Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 2)
Nicht mehr in Gleichnissen
Wir haben nun das Ende dieser Arbeit über die Gleichnisse des Herrn erreicht. Wenn wir noch einmal einen Blick zurückwerfen, sind wir wahrscheinlich erstaunt, wie „vieles“ der große, göttliche Lehrer in Gleichnissen lehrte – in breit angelegten, bedeutenden Gleichnissen und in kleinen, unscheinbaren Bildern!
Vielleicht waren wir mehr als einmal davon überrascht, welche Tiefgründigkeit in den oft so einfach klingenden Worten des Herrn lag, wie treffsicher Er die Bilder zeichnete. Ein weites Spektrum (große Vielfalt) an göttlicher Wahrheit ist vor unseren Augen entfaltet worden, und wir werden es schätzen gelernt haben – so jedenfalls erhofft es der Verfasser –, dass die vielfältigen Belehrungen gerade in der Form von Gleichnissen gegeben wurden: Sie waren dadurch leichter fassbar. Das ist auch der Hauptgrund, warum der Herr „sie vieles in Gleichnissen lehrte“. Bis heute tut Er das. Und dafür sind wir Ihm von Herzen dankbar.
Doch jetzt wollen wir uns – gleichsam als Krönung – mit einem Ausspruch des Herrn beschäftigen, den wir nur im Johannes-Evangelium finden und der eine neue Art der Belehrung andeutet, die über die bisherige weit hinausgeht.
In Seinen Abschiedsworten an Seine Jünger kurz vor Seinem Tod drückt Er etwas aus, was tatsächlich einen Neuanfang in den Gnadenwegen Gottes markiert:
„Dies habe ich in Gleichnissen zu euch geredet; es kommt die Stunde, da ich nicht mehr in Gleichnissen zu euch reden, sondern euch offen von dem Vater verkündigen werde“ (Kap. 16,25).
„Nicht mehr in Gleichnissen reden“ – „offen von dem Vater verkündigen“! Das ist ein bemerkenswerter Gegensatz zu der bisherigen Redeweise. Doch was meint der Herr Jesus damit? Und von welcher »Stunde« redet Er?
Eine bedeutsame »Stunde«
Beginnen wir mit der letzten Frage. Der Ausdruck »Stunde« weist auf eine Epoche hin, die damals, als der Herr sprach, noch zukünftig war. Wir finden diesen Ausdruck auch in einer ähnlichen Stelle in Johannes 17:
„Vater, die Stunde ist gekommen; verherrliche deinen Sohn, damit dein Sohn dich verherrliche“ (Vers 1).
Diese »Stunde« ist durch zwei große Tatsachen gekennzeichnet: einerseits dadurch, dass der Herr Jesus verherrlicht im Himmel ist; und andererseits dadurch, dass der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit, auf die Erde gekommen ist, um die Gläubigen in die ganze Wahrheit zu leiten (Kap. 16,13ff). Die damals noch zukünftige Zeit, von der der Herr Jesus auch als „jenem Tag“ sprach (Vers 26), ist jetzt gekommen; wir leben darin. Seit Pfingsten nimmt sie ihren Verlauf (Apg 2) – die christliche Epoche, die Zeit der Gnade.
Die Tätigkeit des Sohnes
Es ist eine einmalige, überaus gesegnete Zeitspanne. In dieser »Stunde« würde nämlich der Herr Jesus – das machen die beiden angeführten Zitate aus Johannes 16 und 17 deutlich – einer ganz besonderen Tätigkeit nachgehen. In der einen Stelle erfahren wir, dass Er uns offen von dem Vater verkündigen würde; und in der anderen, dass der Sohn den Vater verherrlichen würde. Offensichtlich schließt eins das andere ein, wenn Er auch das erste Wort zu den Jüngern auf der Erde sprach zu ihrem Trost und das zweite zu Seinem Vater, indem Er Seine Augen zu Ihm im Himmel aufhob. Wie das erste Wort (Joh 16,2s) anzudeuten scheint, dachte der Herr bei beiden Gelegenheiten an den Augenblick, wo Er Seine neue Stellung als Sohn des Menschen in Herrlichkeit eingenommen haben würde; und auch dachte Er an die neue Ordnung des Segens für uns, deren Auftakt und Voraussetzung Seine Erhöhung sein würde.
