Die Bergpredigt
Eine Verständnishilfe zu Matthäus 5 - 7

28. Der Richtgeist (Matthäus 7,1-5)

Die Bergpredigt

Das Thema von Matthäus 7,1–6 ist das Verhältnis des Jüngers zu seinem Nächsten. Zunächst spricht der Herr Jesus vom falschen Richten (V. 1–5), dann vom Urteilsvermögen (V. 6).

Notwendiges Richten

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (V. 1). Ein wohlbekannter Vers! Er trägt wie so manche andere nahezu sprichwörtlichen Charakter. Aber leider wird er manchmal auch von gläubigen Christen falsch verstanden und angewandt.

Der Herr Jesus verbietet seinen Jüngern nämlich durchaus nicht, ein gesundes geistliches Urteil zu haben. Im Gegenteil, in seinen folgenden Worten (V. 6) setzt Er voraus, dass sie fähig sind, zu beurteilen, was sie tun oder unterlassen sollen. Auch der Apostel Paulus forderte seine Leser auf, zu beurteilen, was er ihnen schrieb (1. Kor 10,15).

Nun könnte man einwenden, dass beurteilen und richten doch nicht dasselbe seien. Das zugrunde liegende griechische Wort (krinein) hat jedoch nicht nur diese, sondern noch weitere Bedeutungen. Die Skala geht von „(unter)scheiden“ über „urteilen“ und „richten“ bis „verurteilen“.

Als Jünger des Herrn sollen wir nicht nur uns selbst im Licht Gottes beurteilen und nötigenfalls richten (Röm 14,13; 1. Kor 11,31), sondern auch das, was auf geistlichem Gebiet auf uns zukommt (1. Kor 12,10; 1. Joh 4,1). Darüber hinaus trägt die Versammlung Gottes die Verantwortung, Böses in aller Entschiedenheit zu verurteilen und diejenigen, die in einer offenbar bösen Gesinnung oder einem bösen Zustand verharren, zu richten: „Ihr, richtet ihr nicht die, die drinnen sind? Die aber draußen sind, richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus“ (1. Kor 5,12.13).

Diese Arten des „Gerichts“ sind im Leben und in der Gemeinschaft der Gläubigen absolut notwendig, und zwar um der Ehre und Heiligkeit Gottes willen, aber auch zu unserem eigenen geistlichen Wohlergehen und Wachstum. Sie sind daher unerlässliche und hilfreiche Stützen des Glaubenslebens. Wo dieses biblische Richten fehlt, wird der Gleichgültigkeit und der Weltförmigkeit Tür und Tor geöffnet.

Falscher Richtgeist

Aber diese an sich so unerfreuliche Beschäftigung mit dem Bösen muss dennoch im Geist der Liebe, Gnade und Demut geschehen, denn das erste Ziel ist, dass Herz und Gewissen erreicht und gewonnen werden. Wenn Brüder, die sich mit jemand unterhalten und beschäftigen müssen, der gesündigt hat, dies nicht in solch einer Haltung tun, sondern mit einem Richtgeist, dann können sie keine Hilfe sein, sondern nur die Lage verschlimmern. Das Endergebnis ist dann oft Verbitterung und Verhärtung.

Wie wir in einem solchen Fall handeln sollen, lesen wir in Galater 6,1: „Brüder, wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringt ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, wobei du auf dich selbst siehst, dass nicht auch du versucht werdest“ (vgl. auch Mt 18,15–18).

Das im rechten Geist und in der rechten Haltung durchgeführte Richten der Sünde ist somit nicht gemeint, wenn der Herr Jesus sagt: „Richtet nicht ...“ Er verurteilt hier etwas ganz anderes, nämlich den Richtgeist, die pharisäische Neigung, uns über andere zu stellen und nicht nur ihr Tun, sondern auch ihre Motive in einem negativen Licht zu sehen und in liebloser Weise abzuurteilen.

Dieser Richtgeist offenbart:

  • Unbesonnenheit, weil man urteilt, bevor man die Zusammenhänge genau kennt;
  • Ungerechtigkeit, weil man die Motive des anderen nicht kennen kann, ohne mit ihm in brüderlicher Liebe gesprochen zu haben;
  • Hochmut, weil der so Richtende sich über den Bruder stellt;
  • Heuchelei, weil man Liebe und Eifer für den Herrn als Deckmantel für das eigene Ansehen nimmt;
  • Unbarmherzigkeit, weil offenbare Schwachheiten nur zu leicht als „Böses“ ausgelegt werden.

Vor diesen Gefahren warnt uns der Herr hier in aller Eindringlichkeit. Auch der Apostel Paulus warnt die Korinther vor vorzeitigem Richten (1. Kor 4,5) und die Römer vor engherzigem Richtgeist (Röm 14,3.10.13); letztere fordert er zugleich zum Selbstgericht auf.

