrtes Herz ist ein ergrimmtes und zersägtes Herz, das den Menschen zu einer wütenden Reaktion reizt.
- Mit knirschenden Zähnen wird eine Qual beschrieben, die kennzeichnend für die Hölle ist, mit der die Feinde des Stephanus verbunden waren (Ps 35,16; Lk 13,28).
Stephanus hatte ihnen vorgeworfen, das Gesetz übertreten zu haben. Die Beweisführung war so stringent, dass es dafür keine Rechtfertigung ihrerseits gab. Die Worte des Stephanus trafen ins Schwarze und brachten eine entsprechende Reaktion hervor. Statt Buße und Einsicht war jedoch blinde Wut das Ergebnis. Anstatt zu fragen, was sie tun sollten (vgl. Apg 2,37), hatten sie nur den einen Gedanken, ihn zum Schweigen zu bringen. Dafür schreckten sie nicht einmal vor einem Mord zurück.
Wenn das Wort Gottes das Gewissen erreicht, bricht ein Mensch entweder zusammen und beugt sich vor Gott, oder er wird wütend und rebelliert. Gottes Wort hat – wenn es in der Kraft des Geistes gepredigt wird – immer eine Wirkung, sei es in die eine oder in die andere Richtung (vgl. 2. Kor 2,15.16).
Die Blickrichtung des Stephanus und sein letztes Zeugnis
Ganz im Gegensatz dazu sehen wir Stephanus. Das „aber“ in Vers 55 zeigt den Kontrast. Stephanus ließ sich nicht provozieren, sondern stand völlig ruhig da. Er schaute nicht ängstlich umher, er schaute nicht nach unten, sondern er richtete den Blick nach oben. Petrus schreibt später: „Wenn ihr im Namen Christi geschmäht werdet, glückselig seid ihr! Denn der Geist der Herrlichkeit und der Geist Gottes ruht auf euch“ (1. Pet 4,14). Das erlebte Stephanus hier. Während der Grimm der Juden zunahm und in ihren Gesichtern abzulesen war und durch das Knirschen der Zähne hörbar wurde, strahlte Stephanus zunehmend die Herrlichkeit des Himmels wieder. Die Masse war voller Wut und gegen den Heiligen Geist (Vers 51), Stephanus hingegen voll Heiligen Geistes. Die Masse sah auf den, den sie greifen und ermorden wollten, Stephanus hingegen schaute nach oben und sah die Herrlichkeit Gottes und seinen Heiland zur Rechten Gottes stehen.
Besehen wir einige Details
a) Voll Heiligen Geistes
Der Geist Gottes ruhte nicht nur auf Stephanus, sondern er war voll Heiligen Geistes. So konnte er nicht nur nach oben sehen, sondern direkt „in den Himmel“. Das ist die Richtung, in die das Wirken des Geistes immer ziehen wird, denn Er zeugt von Christus und verherrlicht Ihn (Joh 15,26; 16,14). Die Formulierung „voll Heiligen Geistes“ finden wir nicht sehr oft im Neuen Testament. Von dem Herrn Jesus selbst wird es gesagt (Lk 4,1) und später noch von Barnabas (Apg 11,24). An einigen Stellen ist die Rede von Menschen, die mit Heiligem Geist erfüllt waren, und Paulus fordert uns sogar ausdrücklich dazu auf (Eph 5,18). Es ist ein Unterschied, voll Heiligen Geistes bzw. mit dem Geist erfüllt zu sein und den Heiligen Geist in sich wohnend zu besitzen. Letzteres gilt für alle, die das Wort der Wahrheit gehört und das Evangelium des Heils angenommen haben (Eph 1,13). Sie besitzen den Heiligen Geist als Siegel, als Unterpfand und als Salbung. Doch wenn ein Mensch voll Heiligen Geistes ist bzw. mit Heiligem Geist erfüllt ist, besitzt der Heilige Geist den Menschen. Solch ein Gläubiger stellt sich dem Geist Gottes völlig zur Verfügung und lässt Ihn in seinem Leben frei und ungehindert wirken. Genauso war es bei Stephanus.1
b) Unverwandt zum Himmel schauen
Schon einmal hatte es Menschen gegeben, die „unverwandt zum Himmel schauten“. Es waren die Jünger, die ihren Herrn zum Himmel auffahren sahen. Doch hier ist die Situation völlig anders. Stephanus war von Feinden umgeben, die ihn töten wollten. Doch er sah nicht auf die Feinde. Er beschäftigte sich nicht mit dem Tod, dem er unmittelbar ins Auge sah, sondern er blickte unverwandt zum Himmel.2 Das kann man in einer solchen Situation nur tun, wenn man durch den Heiligen Geist geleitet wird. Der Ausdruck „zum Himmel“ bedeutet auch „in den Himmel“. Das zeigt, dass sich der Himmel für Stephanus öffnete. Es ist großartig, diese Blickrichtung haben zu können. Hier öffnete sich der Himmel für das leibliche Auge eines Menschen. Wir schauen heute mit den Augen des Herzens dorthin.