Die überaus gesegnete Tätigkeit des Herrn besteht also auf der einen Seite darin, dass Er für den Vater beschäftigt ist, indem Er Ihn verherrlicht; und auf der anderen Seite darin, dass Er für uns beschäftigt ist, indem Er den Vater offen vor unseren Herzen entfaltet. Ja, wir können sagen: Dadurch, dass Er den Vater offen vor unsere Herzen bringt, gerade dadurch verherrlicht Er Ihn auch. So sind es tatsächlich zwei Seiten ein und derselben Sache.
Es ist eine unschätzbare Tätigkeit, die der Herr ausübt; und wir mögen uns einmal fragen, ob wir schon den rechten Nutzen daraus gezogen haben. Haben wir praktisch erfahren, was es heißt, den Vater vor die Herzen gestellt zu bekommen?
Uns „offen von dem Vater zu verkündigen“ bedeutet zuerst einmal, dass der Herr Jesus in uns das Bewusstsein erweckt, dass Sein Vater auch unser Vater und Sein Gott auch unser Gott ist (Kap. 20,17). Kinder Gottes zu sein und zu heißen ist heute das gemeinsame Vorrecht aller Gläubigen (1. Joh 3,1.2). Ebenso ist es das gemeinsame Teil aller Kinder Gottes, den Geist der Sohnschaft zu besitzen, durch den wir Gott als „Abba, Vater“ anreden können (Röm 8,15).
Doch zu wissen, dass Er unser Vater ist, ist nur der Anfang der hier vorgestellten Segnung. Noch größer ist das Glück, das darin beruht, den Vater unseres Herrn Jesus Christus persönlich zu kennen. Viele Kinder Gottes werden das erste Wissen besitzen, und das ist gut so. Aber müssen wir nicht befürchten, dass sehr viele von uns nicht wirklich mit dem Vater vertraut sind, Ihn nicht wirklich kennen? Diesem Mangel will der Heiland abhelfen. Er will uns zu einer immer tieferen Kenntnis des Vaters führen.
Das Beengtsein und die Freude des Sohnes
Doch ehe wir diesen Gedanken weiter verfolgen, wollen wir uns mit den Empfindungen des Herrn beschäftigen, die Ihn damals erfüllten, als Er diese Worte sprach. Blickte Er nicht mit offensichtlicher Freude und Befriedigung auf jenen Tag voraus, an dem der Glaube Seiner Jünger von manchen Hemmnissen befreit sein würde? Bis diese Zeit gekommen war, war Er in mehr als einem Sinn „beengt“, in Seinem Geist gebunden.
Denken wir nur einmal daran, wie Er von Seiner Taufe sprach: „Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss“, und dann hinzufügte: „und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist!“ (Lk 12,50). Inwiefern war Er „beengt“? Fürchtete Er sich vor dem Tod? Nein, wenn der Herr Jesus davon spricht, dass Er „beengt“ sei, bis Seine Taufe vollbracht sein würde, dann meint Er damit etwas ganz anderes. Solange das Werk der Erlösung nicht vollbracht war, konnte Er Seine Liebe zu den Menschen nicht frei ausströmen lassen. Seine Liebe „staute“ sich gleichsam in Seinem Herzen, weil die Frage der Sünde noch nicht gelöst war. Noch stand die Sünde zwischen den Menschen und Gott. Insofern war Er „beengt“. Erst nachdem Gott in Seinen heiligen Ansprüchen im Blick auf die Sünde durch das vollkommene Opfer Jesu Christi gerechtfertigt und befriedigt worden war, konnte sich die Liebe Gottes zu den Menschen ungehindert ergießen. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (Röm 5,20).
Gewiss hat der Herr Jesus auch in Seinem Leben die wunderbare Liebe und Gnade Gottes offenbart, so dass Er sagen konnte: „Jetzt aber haben sie gesehen und doch gehasst sowohl mich als auch meinen Vater“ (Joh 15,24). Aber das ganze Ausmaß, der ganze Umfang der Liebe Gottes konnte vor dem Kreuz noch nicht kundgemacht werden. Es trug alles mehr den Charakter von Verheißungen, von Andeutungen zukünftigen Segens.