Mit welchem Maß messen wir?

Der Herr Jesus fügt dann hinzu: „... damit ihr nicht gerichtet werdet.“ Diese Worte könnten vielleicht so verstanden werden, dass derjenige, der andere unbefugt richtet, sich nicht zu wundern braucht, wenn ihm von Seiten seiner Mitmenschen und Brüder dasselbe widerfährt. Aber aus dem Folgenden geht doch hervor, dass dieses Gerichtetwerden weitergeht und dass letzten Endes Gott hier der Richtende ist.

Für jeden, der den Sohn Gottes nicht als seinen Heiland annehmen will, gibt es nur ein furchtvolles Erwarten des Gerichts und der ewigen Verdammnis. Jeder, der an Ihn glaubt, darf jedoch wissen, dass er nicht ins Gericht kommt. Aber er weiß auch, dass Gott die Seinen während ihres Erdenlebens als Vater züchtigt und ohne Ansehen der Person richtet (Heb 12,4–11; 1. Pet 1,17; 1. Kor 11,32). Auch werden einmal alle Gläubigen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden und Lohn empfangen oder Schaden erleiden (1. Kor 3,15; 2. Kor 5,10).

Diese ernsten Gedanken sollen alle Jünger des Herrn vor dem hochmütigen Richtgeist bewahren, „denn mit welchem Urteil ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden, und mit welchem Maß ihr messt, wird euch zugemessen werden“ (V. 2). Diese Erklärung ist natürlich nicht so zu verstehen, dass Gott jemand, der ungerecht richtet, ebenfalls ungerecht behandeln wird, sondern dass jeder Mensch von Ihm nach seiner vollkommenen Gerechtigkeit beurteilt werden wird. Zugleich liegt darin die Zusicherung, dass der Jünger, der in Liebe und Gnade urteilt, auch eine liebevolle Behandlung von seinem himmlischen Richter erfahren wird. Daher sollten wir umgekehrt mit dem Maß messen, mit dem wir von Gott gemessen werden, und mit dem Gericht richten, mit dem wir von Ihm gerichtet werden. Gerade darin offenbart sich praktisch die Gotteskindschaft: „Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteil werden ... Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,7.48). „Seid aber zueinander gütig, mitleidig, einander vergebend, wie auch Gott in Christus euch vergeben hat“ (Eph 4,32).

Splitter und Balken im Auge

„Was aber siehst du den Splitter, der in dem Auge deines Bruders ist, aber den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Erlaube, ich will den Splitter aus deinem Auge herausziehen; und siehe, der Balken ist in deinem Auge?“ (V. 3.4)

Mit einem überdeutlichen Bild zeigt der Herr Jesus seinen Jüngern jetzt, wie töricht derjenige ist, der meint, seinen Nächsten von oben herab richten zu können. Der Splitter im Auge des Bruders ist das Verkehrte, das man bei ihm zu erkennen meint. Aber der Balken im Auge ist das Böse im eigenen Herzen, das man dabei geflissentlich übersieht, das aber doch deutlich erkennbar ist. Ein erfahrener Bruder sagte einmal: „Von keinem anderen Menschen weiß ich so viel Böses wie von mir selbst. Das macht mich vorsichtig, andere zu richten.“

Auch hier weist das Bild des Auges wieder auf den Herzenszustand hin, wie bereits in Kapitel 6,22.23. Der Herr scheint dabei besonders das geistliche Urteilsvermögen zu meinen. Wie könnte jemand, dessen Unterscheidungsvermögen durch eigene, ungerichtete Sünde auf das Schwerste behindert ist, einem anderen behilflich sein, der vielleicht durch geistliche Unachtsamkeit von einem Fehltritt übereilt worden ist? Das ist unmöglich.

Bereits dreimal hatte der Herr in der Bergpredigt den Ausdruck „Heuchler“ benutzt (Kap. 6,2.5.16). Immer hatte Er damit im Gegensatz zu seinen Jüngern die religiösen Heuchler unter den Juden gemeint. Wenn Er dieses Wort hier noch einmal verwendet, dann zeigt das doch, dass auch die Jünger vor der Gefahr der Heuchelei nicht sicher sind. „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge heraus, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen“ (V. 5).

Nur wenn wir unsere eigenen Sünden im Licht Gottes erkannt und bekannt haben, sind wir in der Lage, andere richtig zu beurteilen. Nur wenn wir selbst im Bewusstsein der Gnade leben, durch die Gott uns alle Sünden vergeben hat und uns als Vater immer wieder vergibt, können wir in rechter Weise unseren irrenden Geschwistern geistlich eine wirkliche Hilfe sein.

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