c) Die Herrlichkeit Gottes sehen
Stephanus selbst hatte seine Rede damit begonnen, an den „Gott der Herrlichkeit“ zu erinnern (Vers 2). Nun sieht er selbst die Herrlichkeit Gottes. Das Kapitel beginnt also mit dem Gott der Herrlichkeit und endet mit der Herrlichkeit Gottes. Die Herrlichkeit Gottes hatte viele hundert Jahre vorher den Tempel verlassen (Hes 10,18; 11,23) und war zum Himmel zurückgekehrt. Die Herrlichkeit Gottes war in Christus wieder auf der Erde erschienen, wurde jedoch zurückgewiesen und ist in seiner Person wiederum in den Himmel zurückgekehrt. Nun sieht Stephanus diese Herrlichkeit. Das ist grundsätzlich für jeden Gläubigen wahr.
d) Jesus zur Rechten Gottes stehen
Es wäre für Stephanus unmöglich gewesen, die Herrlichkeit Gottes zu sehen, wenn er nicht zugleich „Jesus“ dort gesehen hätte. Wir sehen die Herrlichkeit Gottes nur im Angesicht Christi. Gott hat „in unsere Herzen geleuchtet zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2. Kor 4,6). Ohne Ihn wäre es unmöglich, die Herrlichkeit Gottes zu sehen (2. Mo 33,20). „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). Hier wird zunächst betont, dass es „Jesus“ ist, den er sah. Jesus ist der Name des Retters, den Gott gegeben hat (Mt 1,21).
e) Der geöffnete Himmel
Jetzt wird nicht mehr aus der Sich des inspirierten Schreibers berichtet, sondern Stephanus selbst spricht. Er leitet seine kurze Aussage mit den Worten „siehe“ ein. Offensichtlich redet er noch einmal seine Feinde an und legt ein Zeugnis ab, dass sie noch mehr in Rage bringen musste. „Ich sehe die Himmel geöffnet“. Nur viermal lesen wir im Neuen Testament von einem geöffneten Himmel. Anlässlich der Taufe des Herr Jesus wurden Ihm die Himmel aufgetan (Mt 3,16). In Apostelgeschichte 10,11 sieht Petrus einen offenen Himmel, aus dem etwas herunterkommt und in Offenbarung 19,11 ist der Himmel geöffnet und gibt den Blick auf den Richter frei. Ebenso wie der Anblick der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi, ist der Anblick des geöffneten Himmels charakteristisch für die Zeit des Christentums. Im Judentum war der Zugang zu Gott verschlossen, denn Gott war hinter dem Vorhang verborgen. Jetzt ist der Blick in den geöffneten Himmel frei.
f) Der Sohn des Menschen steht zur Rechten Gottes
Hier fallen drei Dinge auf. Erstens spricht Stephanus nicht von „Jesus“, sondern er nennt ihn den „Sohn des Menschen“. Das ist ungewöhnlich, denn obwohl der Herr sich selbst in den Evangelien häufig so nennt, wird Er an keiner anderen Stelle in der Apostelgeschichte so bezeichnet.3 Zweitens wird die „Rechte Gottes“ erwähnt. Drittens sitzt Er nicht zur Rechten Gottes, sondern Er steht dort. Das ist ebenso ungewöhnlich, denn an allen anderen Stellen wird davon gesprochen, dass Christus im Himmel sitzt.
