Die Bergpredigt
Eine Verständnishilfe zu Matthäus 5 - 7
15. Bruderhass (Matthäus 5,21-26)
In Matthäus 5,21–48 führt der Herr Jesus sechs Beispiele an, in denen Er sich jedoch nicht gegen das Gesetz wendet, sondern gegen die falsche Auslegung und Anwendung der Gebote durch die Schriftgelehrten und Pharisäer. Er macht seinen Jüngern dadurch verschiedene wichtige Einzelheiten deutlich.
- Erstens erinnert Er sie daran, dass viele der Gebote, die Gott Israel gegeben hatte, sich nur auf das sichtbare Verhalten des Menschen bezogen.
- Zweitens weist Er sie darauf hin, dass die Schriftgelehrten durch ihre oft spitzfindigen Auslegungen die Anwendung dieser Gebote sehr stark eingeengt hatten, so dass von ihrem wahren Sinn manchmal nicht mehr viel übrig blieb.
- Drittens zeigt Er ihnen, dass es nicht nur auf das äußerliche Halten der Gebote als bloße Form ankam, sondern auf den Wunsch des Herzens, in Übereinstimmung mit Gottes Gedanken und zu seiner Ehre zu leben.
Das sechste Gebot: Du sollst nicht töten!
Der Herr Jesus beginnt das erste der sechs Beispiele mit den Worten: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist ...“ Die Alten sind hier nicht nur die Zeitgenossen Moses, sondern auch die der Schriftgelehrten, denn der folgende Text enthält nicht nur das sechste der zehn Gebote (2. Mo 20,13; nach Luther ist es das fünfte Gebot), sondern außerdem einen Zusatz, der in dem ursprünglichen Gebot nicht enthalten war. Die Zuhörer des Herrn Jesus hatten zweierlei gehört: erstens, dass das Gebot „Du sollst nicht töten“ von Gott gegeben worden war; zweitens kannten sie aber auch den wohl seit der Babylonischen Gefangenschaft von den Schriftgelehrten hinzugefügten Nachsatz: „Wer aber irgend töten wird, wird dem Gericht verfallen sein.“ Mit dem Gericht sind wahrscheinlich die z.B. in 5. Mose 16,18 genannten Richter und Vorsteher gemeint, die in jeder Stadt Israels eingesetzt werden sollten.
„Ich aber sage euch!“
Diesem Gebot mit seiner menschlichen Ergänzung stellt der Herr Jesus nun seine eigenen Worte entgegen: „Ich aber sage euch“, die insgesamt sechsmal in diesem Abschnitt des fünften Kapitels vorkommen. Er spricht mit derselben Autorität wie der, der einst das Gesetz gegeben hatte, denn Er ist der Sohn Gottes. Doch setzt Er mit seinen Worten das Gesetz nicht beiseite, sondern erweitert seine Anwendung auf den Herzenszustand der Menschen. Während das Gebot nur die extreme Offenbarung des Hasses, nämlich das Töten eines Menschen, verbot, zeigt der Herr, dass der Zorn über den Bruder (hier ist zunächst der jüdische „Bruder“ gemeint) die gleiche Strafe verdient wie das Töten selbst.
Wer seinem Bruder ohne Grund zürnte, war deshalb nach seinen Worten dem gleichen Gericht verfallen wie es nach Meinung der Rabbiner der Mörder war. Wer seinen Bruder „Raka“ (aramäisch rêka: „Tor, Verrückter“) nannte, sollte vor das Synedrium (hebräisch sanhedrin: der höchste jüdische Gerichtshof) gestellt werden, und wer ihn „du Narr“ schalt, würde der Hölle, der ewigen Verdammnis verfallen sein. Wenn die letzte dieser drei Sünden, die sich ja kaum voneinander unterscheiden, zur ewigen Verdammnis führt, dann auch alle übrigen. Denn Gott sieht nicht nur das Äußere, Er schaut in unser Herz.
Um den rechten Herzenszustand handelt es sich dann in den folgenden zwei Beispielen in den Versen 23–26. Das erste zeigt, wie notwendig es ist, ein gutes Gewissen zu besitzen, und das zweite lehrt uns, dass die Zeit zur Umkehr begrenzt ist.
Erstes Beispiel: Versöhne dich mit deinem Bruder!
„Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bring deine Gabe dar“ (V. 23.24). Wir erinnern uns daran, dass der Herr Jesus zunächst zu seinen Jüngern redet. Er hat hier noch den Opferdienst im Tempel vor Augen. Dennoch haben seine Worte auch uns etwas zu sagen.
Es kann Gott nicht gefallen, wenn wir in Anbetung zu Ihm kommen wollen, ohne dass unser Verhältnis zu den Geschwistern geordnet ist. Wie leicht kann dies jedoch vorkommen! Vielleicht ist es nur ein Missverständnis gewesen, vielleicht aber habe ich auch wissentlich ein Kind Gottes, einen Bruder oder eine Schwester, verletzt. Auf jeden Fall hat er oder sie etwas gegen mich. Der Herr sagt in diesem Fall: „Geh zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder.“
Nur durch Versöhnung, die wohl nie ohne ein aufrichtiges Bekenntnis zustande kommt, kann das gestörte Verhältnis zwischen Gläubigen geordnet werden, so dass die Bruderliebe wieder frei strömen kann. Dann ist aber auch unsere Gemeinschaft mit unserem Gott und Vater wiederhergestellt: „Dann komm und bring deine Gabe dar.“
Zweites Beispiel: Nutze die Zeit!
Der Herr fügt noch ein zweites Beispiel an: „Einige dich schnell mit deinem Widersacher, während du mit ihm auf dem Weg bist; damit nicht etwa der Widersacher dich dem Richter überliefert und der Richter dich dem Diener überliefert und du ins Gefängnis geworfen wirst. Wahrlich, ich sage dir: Du wirst nicht von dort herauskommen, bis du auch den letzten Cent bezahlt hast“ (V. 25.26).
Im Altertum war es üblich, einen verurteilten Schuldner so lange im Gefängnis zu belassen, bis alle seine Schulden bezahlt waren (vgl. Mt 18,30.34). Der Herr sagt hier in bildlicher Sprache: Bevor es zu spät ist, gibt es noch die Gelegenheit, sich mit der Gegenpartei in friedlicher Weise zu einigen, auch wenn dies einem zunächst nicht gefallen mag. Aber diese Zeit zur Versöhnung geht einmal zu Ende. Wer die Bereitschaft dazu jedoch nicht hat, muss die Folgen seiner Unversöhnlichkeit selbst tragen. Diese ernste Belehrung wird auch aus dem Vergleich mit der ähnlichen Stelle in Mt 18,34.35 deutlich.
Falsche geistliche Anwendungen des letzten Teiles dieses Beispiels (V. 26; vgl. Lk 12,57–59) haben zu mancher Verwirrung geführt, wofür die Lehre vom „Fegefeuer“ wohl der betrüblichste Beweis ist. Aber nirgends wird in der Heiligen Schrift gelehrt, dass ein Mensch nach seinem Tod eine zeitweilige Strafe Gottes ertragen müsste, um erst danach für ewig gerettet zu werden. Nein, wenn der Tod gekommen ist, sind die Würfel endgültig gefallen: entweder ewig und völlig gerettet – oder ewig verloren! Dieser Vers kann sich daher nur auf die Umstände auf der Erde beziehen.
Diese Worte des Herrn sind jedoch im Einklang mit verschiedenen alttestamentlichen Prophezeiungen über das Volk Israel. Wenn in der Zukunft die Drangsal Jakobs beendet sein wird, dann wird das Wort des Propheten Jesaja in Erfüllung gehen: „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems, und ruft ihr zu, dass ihre Mühsal vollendet, dass ihre Schuld abgetragen ist, dass sie von der Hand des Herrn Zwiefältiges empfangen hat für alle ihre Sünden“ (Jes 40,1.2). Als ihr König und Erretter bei ihnen war, um sie zu erlösen, da waren die Juden nicht bereit, Ihn anzunehmen und dem Ruf zur Buße zu folgen. Deshalb musste Gott das ungläubige Volk verwerfen (Röm 11,25).
Diese Beiseitesetzung Israels, die in der großen Drangsal gipfelt, wird so lange dauern, bis Er sein ganzes Werk an dem Berg Zion und an Jerusalem vollbracht hat (Jes 10,12; Sach 13,8.9).