Einführung in das Buch Esther

Anhang: Über die Vorsehung Gottes

Einführung in das Buch Esther

Gottes Vorsehung nimmt – wie wir sahen – im Buch Esther einen besonderen Platz ein. Da es über die Vorsehung Gottes im Leben der Völker, der Menschen im Allgemeinen und der Gläubigen im Speziellen allerhand Missverständnisse zu geben scheint, ist es gut, darüber kurz nachzudenken.

Das deutsche Wort „Vorsehung“ entspringt dem Lateinischen (pro-video, d. h. „voraus“ und „sehen“) und bedeutet, dass man Ereignisse im Voraus sehen kann, bevor sie tatsächlich stattfinden. Es wird unmittelbar klar, dass kein Mensch die Zukunft im Voraus wissen und sehen kann. Salomo sagt: „Du weißt nicht, was ein Tag (gemeint ist der morgige Tage) gebiert“ (Spr 27,1). Wir mögen gewisse Dinge ahnen und vermuten. Wirklich vorhersehen und zuvor erkennen kann sie jedoch nur Gott. Als „Gott des Wissens“ (1. Sam 2,3) weiß Er um das Ende, bevor etwas überhaupt begonnen hat.

Das Wort „Vorsehung“ kommt in der Bibel nicht vor, wohl aber ein Verb, das mit „zuvor erkennen“, „von Anfang an kennen“ oder „vorher wissen“ (Apg 26,5; Röm 8,29; 11,2; 1. Pet 1,20; 2. Pet 3,17) übersetzt wird. Das entsprechende Hauptwort ist „Vorkenntnis“ (Apg 2,23; 1. Pet 1,2). Von diesem griechischen Wort ist unser Fremdwort „prognostizieren“ bzw. „Prognose“ abgeleitet. Es setzt sich aus den beiden Worten „voraus“ und „wissen“ zusammen. Allerdings treffen menschliche Prognosen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu, was bei Gott nicht der Fall ist. Er weiß genau, was passieren wird, und nicht nur das: Er führt die Dinge so, dass sie so passieren, wie Er es will. In Jesaja 46,10 sagt Gott: „...der ich von Anfang an das Ende verkünde und von alters her, was noch nicht geschehen ist; der ich spreche: Mein Ratschluss soll zustande kommen, und all mein Wohlgefallen werde ich tun“. Gottes Vorsehung verbindet sich also damit, dass Er in allem völlige Kenntnis über die Zukunft hat und seine Pläne immer realisiert.

Göttliche Vorsehung – so wie wir sie z. B. im Buch Esther finden – schließt ein, dass Gott im Vorhinein den Beschluss fasst, mit jemandem etwas Bestimmtes zu tun oder ihn für eine bestimmte Aufgabe auszuwählen. In diesem Sinn kann nur Gott etwas „vorsehen“. Er sieht es nicht nur, sondern Er handelt auf der Grundlage seiner Vorkenntnis. Er tut das entweder aktiv oder passiv.

Wenn Gott aktiv handelt, können wir es in der Regel erkennen. Manchmal ist Gottes Handeln klar erkennbar, weil Er direkt und sichtbar eingreift. Doch manchmal handelt Er indirekt, ohne dass wir es unmittelbar wahrnehmen. Dann sprechen wir von Vorsehung. In Psalm 11,4 lesen wir: „Der Herr ist in seinem heiligen Palast. Der Herr – in den Himmeln ist sein Thron; seine Augen schauen, seine Augenlider prüfen die Menschenkinder“. Der Thron im Himmel spricht von Regierung. Die Regierung Gottes ist für uns oft nicht sichtbar. Dennoch ist sie real. Das erkennen wir ganz deutlich im Buch Esther. Wir lernen dort folgendes über die göttliche Vorsehung:

1. Gott handelt für uns Menschen häufig nicht direkt erkennbar. Wir haben gesehen, dass der Schreiber des Buches Esther Gott nicht ein einziges Mal erwähnt und doch ist sein Handeln als Folge seiner Vorkenntnis mehr als deutlich erkennbar. Er verbirgt sich und hält zugleich alle Fäden in seiner Hand. Asaph schreibt: „Im Meer ist dein Weg, und deine Pfade sind in großen Wassern, und deine Fußstapfen sind nicht bekannt“ (Ps 77,20). Alles geschieht dennoch so, wie Er es will und wie es seinen Plänen und seinem Ratschluss entspricht. Das Ende des Buches macht das sehr deutlich. Am Anfang sah alles völlig anders aus. Mordokai sollte den Tod am Galgen finden, und alle Juden sollten ermordet werden. Am Ende kam es so, wie Gott es von Anfang an vorgesehen hatte. Aus Todesangst und Bedrohung wurde ein Sieg für die Juden. Mordokai wurde erhöht, und wir lesen vom „Wohl seines Volkes“ und von „Frieden“ (Kap 10,3).

Wir können für uns sicher sein, dass Gott sich nicht nur um das Schicksal von Völkern und Nationen kümmert, dass Ihn nicht nur die großen Dinge des Lebens interessieren, sondern dass Er selbst in den Details des Alltags seine Hand hat – für uns oft unsichtbar, doch deshalb nicht weniger real. Er sorgte z. B. dafür, dass der König eine schlaflose Nacht hatte und dass er nicht, wie es sonst häufig der Fall war – Frauen zu sich kommen, sondern sich die Chroniken geben ließ. Und Gott sorgte weiter dafür, dass er in den Chroniken über die Rettungstat Mordokais las. Er sorgte auch dafür, dass sich am folgenden Morgen ausgerechnet Haman im Hof des Königs befand. War alles das Zufall? Ganz sicher nicht! Gott führte es bewusst so, und damit nahm die ganze Geschichte eine gewaltige Wendung.