So sagte der Herr kurz vor Seinem Tod zu den Jüngern: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten“ (Joh 16,12.13). Das beleuchtet den Grund, warum Er „beengt“ war, von einer anderen Seite – einer Seite, die uns hier besonders interessiert: weil selbst die Jünger zu Lebzeiten des Herrn noch nicht in der Lage waren, die weit reichenden Mitteilungen Seines Herzens zu fassen. Die Jünger waren einfach nicht fähig, die Offenbarung des Vaters, die Seinem Herzen so nahe war, zu erfassen.
Aber wenn der Heilige Geist – als Folge einer vollbrachten Erlösung – gekommen sein würde, würde Er sie in die ganze Wahrheit leiten. Ja, Er selbst, der Sohn des Vaters, würde ihnen dann „offen von dem Vater verkündigen“ (Vers 25) und nicht länger genötigt sein, in gleichnishafter Form zu ihnen zu reden.
Bis dahin hatte Er zu symbolischer, gleichnishafter Rede greifen müssen, um ihnen in etwa Eindrücke von Seinem Vater zu vermitteln. Aber das konnte Sein Herz nicht befriedigen. So machte es einen Teil der vor Ihm liegenden Freude aus, dass bald die Zeit gekommen sein würde, wo die Beschränkungen beseitigt sein würden und Er ihnen offen den Vater würde zeigen können. Dann würde sich das Wort erfüllen, das Er ihnen zuvor gesagt hatte: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch“ (Kap. 14,20).
Von dem Vater ausgegangen
Doch bis dahin hatten sie diese wunderbare Kenntnis noch nicht, ja, sie konnten sie noch gar nicht haben. Denn wir müssen bedenken, dass diese kostbare Offenbarung des Vaters durch den Sohn in den Tagen des Alten Testaments völlig unbekannt war. Selbst für den kühnsten Glauben war sie unauf-spürbar. Es gab sie einfach noch nicht, sie war noch gar nicht möglich. Das ist der erste Punkt: Die Offenbarung des Vaters war in jener Zeit ein Geheimnis.
Mit dem Kommen des Sohnes auf die Erde änderte sich das jedoch grundlegend. Und das ist der zweite Punkt, auf den ich hinweisen möchte: Diese Offenbarung war während des Dienstes des Herrn auf der Erde der besondere Gegenstand Seines Herzens, über den Er – wenn auch noch in gleichnishafter Form – so gern sprach. Das stellte in dieser Frage einen gewaltigen Fortschritt dar: Der Sohn sprach über den Vater, wenn auch noch „in Gleichnissen“ und noch nicht „offen“. Aber seit Pfingsten – und das ist der dritte Punkt, der Gipfelpunkt – haben wir die volle, klare Offenbarung des Geheimnisses – dessen, was der Vater ist.
Können wir nicht sagen, dass es der höchste Gedanke im Herzen des Herrn Jesus für uns war, auch als Er noch auf der Erde weilte, den Vater kundzumachen? Wie früh hatte Er schon darauf hingewiesen und gesagt: „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist (wörtlich: in den Dingen meines Vaters)?“ (Lk 2,49). Ungewöhnliche Worte auf den Lippen eines zwölfjährigen Knaben! Und die Worte in Matthäus n zeigen, wie notwendig dieser Dienst des Herrn war und ist: „... noch erkennt jemand den Vater als nur der Sohn und wem irgend der Sohn ihn offenbaren will“ (Vers 27). Der Sohn ist es, der den Vater offenbart! Nun, das gehört zu „den Dingen seines Vaters“, die Ihm so wichtig waren und die letztlich die Verherrlichung des Vaters bedeuteten. Doch die unmittelbare, gleichsam nach unten gerichtete Absicht im Dienst des Herrn lag darin, den »Kindern« die Erkenntnis des Vaters zu geben, damit sie „Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ haben könnten (1. Joh 1,3).
Das alles konnte jedoch erst volle Wirklichkeit werden, seitdem der Heilige Geist auf die Erde gekommen ist, eben seit Pfingsten. Und in der Kraft des Heiligen Geistes können wir heute die Beziehungen verstehen und genießen, in die uns das Werk Christi gebracht hat und die den Jüngern zu Lebzeiten des Herrn noch verschlossen waren.
