Die Bergpredigt
Eine Verständnishilfe zu Matthäus 5 - 7

13. Christus und das Gesetz (Matthäus 5,17. 18)

Die Bergpredigt

Die Lehren und Taten des Herrn Jesus waren so völlig anders als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, dass manche seiner Zuhörer denken mochten, Er würde einen Schluss-Strich unter alles, was sie als Juden bisher kannten, ziehen. Solchen Gedanken tritt der Herr in diesem nur im Matthäusevangelium überlieferten Abschnitt der Bergpredigt (Mt 5,17–48) entgegen, in dem Er über das Gesetz spricht.

Das Gesetz vom Sinai

Bevor wir auf den Inhalt der einzelnen Verse eingehen, wollen wir uns kurz mit dem Begriff „Gesetz“ beschäftigen, der sowohl im Alten wie im Neuen Testament häufig vorkommt. Außer in dem Sinn von menschlichen Anordnungen (Dan 6,13; Röm 7,1–2) kommt das Wort „Gesetz“ im Neuen Testament in der Bedeutung „Gesetzmäßigkeit“ vor (Röm 7,21; 8,2). Auch im Blick auf das göttliche Gesetz im Alten Testament gibt es Bedeutungsunterschiede:

  1. Das Gesetz vom Sinai (Apg 7,53; Gal 3,17),
  2. die fünf Bücher Mose (die Thora), nach alter Einteilung der erste der drei Teile des Alten Testaments (Lk 24,44),
  3. das ganze Alte Testament (Joh 10,34), mehrmals auch in der Fügung „das Gesetz und die Propheten“ (Mt 5,17; 7,12; 11,13).

Das sinaitische Gesetz hatte Gott seinem Volk Israel nach dessen Befreiung aus Ägypten gegeben. Mit seinen juristischen, zeremoniellen und moralischen Geboten galt es von Anfang an nur für dieses Volk (5. Mo 4,8; Röm 9,4), genau wie auch der alte Bund nur mit Israel geschlossen wurde. Das wird von Christen oft übersehen.

Das Gesetz vom Sinai war ein von Gott gegebenes System von Forderungen und Verheißungen an sein irdisches Volk. Die Moralgesetze waren sozusagen Gottes Minimalforderungen an natürliche, nicht wiedergeborene Menschen. Die Zeremonialgesetze regelten den Gottesdienst des Volkes und waren zugleich Schatten zukünftiger Dinge, die dann in Christus Wirklichkeit geworden sind (Kol 2,17; Heb 10,1).

Da das Gesetz von Gott kam, war es heilig, gerecht und gut (Röm 7,12). Wenn die Israeliten es hätten halten können, hätte es sie zu Leben und Gerechtigkeit geführt (3. Mo 18,5; 5. Mo 5,25). Aber das war unmöglich, da dem natürlichen Menschen die Kraft fehlt, Gottes Forderungen zu erfüllen. So konnte das Gesetz nur Erkenntnis der Sünde bewirken (Röm 3,20). Es machte die Sünde offenbar, gab aber keine Kraft, sie zu meiden, und führte deshalb zum Fluch und zum Tod, obwohl es zum Leben gegeben worden war (Röm 7,10; 8,3).

Der Herr Jesus nahm am Kreuz den Fluch des Gesetzes auf sich. Dadurch hat Er alle, die unter diesem Fluch standen, losgekauft. Jeder Jude, der an Ihn glaubt, steht daher nicht mehr unter dem Fluch des Gesetzes (Gal 3,13). Dadurch ist er auch frei vom Gesetz, denn Christus ist das Ende des Gesetzes (Röm 6,14; 7,4; 10,4; Gal 3,24.25).

Es ist daher falsch und im Widerspruch zu Gottes offenbartem Willen, wenn Christen sich unter das Gesetz stellen. Allerdings verstehen sie darunter dann meistens nicht das ganze Gesetz einschließlich seiner juristischen und zeremoniellen Vorschriften, sondern nur dessen moralische Vorschriften, d.h. die zehn Gebote. Die Beobachtung der Gebote wird damit begründet, dass der Christ doch nicht töten, stehlen usw. dürfe. Aber wenn jemand von neuem geboren ist, meidet er diese und alle anderen Sünden nicht deshalb, weil er das Gesetz beobachtet, sondern weil er neues Leben empfangen hat, den Heiligen Geist als Kraftquelle und Führer und den Herrn Jesus als Vorbild besitzt.1

Dennoch wird in der Christenheit immer wieder gelehrt, das Gesetz sei zwar dem Volk Israel gegeben worden, gelte jedoch für alle Völker und deshalb auch für die Christen, denn Gott wende doch nicht zweierlei Maß auf die Menschheit an. Als Begründung dafür werden außer Mt 5,17–48 Stellen wie 5. Mo 4,5–8; Jes 2,2.3 und Röm 3,19 angeführt, wobei jedoch unter anderem Geschichtliches und Prophetisches miteinander verquickt wird. Zwar ist Gott in seinem Wesen unveränderlich, aber seine Beziehungen zu den Menschen sind nicht zu allen Zeiten und in allen Umständen dieselben.

