Betrachtung über das Buch Hiob (Synopsis)
Kapitel 3-31
Das was der von Satan entfesselte Sturm nicht zu tun vermochte, wird durch das Mitgefühl seiner Freunde zuwege gebracht. Armes Menschenherz! Die Rechtschaffenheit Hiobs und sogar seine Geduld waren erwiesen, und Satan hatte nichts mehr zu sagen. Gott allein kann aber erforschen, wie das Herz wirklich vor Ihm steht, und das Fehlen alles Eigenwillens, eine völlige Übereinstimmung mit dem Willen Gottes, eine absolute Unterwürfigkeit wie die des Christus – dieses alles konnte Gott allein erproben und auf diese Weise die Nichtigkeit des Menschenherzens vor Ihm bloßstellen. Gott tat dies mit Hiob und offenbarte gleichzeitig, dass Er in solchen Fällen zum Wohl der von Ihm geliebten Seele in Gnade handelt.
Wenn wir die Sprache des Geistes Christi in den Psalmen vergleichen, so werden wir finden, dass die Wertschätzung der Umstände beinahe mit denselben Worten ausgedrückt wird; aber anstatt bitterer Klagen und an Gott gerichteter Vorwürfe finden wir dort die Unterwürfigkeit eines Herzens, das anerkennt, dass Gott in allen seinen Wegen vollkommen ist. Hiob war rechtschaffen, aber er begann, dies zu seiner Gerechtigkeit zu machen, was offensichtlich beweist, dass er niemals wirklich in der Gegenwart Gottes gewesen war. Die Folge davon war, dass er, obwohl er richtiger urteilte als seine Freunde und ein Herz zeigte, das viel mehr als sie empfand, was Gott ist, Gott Ungerechtigkeit und das Begehren zuschrieb, ihn ohne Ursache zu bedrängen (siehe Kap 19; Hiob 23, 3. 13; 13, 15–18; 16, 12). Wir finden auch in Kapitel 29, dass sein Herz sich selbstgefällig seines rechtschaffenen und wohltätigen Wandels entsann und sich selbst lobte und seine Selbstliebe damit nährte. „Wenn das Auge mich sah, so legte es Zeugnis von mir ab.“ Gott führte ihn aber dazu zu sagen: „Nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich.“ Mit diesen Kapiteln (29, 30, 31), die seine gute Meinung über ihn selbst zum Ausdruck bringen, beendet Hiob seine Rede; er hatte sein ganzes Herz ergossen. Er hatte sich selbst befriedigt; die Gnade Gottes hatte in ihm gewirkt, und zwar in einer wunderbaren Weise; durch die Treulosigkeit des Menschenherzens aber und weil er nicht in der Gegenwart Gottes war, die diese entdeckt, ergab die gegenwärtige Wirkung nur, dass er schön war in seinen Augen. Wenn er in Kapitel 9 die Ungerechtigkeit des Menschen bekennt (denn wer kann sie abstreiten, insbesondere welcher bekehrte Mensch?), so geschieht das in Bitterkeit des Gemüts, denn es nützt nichts zu versuchen, bei solch einem Gott gerecht zu sein. Kapitel 6 wie auch seine ganze Rede beweisen, sei es der Hochmut seines Herzens, der es nicht ertragen konnte, von denen, die seine Größe gekannt hatten, in solch einem Zustand gesehen zu werden, in einem Zustand, den der Hochmut schon aus Hartnäckigkeit allein ertragen hätte, oder sei es das Mitgefühl, das den Stolz schwächte und ihn dem vollen Bewusstsein seines Zustandes preisgab, dass jedenfalls die Anwesenheit und die Rede seiner Freunde das Mittel waren, das alles, was in seinem Herzen war, an den Tag zu bringen. Wir sehen auch in Kapitel 30, dass der Hochmut seines Herzens entdeckt wurde.
Was die Freunde Hiobs anbetrifft, so bedürfen sie keiner weitläufigen Bemerkungen. Sie bestehen auf der Lehre, dass die irdische Regierung Gottes ein volles Maß und die Kundmachung seiner Gerechtigkeit ist, wie auch der Gerechtigkeit des Menschen, die ihr entsprechen sollte. Diese Lehre beweist eine völlige Unkenntnis des Wesens der Gerechtigkeit Gottes und seiner Wege, wie auch das Fehlen aller wahren Erkenntnis dessen, was Gott ist oder was der Mensch als Sünder ist. Wir sehen auch nicht, dass die Empfindungen ihrer Herzen durch Gemeinschaft mit Gott beeinflusst waren. Ihre Erörterung ist eine falsche und kalte Schätzung der genauen Gerechtigkeit seiner Regierung als einer angemessenen Erweisung seiner Beziehung zum Menschen, obwohl sie auch viele wahre alltägliche Dinge sagen, die sogar der Geist Gottes für richtig hinnimmt. Obwohl Hiob in der Wertschätzung seiner selbst nicht vor Gott stand, so urteilt er in dieser Hinsicht richtig. Er zeigt, dass, obwohl Gott seine Mißbilligung der Bösen zeigt, die Umstände, in denen sich diese oft befinden, die Beweisgründe seiner Freunde umwerfen. In Hiob sehen wir ein Herz, das, obwohl es voller Empörung ist, sich auf Gott verlässt und sich freuen würde, Ihn zu finden. Wir sehen auch, dass er sich durch einige wenige Worte von seinen Freunden losringen kann, die, wie er genau empfindet, nichts von seinem Fall verstehen noch von dem Handeln Gottes; er wendet sich zu Gott (obwohl er Ihn nicht findet und obwohl er klagt, dass Seine Hand schwer auf ihm lastet), wie in diesem schönen und ergreifenden 23. Kapitel und in seinen Erörterungen der göttlichen Regierung in den Kapiteln 24 und 21. Das besagt, dass wir einen solchen sehen, der geschmeckt hat, dass Gott gnädig ist, dessen Herz, obwohl verwundet und ernüchtert, doch jene Eigenschaften für Gott in Anspruch nimmt, weil es Ihn kennt, Eigenschaften, die die kalten Überlegungen seiner Freunde Ihm nicht zuschreiben konnten: ein Herz, das sich bitter über Gott beklagt, das aber weiß, dass, könnte es sich Ihm nahen, es Ihn so finden würde, wie es behauptet hatte, dass Er sei, nicht aber als ein Solcher, wie sie von Ihm gesprochen hatten oder wie sie selbst waren – wenn er Ihn finden könnte, würde er nicht sein wie sie, Er würde ihm Worte in den Mund legen, es war ein Herz, das empört die Bezichtigung der Heuchelei zurückwies; denn Hiob war sich dessen bewusst, dass er zu Gott aufschaute, und dass er Gott gekannt und in Beziehung zu Ihm gehandelt hatte, obwohl Gott es für recht befand, seiner Sünde zu gedenken. Diese geistlichen Zuneigungen Hiobs hinderten ihn aber nicht daran, das Bewusstsein von seiner Redlichkeit zu einem Mantel der Selbstgerechtigkeit zu machen, der Gott vor ihm verbarg und sogar ihn selbst vor sich verbarg. Er behauptet, er wäre gerechter als Gott (Kap. Hiob 10, 7. 8; 16, 14–17; 23, 11–13; 27, 2–6).