Wie wenig die Jünger bis dahin von dem Vater verstanden, hatte sich gerade in den letzten Stunden erwiesen. Denn als der Herr ihnen von der Liebe des Vaters gesagt und versucht hatte, ihre Herzen auf diese Weise mit Ihm zu verbinden, hatte Er hinzugefügt:
„Ich bin von dem Vater ausgegangen und bin in die Welt gekommen; wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater“ (Joh 16,28).
Ihre prompte Antwort schien anzudeuten, dass sie nun etwas von dem Vater gelernt hatten. Aber ihre abschließenden Worte „Darum glauben wir, dass du von Gott ausgegangen bist“ (Vers 30) machen nur allzu deutlich, dass sie den Herrn Jesus nicht verstanden hatten. Bedeutete es wirklich dasselbe, von dem Vater auszugehen wie von Gott auszugehen? Ganz und gar nicht!
Lasst uns einen Augenblick bei diesem kostbaren Wort des Herrn stehen bleiben! Es ist eine Mitteilung von unschätzbarem Wert. Der Sohn des Vaters war Mensch geworden, war in die Welt gekommen. Und hier in der Welt war durch Ihn der Vater vollkommen offenbart worden – mit dem Ergebnis, dass die, die den Sohn annahmen, in die Beziehung von Kindern, in die Stellung von Söhnen und Erben gesetzt und fähig gemacht wurden, den Vater zu erkennen. Und wenn der Sohn die Welt wieder verließ und zum Vater ging, so wurde damit auch angedeutet, was der Platz der Kinder sein würde: Sie würden geradeso im Haus des Vaters sein wie der Sohn selbst. Das ist es, was das Kommen und Weggehen des Herrn Jesus in Wahrheit bedeuteten. Und wir dürfen es heute durch den Heiligen Geist verstehen und genießen! Unsagbare Freude und Anbetung erfüllen uns, wenn wir das in unseren Herzen bewegen.
Den Vater kennen
Verlangt es uns nicht danach, mehr von unserem Vater zu kennen? Nun, der Herr Jesus ist es, der diesem durch den Geist gewirkten Wunsch gern entspricht. Es ist ja Sein Verlangen, uns offen von dem Vater zu verkündigen. Beispiele davon, wie Er das heute tut, werden uns sogleich noch beschäftigen.
Doch müssen wir uns vorher noch über einen wesentlichen Unterschied klar werden, den ich schon kurz gestreift habe. Es ist nämlich eine Sache, eine Beziehung zu kennen, und eine andere, die Person zu kennen, mit der wir in dieser Beziehung stehen. Durch den Empfang des neuen Lebens sind wir in eine ewige Beziehung zu Gott, unserem Vater, gekommen. Dadurch, dass der Heilige Geist in uns wohnt, können wir die Beziehung, in die wir gebracht worden sind, bewusst genießen, und das ist eine der größten Segnungen für das neue Leben. Und doch ist es möglich, dass wir als Kinder Gottes die Wahrheit über die Beziehung zum Vater anerkennen und erfassen, ohne den „Vater unseres Herrn Jesus Christus“ tatsächlich zu kennen und zu genießen. Das aber wäre nicht Gemeinschaft, wäre nicht wirkliches Vertrautsein mit dem Vater und mit Seinem Sohn.
Gemeinschaft zu haben setzt voraus, dass man die gegenseitigen Ziele und Interessen, Freuden und Gefühle, Absichten und Wege kennt. Ohne dies kann man nicht von Gemeinschaft reden. Deswegen ist der Dienst des Herrn so außerordentlich wichtig. Er will uns „offen“ – ohne Bilder zu gebrauchen, ohne Einschränkungen – zeigen, wer der Vater ist. Wer ist darin ein Lehrer wie Er, der Sohn des Vaters, der stets im Schoß des Vaters ist?
Der ewige Sohn will uns durch Sein Wort in die Geheimnisse des Herzens des ewigen Vaters einführen. Er will uns durch Seine Belehrung ein wachsendes Maß der Kenntnis des Vaters schenken, die Er allein ohne Maß besitzt. Und was für eine Salbung und Kraft zur Erlangung dieser Segnung besitzen wir in dem ewigen Geist!
