Die Bergpredigt
Eine Verständnishilfe zu Matthäus 5 - 7
14. Das Gesetz und das Reich (Mt 5,19.20)
„Wer irgend nun eines dieser geringsten Gebote auflöst und die Menschen so lehrt, wird der Geringste heißen im Reich der Himmel; wer irgend aber sie tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reich der Himmel“ (Mt 5,19). Nachdem der Herr Jesus in den Versen 17–18 sein eigenes Verhältnis zum Gesetz und zu den Propheten erklärt hat, leiten seine Worte „wer irgend“ nun einen generellen und sehr ernsten Appell ein.
Die Bedeutung dieses Verses ist jedoch nicht leicht zu erschließen. Was sind die „geringsten Gebote“? Macht der Herr hier einen Unterschied zwischen dem Moralgesetz (den zehn Geboten) und dem Zeremonialgesetz, oder bezieht Er sich auf das Jota und das Strichlein des Gesetzes (V. 18)? Und schließlich: Lehrt Er hier, dass das Gesetz vom Sinai weiterhin Gültigkeit auch für die Christen hat?
Ehe wir versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu finden, müssen wir uns vor Augen halten, dass der Herr Jesus hier zu seinem eigenen Volk sprach und noch nicht von diesem verworfen war. Wenn Er in Vers 17 sagte, Er sei nicht gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern zu erfüllen, dann musste dies auch Konsequenzen für seine Zuhörer und das jüdische Volk haben. Aber während der Herr von sich selbst sagte, Er sei gekommen, Gesetz und Propheten zu erfüllen, spricht Er hier nur von dem Tun der Gebote.
Es gab unter den Juden Gesetzlehrer, die ihre eigenen Überlieferungen für wichtiger hielten als die Gebote Gottes. Zu diesen, den Schriftgelehrten und Pharisäern, sagte Er später: „So habt ihr das Gebot Gottes ungültig gemacht um eurer Überlieferung willen“ (Mt 15,6). So wie Er dort hinzufügt: „Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerottet werden“, so sagt Er hier den Juden, dass jeder, der meint, irgend etwas von dem noch gültigen Gesetz aufheben zu können, in seinem Reich der Geringste heißen würde. Aus dem Vergleich der beiden Stellen geht hervor, dass Er hier von bloßen Bekennern spricht, die zwar äußerlich einen Platz im Reich der Himmel einnehmen, aber nicht wirklich „eingegangen“ sind (siehe V. 20). Bei seiner Erscheinung in Herrlichkeit werden diese jedoch durch Gericht aus seinem Reich entfernt werden (Mt 13,41). Solange das Gesetz nach Gottes Willen Gültigkeit besaß, d.h. bis zum Tod Christi (vgl. Röm 10,4; Gal 3,24; Eph 2,15; Kol 2,15), musste es von den Juden beobachtet werden. In 5. Mo 27,26 heißt es ja: „Verflucht sei, wer nicht aufrechterhält die Worte dieses Gesetzes, sie zu tun!“
Die Schriftgelehrten, die insgesamt 613 Gebote im Alten Testament gezählt hatten, machten Unterschiede zwischen nach ihrer Meinung wichtigen und weniger wichtigen Gesetzen. Auch der Herr macht einen Unterschied, wenn Er in Matthäus 22,36–40 das Gebot, Gott zu lieben, das große und erste Gebot nennt, obwohl Er diesem sofort das Gebot der Nächstenliebe gleichstellt. In Matthäus 23,23 wirft Er den Schriftgelehrten mit Recht vor, dass sie die wichtigeren Dinge des Gesetzes, das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben, beiseite ließen, während sie die Anwendung des Gebotes des Zehnten auf so kleine Dinge wie Gartenkräuter als sehr wesentlich hinstellten.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten stellten einerseits also ihre menschlichen Überlieferungen über die Gebote Gottes und bestanden andererseits auf der äußerlichen Erfüllung kleinster Einzelheiten des Gesetzes. Der Herr aber macht einen Unterschied zwischen der rein äußerlichen Gesetzerfüllung und der viel wichtigeren Herzenshaltung zu den Geboten Gottes. Gerade die Gebote, in denen die Liebe zu Gott und zum Nächsten auferlegt wurde, zeigten ja, dass es dem natürlichen Menschen unmöglich ist, Gott wohlgefällig zu leben, und dass nicht das Gesetz, sondern der Glaube der einzige Weg zu Gott ist.
Wir, die wir nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade und unter der Leitung des Heiligen Geistes stehen dürfen (Röm 6,14; Gal 5,18), können aus allen alttestamentlichen Geboten Gottes geistliche Belehrungen empfangen. „Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben“ (Röm 15,4).
