Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 2)
Die wachsende Saat
Der Evangelist Markus bietet uns ein kleines Gleichnis, das keiner der anderen Evangelisten erwähnt – das Gleichnis von der wachsenden Saat«. Dieser Umstand ist umso bedeutungsvoller, als Markus überhaupt nur wenige Gleichnisse und kaum längere Reden des Herrn vorstellt. Er hatte ja vom Heiligen Geist die Aufgabe, den Herrn Jesus als den wahren Knecht Jehovas (Jahwes) zu beschreiben, und in dieser Beziehung ist nun einmal das Tun das demütigere Werk als das Lehren.
Im vierten Kapitel des Evangeliums nach Markus, das den Dienst im Reich Gottes als Hauptgegenstand hat, finden wir jedoch einige Gleichnisse, zuerst das Gleichnis vom »Sämann« und dessen Erklärung durch den Herrn und anschließend das Gleichnis von der »Lampe«.
Mit beiden haben wir uns bereits beschäftigt, als die acht Gleichnisse von Matthäus 13 vor uns waren. Dann folgt hier anstelle des Gleichnisses vom »Unkraut im Acker« und vor dem Gleichnis vom »Senfkorn« das kleine Gleichnis von der wachsenden Saat«. Es nimmt in Markus zwar den Platz des Gleichnisses vom »Unkraut im Acker« ein, ist aber nicht mit diesem gleichzusetzen; denn es handelt sich um ein eigenständiges Gleichnis mit einer völlig anderen Botschaft. Unmöglich könnte man es auch nach Matthäus verpflanzen oder das Gleichnis vom »Unkraut im Acker« nach Markus verpflanzen, ohne den thematischen Gesamtzusammenhang hier wie dort empfindlich zu stören.
So ist das Reich Gottes
„Und er sprach: So ist dm Reich Gottes, wie wenn ein Mensch den Samen auf dm Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag, und der Same sprießt hervor und wächst, er weiß selbst nicht wie. Die Erde bringt von selbst Frucht hervor, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht es zulässt, schickt er sogleich die Sichel, denn die Ernte ist da“ (Mk 4,26–29).
Der Herr Jesus zeichnet hier ein weiteres Bild von dem Reich Gottes - jenem sittlichen Bereich auf der Erde, wo Gott sich offenbart und wo Er gekannt wird. Im Griechischen wie im Deutschen steht das »So« oder »Also« in betonter Stellung am Anfang des Satzes: So ist das Reich, so und nicht anders, ist die Bedeutung.
Dabei müssen wir bedenken, dass in jedem Gleichnis über das Reich Gottes jeweils nur ein bemerkenswerter Charakterzug hervorgehoben wird. Wendungen wie „So ist das Reich“ oder „Das Reich ist gleich“ müssen wir daher in dieser Weise verstehen: In einer bestimmten Beziehung gleicht das Reich diesem oder jenem Bild – hier einem Menschen, der Samen auf das Land wirft und dann weggeht und erst zur Ernte wiederkommt.
Es gibt natürlich noch andere Wesenszüge des Reiches, und andere Gleichnisse reden davon; aber hier wird dieser vorgestellt, und es gilt nun, ihn besonders ins Auge zu fassen.
Der Herr ist abwesend
Und was ist das Charakteristische in diesem kleinen Gleichnis? Dass der »Mensch«, der den Samen auf das Land wirft, in der Folgezeit abwesend ist. Seine Abwesenheit erstreckt sich über die ganze Zeit, während der der Same hervorsprießt und wächst und Frucht hervorbringt. Der Eigentümer bringt wohl den Samen zur Aussaat, aber dann kümmert er sich scheinbar nicht weiter darum, sondern er schläft und steht auf, Nacht und Tag, als habe er damit nichts weiter zu tun.
Wir können davon ausgehen, dass der »Mensch« unseres Gleichnisses dieselbe Person ist wie der »Sämann« im ersten Gleichnis, nämlich der Herr Jesus selbst. Das also ist das kennzeichnende Merkmal des Reiches Gottes in dieser bestimmten Beziehung: Der Herr, der das Werk begonnen hat, verlässt den Schauplatz, um erst zur Ernte wiederzukommen. In der Zwischenzeit wächst die Saat wie von selbst, und es hat den Anschein, dass Er sie nicht weiter beachtet.
Nun ist es überhaupt auffallend, dass die meisten Gleichnisse, die der Herr gesprochen hat, die Zeit beschreiben, während der Er abwesend ist. Denken wir nur an die drei Gleichnisse in Matthäus 24 und 25: das Gleichnis von dem »treuen und dem bösen Knecht«, das Gleichnis von den »zehn Jungfrauen« und das von den »Talenten«. Aber das Besondere an unserem Gleichnis ist, dass während der ganzen Zeit der Abwesenheit des Eigentümers auf dem Feld nichts Hervorzuhebendes passiert, nichts Augenfälliges getan wird. Auch der Eigentümer selbst unternimmt nichts weiteres im Blick auf die ausgestreute Saat, er überlässt sie sich selbst. Trotzdem wächst sie: Die Erde bringt von selbst Frucht hervor, zuerst einen Halm, dann eine Ähre und dann vollen Weizen in der Ähre.
