Botschafter des Heils in Christo 1877

Das Werk eines Evangelisten (Apg 16,13–34) (Schluss)

„Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf aufgeweckt ward und die Türen des Gefängnisses geöffnet sah, zog er das Schwert und wollte sich toten, indem er meinte, die Gefangenen wären entflohen“ (V 27). Dies beweist sehr klar, dass das Erdbeben mit allen dasselbe begleitenden Umständen das harte Herz des Kerkermeisters nicht berührt hatte. Er vermutete natürlich, als er die Türen geöffnet sah, dass die Gefangenen entflohen wären. Er konnte sich nicht denken, dass eine Anzahl Gefangener ruhig im Kerker sitzen würde, wenn die Türen geöffnet und ihre Bande gelöst waren. Und was sollte dann aus ihm werden, wenn die Gefangenen entflohen waren? Wie hatte er vor die Obrigkeit treten können? Unmöglich; alles andere, nur das nicht; der Tod, selbst durch eigene Hand, war dem vorzuziehen.

So hatte der Teufel diesen verhärteten Sünder bis an den Rand des Abgrundes gebracht und war eben im Begriff, ihm den letzten verhängnisvollen Stoß zu geben und ihn dann für immer den ewigen Flammen der Hölle zu überliefern, als eine Stimme der Liebe sein Ohr berührte. Es war die Stimme Jesu in dem Mund seines Dieners – eine Stimme zarten und tiefen Erbarmens. „Tue dir nichts Übles.“ Dieser Stimme vermochte er nicht zu widerstehen. Ein verhärteter Sünder konnte einem Erdbeben begegnen, er konnte dem Tod selbst entgegentreten; aber der mächtigen, schmelzenden Macht der Liebe vermochte er nicht zu widerstehen. Das härteste Herz muss dem moralischen Einfluss der Liebe nachgeben. „Er aber forderte Licht und sprang hinein; und zitternd geworden fiel er vor Paulus und Silas nieder. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, auf dass ich errettet werde?“ (V 29–30) Die Liebe vermag das härteste Herz zu brechen; und sicher waren jene Worte: „Tue dir nichts Übels“ – Worte der Liebe, die von den Lippen eines Mannes kamen, dem er einige Stunden vorher so viel Übels getan hatte.

Und man beachte es wohl, dass von Paulus nicht ein Wort des Vorwurfs oder Tadels gegen den Kerkermeister ausgesprochen wurde. Dies war wahrhaft Christus ähnlich; es war der Weg der göttlichen Gnade. Wenn wir die Evangelien durchforschen, so finden wir nie, dass der Herr dem Sünder Vorwürfe macht. Er hat Tränen des Kummers: Er hat rührende, zärtliche Worte der Gnade, aber keine Vorwürfe, keinen Tadel, keine Verweise für den armen, unglücklichen Sünder. Wir können jetzt nicht dabei verweilen, die vielen Beweise für diese Behauptung aufzuzählen, der Leser braucht sich nur zu den Evangelien zu wenden, um ihre Wahrheit bestätigt zu sehen. Er denke z. B. an den verlorenen Sohn, an Judas, an den sterbenden Räuber – bei allen diesen hören wir kein tadelndes Wort.

So ist es stets bei dem Herrn; und so war es auch bei Paulus. Nicht ein Wort über die harte Behandlung, nicht ein Wort über das Werfen ins innerste Gefängnis und den Stock. „Tue dir nichts Übles.“ Und dann: „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden, du und dein Haus“ (V 31).

Das ist die reiche und kostbare Gnade Gottes; sie scheint in dieser Szene mit ungewöhnlichem Glänze. Sie hat ihre Wonne daran, verhärtete Sünder aufzunehmen, ihre harten Herzen zu erweichen und zu besiegen, und sie zu dem Sonnenlicht der ewigen und völligen Errettung zu führen; und sie tut dies alles in einer ihr eigentümlichen Weise. Wenn Gott einen verlorenen Sünder errettet, so tut Er es in einer Weise, die völlig ans Licht stellt, dass sein ganzes Herz bei der Sache ist. Es ist seine Freude, einen Sünder zu retten, selbst den vornehmsten; und Er tut es auf eine seiner würdigen Weise.

Und nun lasst uns die Frucht von all diesem betrachten. Die Bekehrung des Kerkermeisters war deutlich zu sehen. Gerettet vom Rand der Hölle, wurde er in die Atmosphäre des Himmels gebracht. Bewahrt vor Selbstvernichtung wurde er in die Sphäre der Seligkeit Gottes geführt; und die Beweise dafür sind so klar und deutlich, wie man sie nur wünschen kann. „Und der Kerkermeister nahm sie in jener Stunde der Nacht zu sich, wusch ihnen die Striemen ab und ward getauft, er und alle die Seinen sogleich. Und er führte sie in sein Haus, setzte ihnen einen Tisch vor und frohlockte, an Gott glaubend, mit seinem ganzen Haus“ (V 33–34).

Welch eine merkwürdige Veränderung! Der gefühllose Kerkermeister ist ein gefühlvoller und freigebiger Wirt geworden „Wenn jemand in Christus ist, – eine neue Schöpfung, das Alte ist vergangen, stehe, alles ist neu geworden.“ Wie klar können wir jetzt sehen, dass Paulus Recht hatte, als er sich das Öffnen der Vorsehung nicht zu Nutze machte! Wie viel besser und gesegneter war es, auf ein Öffnen der Gnade zu warten! Es würde ein ewiger Verlust für ihn gewesen sein, wenn er durch die geöffnete Tür hinausgegangen wäre. Wie viel gesegneter war es, durch dieselbe Hand hinausgeleitet zu werden, die ihn hereingeworfen hatte – eine Hand, die einst das Werkzeug der Gefühllosigkeit und Sünde war und jetzt das Werkzeug der Gerechtigkeit und Liebe! Welch ein herrlicher Triumph! Wie wenig hatte der Teufel solch ein Ergebnis von der Einkerkerung der Diener des Herrn vorhergesehen! Er war gänzlich überlistet, das Blatt hatte sich vollständig gegen ihn gewandt. Er dachte, das Evangelium zu hindern, und siehe, er wurde benutzt, es auf eine herrliche Weise zu fördern. Er hatte gehofft, von zweien der Diener Christi befreit zu werden und siehe, er verlor einen der seinigen. Christus ist stärker als Satan; und alle, die ihr Vertrauen auf Ihn setzen und nach seinen Gedanken einhergehen, werden sicherlich hier an den Triumphen seiner Gnade Teil nehmen und dort für immer leuchten in dem Glanz seiner Herrlichkeit.

Hiermit schließen wir unsere Betrachtung über „das Werk eines Evangelisten.“ Solcher Art sind die Szenen, durch welche er zu gehen hat – solcher Art die Fälle, mit denen er in Berührung kommt. Wir haben gesehen, wie der ernste Sucher befriedigt, der falsche Bekenner zum Schweigen gebracht und der verhärtete Sünder errettet wurde. Möchten alle, die sich mit dem Evangelium der Gnade Gottes beschäftigen, von Gott selbst unterwiesen sein, den verschiedenen Seelenzuständen, die sie auf ihrem Weg antreffen, auf die rechte Weise zu begegnen! Möchten ihre Herzen stets im Licht der Gegenwart Gottes weilen und von den mannigfachen, verderblichen Einflüssen des Feindes befreit bleiben!

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