Wie schon angedeutet, bedient sich der Herr in der heutigen Zeit der Schriften des Neuen Testaments, besonders der Briefe, um „offen“ von Seinem Vater zu uns zu sprechen. Das eine oder andere Beispiel mag das verdeutlichen. Ich wüsste nicht, was größer und erhabener ist als dies: Der Sohn zeigt uns das Herz Seines Vaters. Lasst uns einmal unter diesem Blickwinkel über die folgenden Stellen nachdenken! Sie sind uns durch Inspiration des Heiligen Geistes gegeben.
Welch eine Liebe
„Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! Und wir sind es“ (1. Joh 3,1).
Der Geist Gottes fordert uns durch Johannes auf, doch einmal genau hinzuschauen. „Seht!“ Was sollen wir sehen? Die Liebe des Vaters! Und was sagt Er von dieser Liebe? Dass der Vater sie uns, Seinen Kindern, gegeben hat. Sie wird hier, und nur hier im Neuen Testament, als eine Gabe betrachtet – als ein Geschenk, das uns bereits verliehen worden ist. Wir müssen nicht darauf warten. Die Kinder Gottes sind die Empfänger dieser Gabe des Vaters, Seiner Liebe. Können wir das fassen?
Aber um welch eine Art von Liebe handelt es sich? Denn das ist die Bedeutung des griechischen Ausdrucks: nicht nur „welch eine Liebe“, sondern: „welch eine Art von Liebe“. Was ist die Qualität der Liebe des Vaters? Was hat sie sich zum Ziel gesetzt? Worin offenbart sich ihr eigentliches Wesen? Darin, dass wir Kinder Gottes heißen sollen. Und der Nachsatz macht deutlich, dass wir deswegen so heißen sollen, weil wir es sind. Wir können nicht von Ihm selbst Seine Kinder genannt werden, ohne tatsächlich Seine Kinder zu sein. Unendliche Segnung! Unermessliche Liebe!
Der Apostel hatte direkt vorher davon gesprochen, „dass jeder, der die Gerechtigkeit tut, aus ihm geboren ist“ (Kap. 2,29). Später benutzt er den Ausdruck »aus Gott geboren« (Kap. 5,1.4). Mit beidem beschreibt er die Kinder Gottes: Sie sind aus Gott geboren, sie haben Sein Leben empfangen. Johannes spricht von den Gläubigen nie als von »Söhnen Gottes«, sondern stets als von »Kindern Gottes«. Der Titel »Sohn« bleibt in seinen Schriften dem Sohn Gottes Vorbehalten. Der Apostel Paulus sieht die Gläubigen in beiden Beziehungen und betont dabei besonders ihre Annahme als Söhne. Bei Johannes aber hat der Gedanke der Herkunft, der Beziehung durch Geburt Vorrang. Um Kinder Gottes zu sein, müssen wir „aus Ihm“ geboren sein.
Was für eine große Wahrheit liegt in dem Ausdruck »aus Gott geboren«! Wir mögen uns daran gewöhnt haben, aber wie gewaltig ist sie! Gott hätte sich durch das Wort Seiner Macht noch mehr Sterne und Welten schaffen können, noch mehr Engel und Engelsfürsten; aber es war Sein wohlgefälliger Wille, sich Kinder dadurch zu schaffen, dass Er Seinen eingeborenen
Sohn in den Tod gab. Seinem Tod entspringt Leben für alle, die an Ihn glauben. Wir verstehen wohl kaum, was es für Gott bedeutet, auf solche Weise Kinder hervorgebracht zu haben.
Ich glaube nicht, dass Seine Heiligen im Alten Testament im eigentlichen Sinn des Wortes Seine »Kinder« waren. Sie werden wohl als Ganzes, als Volk so genannt, nicht aber als persönliche Gläubige. Erst musste das wahre Weizenkorn in die Erde fallen und sterben, ehe es viel Frucht bringen konnte. Ist es nicht bezeichnend, dass Gott Sein Volk im Alten Testament nie mit Weizen vergleicht?
Uns aber, Geliebte, nennt Gott Seine »Kinder«, und das zeigt, welche Liebe Er zu uns hat. Diese Liebe recht zu sehen kann nichts anderes bedeuten, als Den anzubeten, der sie uns gegeben hat.
Auserwählt vor Grundlegung der Welt
„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus, wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe“ (Eph 1,3.4).