Es ist jedoch auch möglich, dass der Herr bei den „Geboten“ gar nicht an das Gesetz vom Sinai dachte, sondern an seine eigenen neuen Gebote, die Er gerade in der Bergpredigt zu verkündigen im Begriff stand. Später in Matthäus 28,20 gab Er ja seinen Jüngern den Auftrag, zu lehren, was Er ihnen geboten hatte. Auch hier spricht Er nicht mehr wie in den Versen 17–18 vom Gesetz, sondern von „diesen Geboten“. Sie mochten seinen Zuhörern im Augenblick noch gering erscheinen. Aber sie waren doch die Richtlinien für das Verhalten der Jünger Christi im Reich der Himmel. Diese Erklärung wird dadurch gestützt, dass der Herr in Matthäus 24,35 sagt: „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber sollen nicht vergehen“. Das Gesetz mag mit dem Ende der jetzigen Schöpfung vergehen (V. 18), aber die Worte des Herrn Jesus werden nie vergehen.
Auch am Ende von Vers 19 kommt wieder der Gegensatz zu den Pharisäern und Schriftgelehrten zum Ausdruck. Von ihnen sagt der Herr später: „Alles nun, was irgend sie euch sagen, tut und haltet; aber tut nicht nach ihren Werken, denn sie sagen es und tun es nicht“ (Mt 23,3). Hier knüpft Er seine Verheißung an die Einheit von Tat und Lehre.
Gerechtigkeit
„Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht bei weitem übersteigt, werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (V. 20). Seit der babylonischen Gefangenschaft war im Talmud eine große Sammlung zusätzlich zum Gesetz entstandener Auslegungen und Vorschriften aufgestellt worden, die im Neuen Testament die „Überlieferung der Ältesten“ genannt wird. Die Schriftgelehrten waren die besten Kenner, die Pharisäer die strengsten Beobachter des Gesetzes und dieser menschlichen Vorschriften. In Matthäus 23 spricht der Herr Jesus ein siebenfaches „Wehe“ über diese Menschen und ihr von Ichbezogenheit gekennzeichnetes und auf den äußeren Eindruck ausgerichtetes Verhalten aus (V. 5–7.25–28). Vor den Menschen mochten sie zwar fromm und gerecht erscheinen, aber vor Gott konnte ihre Haltung nicht bestehen.
Deshalb sagt der Herr hier: „Wenn nicht eure Gerechtigkeit vorzüglicher ist ...“ Offensichtlich ist hier nicht die Gerechtigkeit Gottes gemeint, die denen zuteilwird, die an Ihn glauben. Der Herr Jesus verkündigt in der Bergpredigt nicht den Verlorenen das Evangelium, sondern redet zu seinen Jüngern. „Eure Gerechtigkeit“ ist daher die praktische Gerechtigkeit, die sich im Leben derer erweist, die durch den Glauben an Ihn gerechtfertigt sind und Ihm nachfolgen, indem sie Gottes Willen tun (Mt 7,21). Dies ist praktische Gerechtigkeit, und nur sie ist vorzüglicher als die der Pharisäer und Schriftgelehrten.
In das Reich der Himmel eingehen heißt, als wahrer Jünger mit dem Herrn verbunden zu sein und von Ihm als solcher anerkannt zu werden. An wenigstens 14 Stellen im Neuen Testament wird vom Eingang in das Reich gesprochen.1 Verschiedene dieser Stellen weisen eindeutig daraufhin, dass dies etwas Zukünftiges ist, die anderen sind zeitlich unbestimmt. Alle zeigen jedoch, dass der Eingang in das Reich den wahren Jüngern Jesu vorbehalten ist. Ungerechte werden das Reich Gottes nicht ererben (1. Kor 6,9).
Ein bloßes religiöses Bekenntnis und das Tun bestimmter „guter Werke“, auch wenn diese bei Menschen einen tiefen Eindruck hinterlassen, reichen nicht aus, damit man vor Gott bestehen kann. Wer jedoch über seine Sünden aufrichtige Reue empfindet und Buße tut, wer glaubt, dass der Herr Jesus am Kreuz von Golgatha für ihn und seine Sünden die gerechte Strafe Gottes erduldet hat, wer dann im Glauben ein neues Leben in der Nachfolge des Herrn und im Gehorsam gegenüber der Bibel führt, der wird einmal als einer der Gerechten leuchten wie die Sonne im Reich des Vaters (Mt 13,43).
Fußnoten
- 1 (Mt 5,20; 7,21; 18,3; 19,23; 21,31; 23,13; Mk 9,47; 10,23.24; Lk 16,16; 18,24; Joh 3,5; Apg 14,22; 2. Pet 1,11).