Warum ist der Eigentümer scheinbar so unbekümmert, so untätig und widmet sich anderen Beschäftigungen des Lebens? Die Antwort ist beglückend: Weil er weiß, dass dem Samen eine Kraft innewohnt, die sich in neuem Leben entfalten wird. Und das ist es, was wir hier lernen sollen. Ob wir nun an den Dienst des Herrn Jesus selbst denken, den Er hier auf der Erde tat, oder ob wir das Gleichnis auf den „Dienst des Wortes“ beziehen, der heute durch Seine Knechte und in Seinem Auftrag geschieht (vgl. Apg 6,4) – das, was gesät wird, birgt Leben in sich. Dass der »Same« wie im ersten Gleichnis das Wort Gottes ist, bedarf keiner Frage. Dieses Wort ist Geist und Leben, und dieses Wort wirkt, wie uns i.Thessalonicher 2, Vers 13, bestätigt: „Das auch in euch, den Glaubenden, wirkt“.
Trost und Ermahnung
Nun, das ist Trost und Ermahnung zugleich. Im Gleichnis vom »Sämann« haben wir all die Feinde gesehen, die der Aufnahme des Wortes ins Herz des Menschen entgegenstehen. Da gibt es die »Vögel«, die »Dornen«, die sengende »Sonne« und dergleichen mehr.
Trotz alledem trägt das Wort Gottes eine Kraft in sich, so dass es das ausrichtet, wozu Er es gesandt hat. „Denn gleichwie der Regen und der Schnee vom Himmel herabfällt und nicht dahin zurückkehrt, er habe denn die Erde getränkt und befruchtet und sie sprossen gemacht, und dem Säemann Samen gegeben und Brot dem Essenden: also wird mein Wort sein, das aus meinem Munde hervorgeht; es wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird ausrichten, was mir gefällt, und durchführen, wozu ich es gesandt habe“ (Jes 55,10.11).
Tröstlicher Gedanke! Das Wort der Wahrheit des Evangeliums ist „fruchtbringend und wachsend“, und das „in der ganzen Welt“ (Kol 1,5.6). Und wenn auch die Feindschaft Satans groß und die Schwachheit der Diener des Herrn unübersehbar ist – das Wort Gottes setzt seinen Siegeszug fort. Aus den Anfangstagen des Christentums erfahren wir in Apostelgeschichte 12: „Das Wort Gottes aber wuchs und mehrte sich“ (Vers 24). Trotz aller „Herodesse“ der Welt ist das auch heute noch wahr. Wir mögen im Einzelnen nicht nachvollziehen können, auf welch geheimnisvolle Weise der Prozess verläuft – auch von dem »Menschen« im Gleichnis wird gesagt: „Er weiß selbst nicht wie“ –, dennoch wissen wir um die Leben spendende Kraft des »Samens«. Und das genügt uns. Auch der »Prediger« weist auf das verborgene Wirken Gottes hin und sagt: „Gleichwie du nicht weißt, welches der Weg des Windes ist, wie die Gebeine in dem Leibe der Schwangeren sich bilden, ebenso weißt du das Werk Gottes nicht, der alles wirkt.“ Aber dann fügt er die Ermunterung an: „Am Morgen säe deinen Samen, und des Abends ziehe deine Hand nicht ab; denn du weißt nicht, welches gedeihen wird: ob dieses oder jenes, oder ob beides zugleich gut werden wird“ (Pred 11,5.6). Beachten wir, dass er nicht sagt: „ob dieses oder jenes, oder keines von beiden ...“, sondern: „oder ob beides zugleich gut werden wird“.
So haben wir allen Grund, auf die Kraft des Wortes Gottes zu vertrauen, die es durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes besitzt. Damit kommen wir aber auch zu der Ermahnung, die in dem Gleichnis für uns liegt: Es kommt nicht auf unser Wirken, auf unsere Anstrengung, auf unser Wissen an. Wie Paulus und Apollos sind auch wir bestenfalls nur „Diener“ – Werkzeuge, die Gott benutzt, sei es zum Pflanzen oder zum Begießen (1. Kor 3,5 ff). Der jedoch das Wachstum gibt, ist Gott. Wie leicht übersehen wir das und messen uns und unserer Arbeit irgendeine Wichtigkeit zu!