In diesen Versen blicken wir ebenfalls direkt in das Herz Gottes. Der Apostel Paulus sieht im Brief an die Epheser den ewigen Ratschluss Gottes vor sich, und er bricht unvermittelt in einen Lobpreis aus (Kap. 1,3–14). Dieser geistliche Lobgesang hat gleichsam drei „Strophen“.
Die Verse 3–6 führen zurück in die entfernteste Vergangenheit, und ihr Gegenstand ist Gott, der Vater. Sie schließen ab mit den Worten „zum Preise der Herrlichkeit seiner Gnade“.
Die Verse 7–12 beschäftigen uns mit der gegenwärtigen Zeit, und ihr Gegenstand ist Gott, der Sohn. Sie schließen ab mit den Worten „zum Preise seiner Herrlichkeit“.
Die Verse 13.14 weisen in die Zukunft, und ihr Gegenstand ist Gott, der Heilige Geist. Sie schließen ebenfalls ab mit den Worten „zum Preise seiner Herrlichkeit“.
Diese drei Teile sind miteinander verbunden durch unseren Herrn Jesus Christus: „in dem Geliebten“ (Vers 6), „in dem Christus“ (Vers 10), „in dem (Christus)“ (Vers 13). Wenn wir allein das in diesem knappen Überblick Angedeutete recht bedenken, müssen dann nicht auch wir anbetend ausrufen: „Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“?
Nun kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht die Absicht sein, all die Einzelheiten und Schönheiten dieses erhabenen Lobgesangs vorzustellen. Nur die Anfangsverse sollen uns hier beschäftigen, und auch das nicht erschöpfend. Doch allein die Bezeichnung Gottes ist schon höchst bemerkenswert: „Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus“ – ein Titel, der uns auch an anderer Stelle im Neuen Testament begegnet. Dieser Name Gottes bedeutet nichts Geringeres als dies: Gott ist durch Seinen Sohn, unseren Herrn Jesus Christus, vollkommen offenbart worden. Als der »Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs« konnte Gott sich nur teilweise zu erkennen geben. Das lag nicht an Ihm, sondern an der Unvollkommenheit der Werkzeuge, deren Er sich in Seiner Gnade bediente. Aber als der Herr Jesus nach dem ewigen Rat Gottes auf die Erde kam, fand Gott in Ihm einen Menschen – und unendlich mehr als einen Menschen –, in dem Er sich vollkommen zu erkennen geben und verherrlichen konnte. Wunderbare Person unseres Herrn Jesus Christus! Unerforschlicher Ratschluss Gottes!
Was wir in Epheser i vor uns haben, ist nicht die Erlösung, die Christus durch Sein Werk am Kreuz geschaffen hat. Gewiss, alles gründet sich auf dieses Werk; hier aber werden uns die Ergebnisse der Erlösung gezeigt und damit das, was im Herzen Gottes für uns war, ehe es eine Welt gab. Nun findet zwar der Ratschluss Gottes seinen eigentlichen Mittelpunkt in der Person Christi selbst. Da aber Gott uns, Seine Kinder, seit jeher „in Christus“ sieht, sind auch wir – o unermessliche Gnade! – darin eingeschlossen.
Und das Erste, was uns hier gesagt wird, ist, dass Gott uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus. Wieder sehen wir Gott, den Vater, als den Gebenden. Ja, in Christus hat Er uns gesegnet; Er wird es nicht erst tun, wenn wir in den Himmel kommen. Wenn wir das doch mehr erfassen würden!
Da gibt es keine einzige geistliche Segnung in den himmlischen Örtern, die Er uns in Christus nicht bereits geschenkt hätte. Natürlich müssen wir sie noch mehr kennen lernen, müssen gleichsam „unseren Fuß darauf setzen“, um sie praktisch in Besitz zu nehmen. Dennoch gehören sie uns schon – allen wahren Kindern Gottes. Diese Segnungen sind ihrem Charakter nach geistlich (im Unterschied zu materiell), die Sphäre ihrer Entfaltung oder ihr Sitz ist der Himmel (im Unterschied zur Erde); ihre Quelle, ihr Ursprung jedoch ist das Herz Gottes selbst. Hier stehen wir vor der Höhe der wunderbaren Liebe und des unergründlichen Ratschlusses Gottes für uns. So groß ist die Wertschätzung, die Er für Seinen Sohn Jesus Christus empfindet, dass Er uns auf diese vollkommene Weise gesegnet hat.