2. Gottes Vorsehung ist allumfassend. Es gibt keinen einzigen Umstand in unserem Leben, der nicht durch die Vorsehung Gottes abgedeckt ist. Wenn wir das Buch Esther durchgehen, finden wir das ganz deutlich. Es beginnt damit, dass der König ein Fest feiert und es endet damit, dass er ein zweites Dekret erlässt. Dazwischen finden eine Menge Dinge statt, die alle dazu beitragen, Gottes Plan zu erfüllen. Er hält eben alles in der Hand. Als Kinder Gottes wissen wir, dass alle Dinge zum Guten mitwirken (Röm 8,28).1 Es geht nicht nur um einige Ereignisse im Leben, sondern um alle Dinge. In Römer 11,36 sagt Paulus: „Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen“.

3. Gott benutzt nicht nur Umstände und Ereignisse, um seinen Vorsatz auszuführen, sondern Er benutzt dazu ebenfalls Menschen – gottesfürchtige und gottlose Menschen. Im Buch Esther geschieht der Wille Gottes nicht nur durch Mordokai und Esther, sondern z. B. auch durch den bösen Haman. Dabei können wir – wenn Gott in seiner Vorsehung Menschen benutzt – sicher sein, dass Gottes Handeln nie der eigenen Verantwortung eines Menschen widerspricht oder sie wegnimmt. Kein Mensch ist einfach eine „Marionette“ Gottes, sondern Gott hat uns Menschen so geschaffen, dass wir eigene Entscheidungen treffen können. Im Buch Esther sehen wir das deutlich bei Haman, dem Judenhasser. Sein eigenes Verhalten führte am Ende dazu, dass er selbst an dem von ihm errichteten Galgen gehängt und die Juden, die er vernichten wollte, gerettet und erhöht wurden. Menschen mögen so etwas „Ironie des Schicksals“ nennen. Doch das ist es nicht. Gott steht dahinter, und zugleich trifft jeder Mensch seine eigene freie Entscheidung. Gott zwingt Menschen auf dieser Erde nicht einfach, etwas zu tun oder zu lassen. Haman war für das, was er tat, voll und ganz verantwortlich. Gleiches galt für den König. Er traf seine eigenen Entscheidungen. Dies gilt auch für das, was Mordokai und Esther taten.

4. Gleichzeitig steht ebenfalls fest, dass Gott souverän ist und jeder Mensch in Ihm „lebt und webt“ (Apg 17,28b). Kein Mensch kann irgendetwas tun, das Gott nicht will. Im Fall von Haman können wir es so formulieren: Haman stellte letztendlich seinen eigenen Galgen auf, an dem Gott ihn aufhängte. Diese Souveränität Gottes dürfen wir nicht unterschätzen. Gott ist so groß, dass Er Menschen eigene Entscheidungen treffen lässt und doch zugleich alles so führt, wie es seinem Plan entspricht. Das sind zwei Seiten einer Münze, die wir nie gleichzeitig anschauen können. Menschliche Philosophie versucht gerade das zu tun und zu ergründen und wird immer scheitern. „Das Verborgene ist des Herrn, unseres Gottes; aber das Offenbarte ist unser und unserer Kinder in Ewigkeit“ (5. Mo 29,28).

5. Göttliche Vorsehung erreicht immer das von Gott gewünschte Ziel. Im Buch Esther ist das einerseits die Rettung Mordokais, Esthers und aller Juden im persischen Reich. Andererseits ist es die Vernichtung des Feindes Haman. Wir erkennen darin unschwer das Ziel Gottes mit dieser Erde. In der „Fülle der Zeiten“ (Eph 1,10) – das ist das 1000-jährige Reich – kommt Gott mit dieser Schöpfung zu seinem Ziel: Alles wird unter die Regierung des Sohnes des Menschen gestellt. Zugleich wird die Macht des Feindes dann gebrochen und der Satan 1000 Jahre ausgeschaltet sein. Doch das gilt auch für unser Leben. Gott hat einen Plan und ein Ziel, und wir können sicher sein, dass Er in seiner göttlichen Vorsehung das Ziel erreichen wird.

Die Botschaft Gottes im Buch Esther ist nicht zu überhören. Gott handelt – wenngleich oft unsichtbar – durch Ereignisse und Menschen, um sein Ziel zu erreichen. Kein Mensch kann sich dem widersetzen. Das stärkt unser Vertrauen in unseren Gott – und zwar gerade dann, wenn wir sein Handeln in Vorsehung nicht erkennen und verstehen. Elihu sagt zu Hiob: „Warum hast du gegen ihn gehadert? Denn über all sein Tun gibt er keine Antwort“ (Hiob 33,13). Wenn wir das Ziel erreicht haben, werden wir alles verstehen, was Gott in unserem Leben zu unserem Guten getan hat. Alles wird dann zu seiner Ehre und Verherrlichung sein.

Fußnoten

  • 1 Wir wollen beachten, dass dort nicht steht, dass wir verstehen oder glauben, dass alle Dinge zum Guten mitwirken. Wir verstehen es ganz sicher nicht immer, und leider glauben wir es auch nicht immer. Doch Paulus spricht bewusst davon, dass wir es wissen.
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