Im Einzelnen:
1. Der Ausdruck „Sohn des Menschen“ hat eine doppelte Bedeutung:
- Er zeigt, dass der Sohn Gottes wirklicher Mensch ist – von einer Frau geboren. So tief hat Er sich erniedrigt. Doch jetzt ist Er im Himmel, und das ist ein weiteres Merkmal der christlichen Zeit. Gott ist in der Person des Heiligen Geistes auf der Erde, und Christus ist als wahrer Mensch im Himmel.
- Es handelt sich um einen Titel, der anzeigt, dass der Herr Jesus einmal als Mensch über sein Volk, über die Nationen und über alle Werke der Hände Gottes regieren wird (Ps 8,5–7; Dan 7,13; Ps 8,5–9). Der Herr Jesus nennt sich in den Evangelien sehr oft „Sohn des Menschen“, und zwar dann, wenn Er von seiner Erniedrigung, aber auch von seiner kommenden Herrlichkeit in seinem Reich und seiner Regierung spricht.
2. Er befindet sich zur Rechten Gottes: Davon spricht die Bibel wiederholt. Einerseits hat Christus sich selbst zur Rechten Gottes gesetzt (z. B. Mk 16,19). Das konnte Er tun, weil Er selbst Gott ist. Andererseits wurde Ihm dieser Platz von Gott gegeben (Ps 110,1). Die Rechte Gottes ist ein bevorrechtigter Platz des Segens und der Ehre. Dieser Platz steht ausschließlich Christus zu. Er hat sich jetzt gesetzt zur „Rechten des Thrones Gottes“ (Heb 12,2). Erst in Zukunft wird Christus als wahrer Sohn Davids auf seinem eigenen Thron (dem „Thron des Lammes“) sitzen (Off 22,1.2) und regieren.
3. Die Tatsache, dass der Sohn des Menschen hier steht und nicht sitzt, wirft die Frage auf, warum es hier so gesagt wird. Das Neue Testament spricht sieben Mal davon, dass Christus sich zur Rechten Gottes befindet. Zweimal heißt es, dass Er dort „ist“ (Röm 8,34; 1. Pet 3,22). Dreimal lesen wir, dass Er dort „sitzt“ (Mk 16,19; Kol 3,1; Heb 10,12) und zweimal „steht“ Er dort (Verse 55 und 56). Es ist klar, dass „sitzen“ und „stehen“ hier einander nicht widersprechen. Es ist ebenso klar, dass es nicht um eine zeitliche Abfolge in dem Sinne geht, dass Christus nach seiner Himmelfahrt zuerst zur Rechten Gottes stand und sich dann gesetzt hat. Er saß sofort da, und zwar „auf immerdar“, nachdem Er in die Herrlichkeit zurückkehrt war (z. B. Ps 110,1; Heb 10,12). Wir wollen folgendes bedenken:
- Wenn wir an das „Sitzen“ denken, geht es darum zu zeigen, dass sein Werk so vollbracht ist, dass ihm nichts hinzuzufügen ist.
- Wenn es um sein „Stehen“ geht, ist der Schwerpunkt ein anderer. Die erste Bedeutung berührt unser Herz. Der Herr steht hier, um seinen leidenden und sterbenden Knecht in die Herrlichkeit aufzunehmen. Darin muss für Stephanus ein besonderer Tost und eine besondere Ermutigung gelegen haben – wie es für jeden von uns eine Motivation ist. Der Herr steht sozusagen im Himmel bereit, um heimgehende Gläubige zu empfangen. Einige Ausleger sehen darin ebenfalls einen Hinweis darauf, dass Christus zu diesem Zeitpunkt immer noch bereitstand, um zu seinem irdischen Volk zurückzukehren, um ihnen „Zeiten der Erquickung“ (das ist das tausendjährige Reich) zu bringen (Apg 3,19.20). Sie sehen in der Aussage des Stephanus einen letzten Appell an das jüdische Volk, Buße zu tun und Ihn anzunehmen. Es ist dabei allerdings zu bedenken, dass Gott es so führt, dass Stephanus keinen konkreten Appell mehr zur Buße gibt (oder geben kann). Deshalb scheint mir das „Stehen“ in seiner zweiten Bedeutung anzuzeigen, dass Christus bereitsteht, das Gericht über sein Volk auszuüben, dass seiner Herrschaft als Sohn des Menschen vorausgeht. Dieses Gericht wird kommen, sobald die Zeit der Gnade zu Ende ist.