Und dann wird von Auserwählung gesprochen: „... wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe.“ Auserwählung ist eine der Wahrheiten, die ganz offensichtlich göttlich sind. Sie ist eng mit dem Vorsatz verbunden, den Gott vor Erschaffung der Welt gefasst hat. Deshalb hat der Mensch keinen Anteil daran. Alles geht von Gott, dem Allmächtigen, aus, und nur Er kann auserwählen.
Können wir es fassen, dass Gott uns persönlich für Sich aus-erwählt hat? Denn das bedeutet der griechische Ausdruck: für sich auserwählen. Er hat nicht die Versammlung als Ganzes auserwählt, sondern die einzelnen Glieder des Leibes Christi hat Er auserwählt, dich persönlich und mich persönlich. Und Er tat das, bevor es eine Frage der Sünde, ja bevor es überhaupt eine Welt gab. Er sah uns, wie schon bemerkt, von Anfang an „in Christus“, und auf dieser Grundlage hat Er uns auserwählt.
Doch wenn Gott uns bei Sich und vor Sich haben wollte, dann mussten wir auch dem Wesen nach Ihm entsprechen. Deswegen wird hinzugefügt: „... dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe.“ Das ist genau das, was Gott kennzeichnet und was Christus vollkommen offenbart hat: Heiligkeit, Untadeligkeit, Liebe. Gott ist diese Natur wesenseigen. Uns aber ist diese Natur Gottes in der neuen Geburt geschenkt worden, bewirkt durch den Heiligen Geist. Wie es in 1. Johannes 4 gesagt wird: „Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns von seinem Geist gegeben hat“ (Vers 13). Die Mitteilung der göttlichen Natur macht es möglich, dass wir in Gott bleiben oder wohnen und dass Gott in uns wohnt. Das ist ein unschätzbares Vorrecht: Gemeinschaft mit Gott zu haben aufgrund des neuen, göttlichen Lebens.
Nun habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass wir in Epheser i genau denselben Gedanken haben, wenn auch unter einem etwas anderen Blickwinkel. Und hier berühren sich der Apostel Paulus und der Apostel Johannes in ihrem Dienst auf bemerkenswerte Weise. Als Ergebnis des Werkes Christi steht schon heute jeder Gläubige heilig und untadelig und in Liebe vor Gott. Das ist seine von Gott verliehene Stellung, die unantastbar ist, weil sie sich auf das Kreuz gründet. Aber es ist auch eine Natur, wie wir gesehen haben – eine Natur, die uns zur Gemeinschaft mit Gott befähigt.
Vor Ihm in einer Atmosphäre der Liebe zu sein und sich dort zu bewegen ist die köstlichste Sache, die man sich vorstellen kann. Durch den Heiligen Geist können wir das schon in dieser Zeit in etwa genießen und verwirklichen. Gewiss, wir sollten es mehr tun! Aber was wir hier auf der Erde erleben, kann das Ganze nicht sein. Zu sehr ist es eingeschränkt durch das „irdene Gefäß“, durch Schwachheit, ja durch Sünde. Und so schauen wir aus nach der Zeit „danach“, nach dem Ort der Vollkommenheit, wo wir die vollen Ergebnisse sehen werden.
Insofern ist der vierte Vers von Epheser i ein sehr komplexer (umfassender) Vers. Er führt uns zurück in die entfernteste Vergangenheit, und wir erfahren, auf welche Weise das Herz Gottes mit uns beschäftigt war, noch bevor Er die Welt ins Dasein rief. Aber er zeigt uns auch unsere gegenwärtige Stellung, deren wir uns schon jetzt erfreuen können. Gott ist schon heute die Heimat unserer Seele. Doch dann weist er auch in die zukünftige Ewigkeit, wo es kein Auseinanderklaffen von Stellung und Praxis mehr gibt, wo alles vollkommen sein wird – unsere Freude sowohl als auch die Befriedigung Gottes. Tatsächlich gibt uns dieser eine Vers eine Beschreibung des Himmels.