Auflösen – Erfüllen

In Mt 5,17 redet der Herr Jesus zu Angehörigen des irdischen Volkes Gottes. Seine Jünger und die Scharen von Menschen, die Ihn umringten, waren Juden. Das Reich der Himmel war ja ihnen als den „Söhnen des Reiches“ zugesagt. Deshalb wandte Er sich auch zunächst nur an dieses Volk (Mt 15,24). Dass wir seine Worte auch auf die gegenwärtige Zeit der „Geheimnisse des Reiches der Himmel“ anwenden können, haben wir bei der Betrachtung der Seligpreisungen gesehen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der Herr Jesus sich zunächst nur seinem eigenen Volk zuwandte, dem Gott einst am sinai Sein Gesetz gegeben hatte.

„Denkt nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Die Predigt Johannes' des Täufers, des Vorläufers Christi, und sein Aufruf zur Buße, aber auch die Reden des Herrn Jesus selbst kündigten etwas völlig Neues an. Nur bedeutete das nicht, dass alles Bisherige ungültig geworden wäre. Gesetz und Propheten (das ganze Alte Testament) wurden durch Christus nicht aufgelöst, d.h. für ungültig erklärt (vgl. Joh 10,35). Im Gegenteil, Er war gekommen, um sie zu erfüllen. Mit dem Erfüllen ist nicht nur das Befolgen des Wortes Gottes gemeint, denn dies hätte sich zwar auf das Gesetz, nicht aber auf die Propheten beziehen können. Erfüllen bedeutet hier deshalb bestätigen und zur Erfüllung bringen. Das ganze Alte Testament zeugte von Christus, und Er war dessen Erfüllung (Joh 5,39).

Jota und Strichlein

„Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist“ (Mt 5,18; vgl. Lk 16,17). In diesem Vers spricht der Herr nur noch vom Gesetz. Damit sind hier wohl nicht wie in Vers 17 die fünf Bücher Mose gemeint, sondern die Bestimmungen des Gesetzes vom Sinai.

Himmel und Erde werden einmal vergehen, und zwar nach dem Ende der tausendjährigen Herrschaft des Herrn Jesus (2. Pet 3,11). Dann wird eine neue Schöpfung mit neuen Himmeln und einer neuen Erde erstehen (2. Pet 3,13; Off 21,1). Vorher jedoch, während des Tausendjährigen Reiches, wird Israel als Volk von Gott aufgrund des neuen Bundes wieder angenommen werden (Jer 31,31–35; Hes 36,24–27). Gott wird sein Gesetz in ihr Inneres legen und auf ihre Herzen schreiben, und sie werden es im Gegensatz zur damaligen und heutigen Zeit gerne beobachten. Auch die Vorschriften über die Feste und die Opfer werden wieder praktiziert werden. Aber anstatt wie früher von den Nationen getrennt und abgesondert zu sein, wird Israel zum Mittelpunkt und Vorbild aller Völker werden (Jes 2,2–4; Sach 14,16).

Das Jota ist der kleinste Buchstabe des griechischen Alphabets (wie das Jod im Hebräischen), und das Strichlein ist ein Haken oder „Hörnchen“, das im Hebräischen verschiedene sonst gleiche Buchstaben unterscheidet. Wenn nach diesen Worten unseres Herrn nicht einmal die kleinsten Bestandteile des geschriebenen Gesetzes vergehen werden, wie viel weniger die einst von Gott gegebenen Vorschriften! Welch ein Zeugnis für die wörtliche Inspiration dieses Teiles des Wortes Gottes, der Bibel! Nichts von dem Gesetz wird vergehen, bis es im Tausendjährigen Reich in einer Weise erfüllt wird, wie es nie zuvor in der Geschichte Israels der Fall war. Die Worte „bis alles geschehen ist“ (vgl. Lk 21,32) weisen auf die noch zukünftige Zeit der herrlichen Regierung Christi als König hin, in der alle alttestamentlichen Weissagungen in Erfüllung gehen und alle Worte des Gesetzes beobachtet werden.

Fußnoten

  • 1 Die Tatsache, dass die wörtliche Erfüllung des vierten Gebots, das die Beobachtung des Sabbats vorschreibt, nicht gefordert wird, ist eine eigenartige Inkonsequenz der christlichen Befürworter des Gesetzes. Sie zeigt, dass man sich doch nicht völlig unter das System des Gesetzes stellen will, sondern in diesem Punkt seine Zuflucht zu der Gnade Gottes nimmt.
Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel