Botschafter des Heils in Christo 1874
Das fälschlich beruhigte Gewissen (Schluss)
Freilich vernimmt unser Bruder die Behauptung, dass alles in Ordnung geschehen müsse und es daher nötig sei, jemandem vorher die Leitung der Versammlung zu übertragen; aber er antwortet darauf mit den Worten der Heiligen Schrift: „Gott ist nicht ein Gott der Unordnung, sondern des Friedens, wie in allen Versammlungen der Heiligen.“ Er muss also nach jener Behauptung folgern, dass die Christen, indem sie es für nötig erachten, selbst eine Ordnung zu schaffen, dadurch den Beweis liefern, dass sie keine Versammlung bilden, oder dass der Heilige Geist in unseren Tagen die Ordnung nicht mehr handhabt. Wie aber könnte er letzteres voraussetzen, da er nach wie vor die Bibel einfach als die Offenbarung des göttlichen Willens betrachtet!
sein Erstaunen wird indes den höchsten Gipfel erreichen, wenn er vernimmt, dass die hier oder dort versammelten Gläubigen einen Prediger angestellt haben, um jeden Sonntag zu predigen, zu beten und zu danken, das Abendmahl zu bedienen und die Taufhandlungen zu verrichten, weil er durch ein solches Verfahren den Standpunkt verdickt sieht, auf welchen nach der Heiligen Schrift jeder Gläubige berufen ist. Findet er doch in Offenbarung 1,6 und 5,10, dass alle Kinder Gottes „zu Königen und Priestern berufen sind“, dass alles, was zum alten Bunde gehörte, hinweggetan ist und jeder priesterliche Dienst aufgehört hat, dass, nach Hebräer 10,19, alle „Freimütigkeit haben zum Eintritt in das Heiligtum“, und schließlich, dass Petrus in seinem ersten Brief sagt: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen verkündigt der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht.“ – Zwar liest er auch in dem Wort Gottes, dass der Herr einigen Gliedern der Versammlung Gaben verliehen hat, welche die anderen nicht besitzen, dass Gott „etliche gegeben hat als Apostel, und etliche als Propheten, und etliche als Evangelisten, und etliche als Hirten und Lehrer zur Vollendung der Heiligen: für das Werk des Dienstes, für die Auferbauung des Leibes Christi“ (Eph 4,11–12). Allein nirgends findet er, dass solchen allein das Reden zukomme, und nirgends lieft er, dass sie durch menschliche Anordnung geweiht oder ordiniert werden müssen. Vielmehr gibt die Bibel als die alleinige Richtschnur unseres Handelns ganz entgegengesetzte Anweisungen. Dort findet er, dass sie Brüder unter Brüdern sein sollen, dass alle Christen eins sind und dass, da Christus allein der Herr seiner Versammlung ist, keiner unter ihnen der Herr oder der Meister sein darf. Dort erfährt er, dass die Gaben keinen Vorzug vor anderen Gläubigen verleihen, sondern dass eine Gabe ohne die andere nicht bestehen und „das Auge nicht zu der Hand sagen kann: Ich bedarf deiner nicht!“ sondern dass vielmehr die Glieder, die schwächer zu sein scheinen, notwendig sind. Mit Betrübnis erblickt er die Christen unserer Tage auf dem Boden der einstigen Galater, zu denen Paulus sagen musste: „O unverständige Galater! wer hat euch bezaubert? Seid ihr so unverständig? Die ihr im Geist angefangen habt, wollt ihr nun im Fleisch vollenden?“
Ja, geliebte Brüder, das ist der Zustand, worin ihr euch befindet. Das Wort Gottes hat euch gerichtet. In eurem Tun ist durchaus keine Demütigung zu finden. Als ihr euch von dem Bösen trenntet, habt ihr keineswegs eure eigene Schuld anerkannt; ihr habt nicht anerkannt, dass auch ihr an der allgemeinen Verirrung, an dem Abfall Anteil habt. Denn wenn dieses der Fall gewesen wäre, so würdet ihr sicher keine neue Gemeinde gegründet haben. Nach der Meinung eurer Herzen habt ihr alles verbessern wollen, um zu zeigen, dass ihr, wenn ihr zurzeit eurer Väter gelebt hättet, anders gehandelt haben würdet. Ihr stellt euch grundsätzlich auf den Badender Pharisäer, zu denen der Herr sagte: „Ihr baut die Gräber der Propheten und schmückt die Grabmäler der Gerechten, und sagt: Wären wir in den Tagen der Propheten gewesen, so wären wir an dem Blut der Propheten nicht ihre Teilhaber gewesen. Also gebt ihr euch selbst Zeugnis, dass ihr Söhne derer seid, welche die Propheten ermordet haben, und ihr – erfüllt das Maß eurer Väter“ (Mt 23,29–32).