Es ist hier das erste Mal, dass ein Mensch auf der Erde den verherrlichen Christus im Himmel sieht. Später sieht Paulus ihn auf dem Weg nach Damaskus. Schließlich ist es dem alten Johannes auf der Insel Patmos gestattet. Wir finden darin drei Aspekte seiner Wiederkunft. Erstens ist der Himmel offen, um uns zu empfangen, wenn wir diese Erde verlassen – sei es durch den Tod oder durch die Entrückung (Stephanus). Zweitens ist der Himmel offen, um dem Überrest Israels den zu zeigen, den sie durchstochen haben (Saulus). Drittens ist der Himmel offen, wenn der Richter auf die Erde kommt, um gerecht zu richten (Johannes).
Stephanus wird gesteinigt
Die Wut und der Hass der Menschen steigerten sich noch. Mit lauter Stimme schrien seine Feinde, sie hielten sich die Ohren zu und stürzten einmütig auf ihn los. Es wird deutlich, dass sie einfach nichts mehr hören wollten, deshalb der Tumult und die verschlossenen Ohren. Besonders die letzten Worte von Stephanus werden ihnen bekannt vorgekommen sein. Nur wenige Woche vorher hatte ein anderer gesagt: „Von nun an aber wird der Sohn des Menschen sitzen zur Rechten der Macht Gottes“ (Lk 22,69). Und auch dort war ein Ausbruch von Hass und blinder Wut die Folge. Hier nun bezeugte jemand, dass er gerade den im Himmel stehen sah, den die Juden gekreuzigt hatten, und das war für sie der Höhepunkt der Lästerung. Wer die Gnade nicht annehmen will, will auch von der Herrlichkeit nichts hören. Und nicht nur das: Stephanus hatte ja nicht nur von der Herrlichkeit Gottes gesprochen (was für den Himmel normal ist), sondern von dem Sohn des Menschen, der dort zur Rechten Gottes stand. Es war den Juden völlig klar, dass er damit den Messias meinte, den sie abgelehnt hatten.
In seltener Einmütigkeit stürzten sie sich auf Stephanus, um kurzen Prozess mit ihm zu machen – und das, ohne ihn offiziell verurteilt zu haben. Es ist eine traurige Einmütigkeit (vgl. Apg 19,29), die im Kontrast zu der Einmütigkeit der Gläubigen steht, die gerade in der Apostelgeschichte mehrfach betont wird. Wir müssen immer davon ausgehen, dass Feinde Christi sich in ihrem Hass gegen die Jünger des Herrn Jesus einig sein – so groß ihre Differenzen ansonsten sein mögen. Ihre Wut war so groß, dass sie ihn nicht einmal den Römern überlieferten, sondern selbst Hand anlegten, was ihnen von den Römern untersagt war (Joh 18,31). Es bleibt eine Frage, warum sie hier mit Stephanus in diesem Punkt anders handelten als mit dem Herrn Jesus. Einige Ausleger geben als Begründung an, dass der römische Landpfleger sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Jerusalem befand. Andere schreiben, dass Pilatus kurz vorher als Landpfleger abgesetzt wurde und die Juden sich deshalb frei fühlten, Stephanus selbst zu töten. Es mag so sein oder nicht. Allerdings erscheint es mir so, dass wir dahinter unbedingt die Hand Gottes erkennen müssen, der es bewusst so führte, dass Stephanus einen anderen Tod starb als sein Sohn. Unser Herr musste – um die Weissagungen zu erfüllen – den Römern überliefert werden und nach römischer Todesart an einem Kreuz sterben (5. Mo 21,23; Gal 3,13). Stephanus hingegen wurde nach jüdischer Art und Weise gesteinigt. Sein Tod sollte sich – bei allen vorhandenen Parallelen – von dem des Herrn Jesus deutlich unterscheiden.