Die Hoffnung des ewigen Lebens
Noch ein drittes, letztes Beispiel dafür, dass der Herr Jesus uns heute „offen von dem Vater verkündigt“, sei aus dem Titus-Brief angeführt. Zu Beginn beschreibt der Apostel Paulus seinen apostolischen Dienst, zeigt, worauf er sich gründet. Die einzelnen Stücke, die er nennt, sind zugleich eine treffliche Zusammenfassung dessen, was wahres Christentum ist. Er erwähnt zuerst den Glauben der Auserwählten, dann die Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist (Vers i). Aber dann kommt noch ein Drittes hinzu: Er war auch Apostel Jesu Christi
„in (aufgrund) der Hoffnung des ewigen Lebens, das Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat vor ewigen Zeiten“ (Vers 2).
Nun ist allein schon der erste Ausdruck »Glaube der Auserwähltem recht bedeutsam. Da gibt es also Menschen, die Gottes Wort schlicht »Auserwählte« nennt. Sie sind durch einen bestimmten, persönlichen Glauben gekennzeichnet – den christlichen Glauben. Und in diesem Glauben erfassen sie die Liebe Gottes, die sie schon vor Grundlegung der Welt zu Gegenständen Seines Ratschlusses machte. Und im Wissen um ihre besondere Beziehung zu Gott und Seiner Liebe blicken sie auch vertrauensvoll in die Zukunft.
Davon redet nun der zweite Vers. Ähnlich dem vierten Vers in Epheser 1 blickt auch dieser Vers zurück in die entfernteste Vergangenheit und zugleich voraus auf die zukünftige Ewigkeit. Auch hier erlangen wir – unfassbares Vorrecht! – Zutritt zu den Gedanken Gottes, die Ihn schon vor ewigen Zeiten bewegten. Und was erfahren wir? Dass Er vor ewigen Zeiten ewiges Leben verheißen hat. Das ist eine gewaltige Aussage. Doch wem gab Gott diese Verheißung und wem galt sie, da doch die Erde mit den Menschen auf ihr noch nicht bestand?
Zweifellos wurde diese Verheißung innerhalb der Gottheit gegeben, wurde sie dem Sohn gegeben. Aber Er empfing sie gleichsam für uns, die Auserwählten. Sie sind der Gegenstand der Verheißung auf das ewige Leben. Wir haben einen ähnlichen Gedanken in 2.Timotheus i, wo von der Kraft Gottes gesprochen und dann gesagt wird: „... der uns errettet hat und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben worden ista (Verse 8.9). Wie uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten Gnade gegeben wurde, so empfingen wir auch in Ihm vor ewigen Zeiten die Verheißung auf das ewige Leben. Diese Gnade und Liebe kann kein menschliches Herz erfassen. Doch das hindert uns nicht, uns in Anbetung vor Dem niederzuwerfen, der so an uns gedacht hat, ehe der Weltengrund gelegt war.
Doch warum heißt es „Hoffnung des ewigen Lebens“? Als Paulus diesen Satz schrieb, war es auch für ihn noch eine Hoffnung, also etwas Zukünftiges. Nun steht das keineswegs im Gegensatz zu der Tatsache, dass die Gläubigen schon heute ewiges Leben haben. Das zu zeigen ist allerdings mehr der Dienst des Johannes: „Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes“ (1. Joh 5,13).
Paulus hingegen sieht das ewige Leben oft als am Ende unseres Weges liegend. Besonders deutlich wird das in den letzten Versen von Römer 6: „Jetzt aber, von der Sünde freigemacht und Gott zu Sklaven geworden, habt ihr eure Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben. Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn“ (Verse 22.23).
Wenn der Heilige Geist die Dinge so darstellt, deutet Er auf das ewige Leben in Herrlichkeit hin. Insofern ist es eine Hoffnung. Sie wird sich indes nicht als trügerisch erweisen, gründet sie sich doch auf das Wort Dessen, „der nicht lügen kann“.
Diese glückselige Hoffnung darf uns auf unserem oft beschwerlichen Weg hier beflügeln. Es ist tatsächlich nicht auszudenken, Geliebte, was die Erfüllung dieser Hoffnung in Wahrheit bedeuten wird – wenn sich das ewige Leben in seiner ganzen Fülle wird entfalten können, wenn wir die Früchte davon vollkommen werden genießen dürfen, ja wenn wir kraft dieses Lebens Den sehen werden, der selbst das ewige Leben ist. – „Das wird allein Herrlichkeit sein.“