In der Tat, wenn ihr euch in Wahrheit vor dem Herrn demütigt, werdet ihr sehen, dass ihr euch noch auf demselben Wege befindet, wie früher; ihr werdet dann bald zu der Überzeugung kommen, dass ihr damit beschäftigt seid, neuen Wein in alte Schläuche zu tun, oder einen Flecken von neuem Tuch auf ein altes Kleid zu setzen; denn ihr gründet ja eine neue Gemeinde auf einem alten, unbiblischen System, und deshalb wird unausbleiblich eure neue Gemeinde dieselben traurigen Früchte tragen, wie auch die anderen. Die kirchliche Körperschaft, die ihr verlassen habt, stützt sich ja auf denselben Grundsatz, wie ihr. Sie schreibt Regeln vor, an denen man sich halten müsse, und dasselbe tut auch ihr, und – was das traurigste von allem ist – ihr haltet euch von jedem Gläubigen getrennt, der euer Bekenntnis, eure Regeln und Vorschriften nicht unterschreiben will. Daher kommen die verschiedenartigen Sekten unserer Zeit; daher spricht man von Baptisten, von Methodisten, von Herrnhutern und anderen Sekten. Sollte man sich nicht vielmehr tief schämen über die Geringschätzung und Beiseitesetzung des Wortes Gottes? Sagt doch Paulus zu den Korinthern: „Ihr seid noch fleischlich; denn da Eifer und Streit unter euch ist, seid ihr nicht fleischlich und wandelt nach Menschenweise? Denn wenn einer sagt: Ich bin des Paulus, der andere aber: Ich des Apollos; seid ihr nicht menschlich?“ – Ja, geliebte Brüder, solange ihr in diesem Zustand bleibt, seid ihr fleischlich, und zwar in einem weit höheren Gerade, als die Korinther; denn dort war nur der Grundsatz vorhanden, während bei euch die Trennung tatsächlich stattgefunden hat. Ach, gehorcht doch dem Wort Gottes und lasst all diese Entschuldigungen fahren! Wir sind überzeugt, dass ihr, wenn ihr das Wort Gottes mit Gebet und ohne Vorurteil lest, alle Irrtümer fahren lassen werdet. Ohne Zweifel ruft euch euer Gewissen zu, dass der Weg, den ihr wandelt, nicht der richtige ist. Drum verlässt diesen Weg, und folgt Jesu nach, und zwar Ihm allein! Er sagt: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ – Genügt euch dieses nicht? Müsst ihr noch andere neben Ihm in eurer Mitte haben? Verlangt ihr noch einen anderen, einen Leviten? Ach! wie viele tun dieses, um dadurch ihren eigenen Ungehorsam zuzudecken.
Und ihr, die ihr euch zwar von den Ungläubigen getrennt habt, aber mit den Gläubigen keine Gemeinschaft pflegt und euch nicht mit ihnen versammelt, seid ihr glücklich? – ist euer Gewissen befriedigt? Unmöglich; denn auch ihr seid dem Wort Gottes nicht gehorsam, indem dasselbe euch zuruft: „Versäumt euer Zusammenkommen nicht“ (Heb 10,25). Der Herr will nicht allein, dass ihr das Böse lassen, sondern auch, dass ihr das Gute tun sollt. Und dieses sollte uns nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein großes Vorrecht sein. Du sagst vielleicht: „Ich weiß nicht, wohin!“ – aber kann dieses eine Entschuldigung für dich sein und deine Verantwortlichkeit beseitigen? Nein, gewiss nicht! Wenn du nicht weißt, wohin du gehen sollst, so ist das ein Beweis, dass du Jesu nicht in allem folgst; denn Er ist bereit, dir den Weg zu zeigen; Er wird die Seinen nicht ohne Ausweg lassen. Oder ist dieses: „Ich weiß nicht, wohin!“ bloß ein Vorwand, während du eigentlich den rechten Weg nicht wissen willst. Ach! das wäre sehr traurig; aber nichtsdestoweniger findet man einen solchen Zustand nicht selten bei den Gläubigen. Man bleibt lieber, wo man ist, und weshalb? Weil man recht gut weiß, dass man nach dem Wort Gottes nicht nur verharren soll „in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“, sondern auch, dass einer auf den anderen Acht haben soll „zum Reizen der Liebe und der guten Werke“ (Heb 10,24). Ja, dieses ist bei vielen der Hauptgrund, weshalb sie sich anderen Gläubigen nicht anschließen wollen. „Achthaben auf einander, das ist eine lästige Sache“, denken sie. Dünkt es ihnen doch viel einfacher, dass irgendeine Person aus ihrer Mitte damit beauftragt werde, die Lässigen zu ermahnen und auf alle Acht zu haben. Und sie haben Recht; denn für das Fleisch ist es eine schwierige Aufgabe, Acht auf andere zu haben und sich selbst von anderen beurteilen zu lassen. Andererseits aber gereicht es jedem, der Gott im Geist und in Wahrheit dienen will, zur großen Freude, indem er weiß, dass es zu seinem Besten dient, um ihn bezüglich seines praktischen Wandels als einen vollkommenen Menschen vor Gott hinzustellen.