Um den äußeren Schein der Frömmigkeit zu wahren, brachten sie Stephanus nicht auf der Stelle um, sondern führten ihn aus der Stadt. So war es im Alten Testament vorgeschrieben (vgl. 3. Mo 24,14; 4. Mo 15,35). Die Heuchelei dieser Menschen schreit förmlich zum Himmel.
Saulus
An dieser Stelle wird – fast wie zufällig – zum ersten Mal der Name eines jungen Mannes erwähnt, der dabeistand, um auf die Kleider der Mörder aufzupassen. Diese Zeugen waren es, die die ersten Steine werfen sollten (vgl. 5. Mo 17,6.7). Es waren die falschen Zeugen, die gegen Stephanus aufgestellt worden waren (Apg 6,13), die nun mit der Steinigung begannen. Und doch wird der Name Saulus hier nicht zufällig genannt. Gott führte es so, dass dieser Saulus – dem wir später unter dem Namen Paulus begegnen4 – dabei war. Es ist, als ob der Heilige Geist uns hier sagen möchte: Merkt euch diesen Namen, er wird im weiteren Verlauf der Geschichte noch bedeutungsvoll sein.
Paulus selbst wird später davon sprechen, dass er an der Steinigung des Stephanus beteiligt war, weil er auf die Kleider aufpasste (Apg 22,20). Es fällt auf, dass er in dieser Ansprache von dem Blut „deines (Gottes) Zeugen Stephanus“ spricht. Stephanus war ein treuer Zeuge Gottes, der bereit war, sein Leben zu lassen. Das erkannte Paulus später an, während er hier auf die Kleider der falschen Zeugen aufpasste.
Selbst wenn Saulus hier ein Jüngling genannt wird, war er nicht ein junger Mann in unserem Sinn. Man geht davon aus, dass er zu diesem Zeitpunkt ca. 30 Jahre alt war. Welche Rolle er ansonsten bei der Steinigung wirklich spielte, wissen wir nicht genau. Er spricht später davon, dass er unwissend und im Unglauben handelte (1. Tim 1,13). Das minderte seine Schuld nicht, war jedoch ein Grund für Gottes Barmherzigkeit. Es ist zweifelsfrei, dass er mit dem Mord einverstanden war (Kap 8,1). Ob er die Rede des Stephanus komplett gehört hat, können wir nicht sicher sagen – selbst wenn es gut möglich ist. Ob er – wie einige Ausleger vermuten – ein Mitglied des hohen Rates (des Synedriums) war, ist ebenfalls nicht klar ersichtlich. Jedenfalls hatte er eine gewisse Funktion, schien bekannt zu sein und willigte ausdrücklich in den Mord ein.
Die Juden hatten zuerst die Propheten getötet, die Gott ihnen gesandt hatte. Dann hatten sie dem Herrn Jesus – dem Sohn – das Leben genommen und Ihn zum Weinberg hinausgeworfen. Nun töteten sie den letzten Zeugen Gottes an sein irdisches Volk – und damit das Zeugnis des Geistes Gottes. Doch da, wo Israel (die Juden) das Zeugnis völlig zurückweist, beginnt Gottes großartiger Plan, Saulus zu berufen und als Zeugen der christlichen Botschaft für die Nationen zu gebrauchen. Es ist ein Wunder der Gnade, dass Gott gerade diesen Mann auswählte, später Apostel der Nationen zu werden.
Die letzten Worte und der Tod des Stephanus
„Sie steinigten Stephanus“. Eine kurze Aussage, und doch steckt viel dahinter. Eigentlich heißt es, „sie fuhren fort, ihn zu steinigen“. Es war kein plötzlicher Tod, sondern der Vorgang dauerte einige Zeit, während die Steine auf ihn niederprasselten. Es war ein qualvoller Vorgang, der nur langsam zum Tod führte.
Doch was tat Stephanus? Von unserem Herrn lesen wir, dass Er „gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“ (1. Pet 2,23). Genau das tat Stephanus. Wir lesen nicht, dass er sich gewehrt hätte. Ohne Frage spürte er den Schmerz, den die Steine verursachten. Ohne Frage spürte er die schwindenden Kräfte. Doch davon sprach er nicht. Noch einmal redete der treue Zeuge. Doch er hatte kein direktes Wort mehr an seine Mörder, sondern sprach mit seinem Herrn, den er als „Herr Jesus“ anredete.5 Er erkannte seine Autorität an und wusste zugleich, dass Er sein Retter war. Beim zweiten Mal sagte er nur „Herr“.
Er hatte noch zwei Bitten, die er an seinen Herrn im Himmel richtete, der bereitstand, ihn aufzunehmen.
a) Die erste Bitte lautet: „Nimm meinen Geist auf“. Stephanus konnte nicht wie sein Meister sagen: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Der Herr konnte sein Leben von sich aus lassen. Das konnte Stephanus nicht. Deshalb bat er, dass sein Geist aufgenommen würde. Er wollte „ausheimisch von dem Leib“ und „einheimisch bei dem Herrn“ sein (2. Kor 5,8). Er wusste, dass sein Leib bald begraben werden würde. Doch er wusste auch, dass sein Geist bei seinem Heiland und Herrn leben würde. Wie gut können wir seine Bitte verstehen.
b) Die zweite Bitte lautet: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu“. Wie laut er das erste Gebet gesprochen hat, wissen wir nicht. Der Herr hat es so oder so gehört. Doch bei seinem zweiten Gebet kniete er nieder und sprach ausdrücklich „mit lauter Stimme“. Das Gebet für seine Feinde sollten alle hören. Wie nahe war Stephanus seinem Meister und wie folgte er in seinen Fußspuren. Er ertrug nicht nur bitteres Unrecht und Leid, sondern er konnte für seine Feinde beten, wie sein Herr es getan hatte (Lk 23,34). Durch den Aufblick zu seinem Herrn im Himmel wurde er trotz der prasselnden Steine in sein Bild verwandelt, so wie jeder Gläubige verändert wird, der mit Christus in der Herrlichkeit beschäftigt ist. Allerdings fügte er nicht hinzu: „denn sie wissen nicht, was sie tun“. Sie wussten es sehr wohl.
Beide Gebete wurden erhört. Das erste auf direkte Art und Weise. Stephanus entschlief. Es heißt nicht, dass er starb (obwohl das der Fall war), sondern der Geist Gottes gebraucht diesen Ausdruck, der hier von Ruhe und Frieden spricht (wörtlich heißt es: „er schlief ein“) – und das ausgerechnet in dieser Situation des gewaltsamen Todes. „Entschlafen“ ist immer ein passender Ausdruck, wenn ein Gläubiger zu seinem Herrn (heim)geht. Wir finden ihn öfter in Verbindung mit dem Tod des Gläubigen (Joh 11,11; Apg 13,36; 1. Kor 7,39; 11,30; 15,6.51; 1. Thes 4,13–15; 2. Pet 3,4). 6 Gemeint ist, dass der Körper schläft, während – bei dem Gläubigen – Geist und Seele beim Herrn sind (Lk 23,43; Phil 1,23; Off 2,7). An keiner Stelle der Bibel ist von einem „Seelenschlaf“ die Rede.
Und die zweite Bitte? Gibt es darauf auch eine Antwort? Ohne Frage werden sich die Mörder vor Gott verantworten müssen. Für das Volk der Juden insgesamt gab es von diesem Zeitpunkt an bis auf weiteres keine Vergebung. Und doch – es gibt eine Antwort: Sie liegt in der Bekehrung von Saulus. Der Kirchenvater Augustinus hat es auf eine kurze Formel gebracht: „Hätte Stephanus nicht gebetet, hätte die Kirche keinen Paulus gehabt“. Selbst wenn das Volk als Ganzes nun endgültig für eine Zeit beiseitegesetzt ist, rettet Gott immer noch Einzelne aus diesem Volk. Saulus ist dafür ein herausragendes Beispiel.
Christus und Stephanus
Wir fassen am Ende einige Parallelen und die Unterschiede zwischen dem Tod des Herrn Jesus und dem Tod des Stephanus zusammen:
a) Parallelen zwischen dem Tod Christi und dem Tod Stephanus:
- Beide werden wegen Lästerung verklagt
- Gegen beide treten falsche Zeugen auf
- Beide erwähnen den Sohn des Menschen im Himmel
- Beide sterben unschuldig
- Beide sterben außerhalb der Stadt
- Beiden bitten Gott um Vergebung für ihre Mörder
- Beide werden von gottesfürchtigen Männern bestattet
b) Die Unterschiede sind jedoch deutlich gravierender als die Parallelen:
- Christus stirbt nach Gottes Plan an einem Kreuz. Stephanus wird gesteinigt.