Was im Gleichnis bei dem »Menschen« wie Unbekümmertheit oder Sorglosigkeit aussieht, ist in Wirklichkeit Vertrauen. Der »Mensch« schläft Nacht um Nacht und steht auf Tag um Tag, ohne sich um die Saat weiter Sorge zu machen. Er hat den Samen zur Aussaat gebracht, alles andere steht nicht mehr in seiner Hand. In dieser Gesinnung hat der Herr Jesus zu Anfang selbst gehandelt, und in dieser Gesinnung sollten Seine Nachfolger Sein Werk fortsetzen. Ließ Er sich nicht jeden Morgen das Ohr öffnen, damit Er hörte gleich solchen, die belehrt werden (Jes 50,4)? In wahrer Demut und Abhängigkeit sprach der Sohn Gottes die Worte Gottes aus. Nicht Seine Worte waren es, die Er redete, sondern die Worte Dessen, der Ihn gesandt hatte (Joh 12,49.5o; 14,10; 15,15). Ihm befahl Er denn auch die Ergebnisse Seines Werkes in denen an, denen Er Sein Wort gegeben hatte (Kap. 17,8.13.14). Wenn das die Gesinnung unseres Meisters war, der selbst „das Wort“ ist (Kap. 1,1–3), wieviel mehr sollte sie uns kennzeichnen, da wir doch in uns selbst nichts sind!
Das Wort Gottes, in der rechten Gesinnung ausgestreut, ist alles, was nötig ist. Es sorgt für sich selbst, denn es ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert (Heb 4,12). So reduziert unser Gleichnis das Reich Gottes auf diesen einen Punkt: das Vertrauen auf die Kraft, die Gott in den »Samen« hineingelegt hat.
Dieses Vertrauen ist heute in der Christenheit weitgehend geschwunden und hat weithin einer eigenwilligen Tätigkeit Platz gemacht. Haben vielleicht auch wir Kinder Gottes das Vertrauen in die Kraft des Wortes schon zum Teil verloren, und säen wir daher mehr oder weniger anderen »Samen«? Dann lasst uns die Belehrung dieses Gleichnisses zu Herzen nehmen und von dem Verhalten dieses »Menschen« lernen! Er überließ die Saat dem Walten eines Höheren. All unsere Bemühungen, die wir meinen, dem Wirken des Wortes noch hinzufügen zu müssen, behindern nur dessen Wirksamkeit.
Ausblick auf die Ernte
Wenn auch der »Mensch« die ganze Zeit über abwesend war, während der die Saat zur Frucht heranwuchs, so dürfen wir dies doch nicht als Gleichgültigkeit missdeuten. Gewiss, sein Handeln hätte gerade diesen Eindruck erwecken können: als interessiere er sich nicht sonderlich um sein Feld und dessen Frucht. Aber das ganze Gegenteil war der Fall: Er wartete auf den Augenblick, da die Frucht die volle Reife erlangt hatte. Offenbar hat er eben doch danach geschaut. Wie hätte er sonst feststellen können, dass die Frucht es nun zuließ, die Sichel zu schicken? So wissen wir, dass das Auge des Herrn auch heute auf Seinem »Feld« ruht. Wie könnte es anders sein? „Er zieht seine Augen nicht ab von dem Gerechten“ (Hiob 36,7).
Die Ernte selbst wird hier nicht weiter beschrieben – ganz im Gegensatz zum Evangelium nach Matthäus, das uns die verschiedenen Epochen oder Haushaltungen im Handeln Gottes mit den Menschen zeigt. Dort sendet der Herr zur Zeit der Ernte Seine Engel, hier schickt Er nur die »Sichel« als Zeichen dafür, dass die Erntezeit da ist. So wird das Gleichnis von zwei Eckpunkten eingerahmt, dem ersten Kommen des Herrn zum Beginn Seines Dienstes und Seinem zweiten Kommen zur
Beendigung dieses Dienstes im Einbringen der Ernte. Inzwischen wartet Er als der wahre »Ackerbauer« auf die köstliche Frucht der Erde und hat Geduld ihretwegen (vgl. Jak 5,7).
Das darf auch die Haltung derer sein, die Er heute zum Ausstreuen des »Samens« in Sein Werk berufen hat. Und Sein Wort an uns ist: „Habt nun Geduld, Brüder, bis zur Ankunft des Herrn.“ Zeit und Ausharren sind nötig, bevor die Ernte erfolgen kann. Doch dürfen auch wir in unserem geringen Teil vorausschauen auf die »Ernte«, wie Paulus es tat, wenn er zu den Gläubigen in Thessalonich sagt: „Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude oder Krone des Ruhmes? Nicht auch ihr vor unserem Herrn Jesus bei seiner Ankunft? Denn ihr seid unsere Herrlichkeit und Freude“ (1. Thes 2,19.20). Und wenn wir heute auch „mit Tränen säen“ mögen, wir werden einmal „mit Jubel ernten“ (Ps 126,5).