Wir würden noch eine Menge anderer Entschuldigungen, die, um das Gewissen zu beruhigen und sich selbst zu betrügen, vorgebracht werden, anzuführen im Stande sein; aber da wir hoffen, euer Gewissen erreicht zu haben, wollen wir davon abstehen. Wir bitten nur, einmal ernstlich darüber nachdenken zu wollen, was es heißt, vom ewigen Tod errettet zu sein und das Bewusstsein der Vergebung von allen Sünden zu haben, und dennoch Ihm, Jesu, dem Sohn Gottes, dem wir alles zu verdanken haben, nicht zu folgen, sondern gegen seinen Willen eigene Wege einzuschlagen. Ach, entfernt doch alle Stützen, auf die ihr euer Vertrauen setzt! Beseitigt doch alle Entschuldigungen, welche eure Verantwortlichkeit ja nimmer wegzunehmen vermögen, und stellt euer Vertrauen doch ganz allein auf Jesus, damit Er euch seinen Willen offenbaren möge! Es gibt in der Tat nichts Törichteres im geistlichen Leben, als das Gewissen zu beruhigen. Hat man den ersten Schritt auf diesem Weg getan, dann scheint ein Fortschreiten nicht mehr so schwierig zu sein, bis man schließlich ganz daran gewöhnt und die Stimme des Gewissens völlig verstummt ist. Wenn sich ein Christ einmal in einem solchen Zustand befindet, dann steht es sehr traurig um ihn; er bildet sich ein, nach dem Willen Gottes zu wandeln und in seiner Gemeinschaft zu leben; allein es ist alles Selbstbetrug. Ja, man wird oft sehen, dass gerade solche Christen viel für die Sache des Herrn wirken, um auf diesem Weg die unangenehme Leere ihres Herzens auszufüllen. Doch bedenken wir es wohl, geliebte Brüder, dass wir zwar uns selbst, doch nimmer Gott täuschen können. Er schaut bis auf den Grund unserer Herzen, und Er weiß, ob dort wahrer oder nur scheinbarer Frieden herrscht. Er kennt die verborgene Triebfeder all unserer Handlungen. Er weiß, ob sie aus Liebe zu Ihm hervorkommen, oder aus dem Wunsch, vor den Augen der Menschen besser zu scheinen, als man ist, und zuzudecken, was im Herzen ist. „Wir sind alle bloß und aufgedeckt vor dem Auge dessen, mit dem wir zu tun haben.“
Lasst uns daher, geliebte Brüder, auf die Stimme des Geistes Gottes achten. Wie oft mag schon in unserem Innern seine Stimme vernommen worden sein, ohne bei uns ein offenes Ohr zu finden! Es ist eine traurige Wahrheit, dass es namentlich in unseren Tagen viele gibt, welche, die Schwierigkeit eines aufrichtigen Wandels vor Gott erkennend, auf alle nur mögliche Weise ihr Gewissen zu beruhigen suchen. Ja, der Herr gebe uns die Gnade, nicht nur Hörer, sondern auch Täter seines Wortes zu sein! Und möge Er auch diese Zeilen an vieler Herzen segnen, damit alle seine Kinder Ihm in Aufrichtigkeit dienen und Ihn verherrlichen! Es war das Bedürfnis unseres Herzens, die Christen an ihre vielen Irrtümer Hinzuweisen und sie unter dem Segen des Herrn von ihren Verkehrtheiten zu überzeugen. Ja, wir können in der Gegenwart Gottes bezeugen, dass wir diese Zeilen nur in der Absicht geschrieben haben, um mit Nachdruck ein Nebel zu bekämpfen, welches seiner Natur nach in uns allen wohnt; und wir stehen zu Gott, dass sich niemand von der Meinung beherrschen lasse, dass das Geschriebene nicht für ihn, sondern für seinen Nächsten bestimmt sei.
Glückselig der, welcher mit Paulus sagen kann: „Brüder, ich habe bis auf diesen Tag mit allem guten Gewissen vor Gott gewandelt!“ (Apg 23,1) Glückselig, wer sich wie Paulus übt, „allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen!“ Ja glückselig, der mit vollem Herzen sagen kann: „Es ist mein Verlangen, allezeit in Aufrichtigkeit vor Gott zu wandeln!“