- Für Stephanus ist der Himmel offen, und er sieht die Herrlichkeit Gottes. Für Christus verfinstert sich die Sonne, und der Himmel bleibt Ihm in den Stunden der Finsternis verschlossen.
- Der Tod des Stephanus ist ein Märtyrertod. Der Tod Christi ist ein Sühnungstod. Er wird ein Fluch für andere und stirbt stellvertretend für alle, die an Ihn glauben.
- Christus gibt seinen Geist selbst auf. Stephanus bittet darum, dass sein Geist aufgenommen wird.
- Christus vollbringt das Werk, das Gott ihm gab. Stephanus entschläft.
Fußnoten
- 1 Auf den Unterschied „voll Heiligen Geistes“ und „erfüllt mit Heiligem Geist“ wollen wir im Rahmen dieser Abhandlung nicht näher eingehen. Es gibt einen solchen Unterschied, der allerdings nicht sehr gravierend ist. „Voll Heiligen Geistes“ zu sein, scheint eher ein dauerhafter Zustand zu sein, in dem ein Mensch ganz und gar vom Geist geleitet wird. Mit „Heiligem Geist erfüllt zu sein“ hat hingegeben an den meisten Stellen mit einer konkreten Aufgabe zu tun, die erfüllt wird.
- 2 Das Wort, das der Schreiber Lukas hier benutzt, kommt außer in seinem Evangelium (2 Mal) und der Apostelgeschichte (10 Mal) nur noch in 2. Korinther 3,7 und 13 vor. Es weist darauf hin, dass man etwas sehr beharrlich und angespannt tut, d. h. jemanden oder etwas fest und gespannt anschaut. In 2. Korinther 3,18 wird für „anschauen“ ein anderes Wort gebraucht.
- 3 Es ist in der Tat auffallend, dass dieser Titel weder in der Apostelgeschichte noch in den Briefen vorkommt (außer in einem Zitat aus dem Alten Testament in Hebräer 2,6). Nur in der Offenbarung finden wir ihn noch in Kapitel 1,13 und 14,14 in einer leicht abgewandelten Form.
- 4 Saulus war sein jüdischer Name (abgeleitet von Saul), während Paulus sein römischer Name war. In Apostelgeschichte 13,9 lesen wir: „Saulus aber, der auch Paulus heißt“. Das macht deutlich, dass die Redewendung „vom Saulus zum Paulus werden“ biblisch nicht begründbar ist. Saulus war nicht sein „alter“ und Paulus nicht sein „neuer“ Name. Er trug beide Namen. Gott hat ihm nicht den Namen „Paulus“ gegeben.
- 5 Das typisch christliche Gebet wendet sich ohne Frage an den „Gott und Vater unseren Herrn Jesus Christus“, der jetzt unser Gott und unser Vater ist. Doch es gibt hinreichend Beispiele im Neuen Testament, die zeigen, dass wir in bestimmten Situationen und mit bestimmten Anliegen nicht zu Gott unserem Vater, sondern zu dem Herrn Jesus beten. Allerdings finden wir im Neuen Testament kein Beispiel für ein Gebet zum Heiligen Geist.
- 6 Dabei verkennen wir nicht, dass der Hauptgedanke bei dem Wort „entschlafen“ der ist, dass der „Entschlafene“ (der „Eingeschlafene“) wieder aufwachen wird. Es gibt eine Auferstehung – und zwar für die Glaubenden wie für die Ungläubigen. Deshalb wird der Ausdruck „entschlafen“ im Neuen Testament tatsächlich nicht nur für Gläubige, sondern ebenso für die Menschen allgemein verwandt (z. B. 1. Kor 7,39; 2. Pet 3,4). Wenn das Neue Testament hingegen vom „Tod“ des Menschen (des Gläubigen und des Ungläubigen) spricht, so verbindet sich damit der Gedanke an Trennung. Der leibliche Tod trennt den Körper des Menschen von seinem Geist und seiner Seele. Der zweite Tod ist die ewige Trennung von Gott.