Einführung in das Buch Esther
7. Die prophetische (manchmal typologische) Bedeutung
Es fällt auf, dass das Buch Esther nicht in das Buch Esra integriert ist, obwohl die beschriebenen Ereignisse zeitlich zwischen die Kapitel 6 und 7 fallen. Ein Grund dafür ist, dass beide Bücher einen völlig anderen Charakter haben. Das Buch Esra hat vor allem eine typologische Bedeutung. Es spricht von dem Tempel als Wohnort Gottes und seiner vorbildlichen Bedeutung für unsere Zeit. Ähnliches gilt für Nehemia. Das Buch Esther hingegen hat einen ausgeprägt prophetischen Charakter.
Es gibt fünf Hauptpersonen im Buch Esther, die eine besondere Rolle spielen und uns den prophetischen Charakter deutlich zeigen.
a) Der König Ahasveros: Er ist der persische Monarch zur Zeit Esthers. Sein Name wird 29 Mal erwähnt und kann mit „Fürst der Fürsten“ übersetzt werden. Sein Charakter entsprach dem der persischen Monarchen, d. h., er war egozentrisch, aufbrausend und in seinen Entscheidungen oft sehr spontan. Viele Ausleger sehen dennoch in dem König einen Hinweis auf die Allmacht Gottes – und zwar nicht als Person oder in allen Einzelheiten seines Handeln, sondern in seiner herrschenden und regierenden Macht1. Sein Verhalten ist in der Tat durchaus nicht immer vorbildhaft. Dennoch ist er derjenige, der hinter den Kulissen wichtige Entscheidungen trifft.
b) Vasti: Vasti ist zu Beginn des Buches Königin, d. h., sie ist eng mit dem König verbunden. Sie muss eine besonders schöne Frau gewesen sein. Als er sie jedoch zu sich ruft, um anderen ihre Schönheit zu zeigen, verweigert sie sich. Als Reaktion darauf wird sie als Königin abgesetzt und tritt nicht weiter in Erscheinung. Vermutlich wurde sie umgebracht. Sie ist eine Ehefrau aus den Nationen, die deshalb verstoßen wird, weil sie sich nicht ihrer Stellung entsprechend verhält und nicht bereit ist, ein Zeugnis abzulegen. Vasti symbolisiert die untreue Christenheit, die als Gottes Zeuge auf der Erde versagt hat und abgesetzt wird2. Es geht um den Teil der Christen, der nur ein Bekenntnis (eine Form der Gottseligkeit) hat, ohne Leben aus Gott zu besitzen. Über diesen ungläubigen Teil der Christenheit fällt das Neue Testament das Urteil: „So, weil du lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund“ (Off 3,16).
c) Mordokai: Mordokai war ein treuer Jude, der sich liebevoll um Esther kümmerte, die seine Verwandte und eine Waise war. Er hatte große Liebe zu seinem Volk und wurde derjenige, den Gott gebrauchte, um sein Volk zu retten. Sein kurzer Stammbaum wird uns in Kapitel 2,5 gegeben. Er war ein Sohn des Kis, ein Benjaminiter. König Saul, ebenfalls der Sohn eines Benjaminiters mit Namen Kis, hatte den König von Amalek im Ungehorsam verschont (1. Sam 15). Hier wird der Sohn eines anderen Kis von einem Amalekiter bedroht. Am Ende führte er das Gericht aus, das Gott bereits in 2. Mose 17,16 über Amalek angekündigt hatte. Mordokai ist ohne Frage ein Hinweis auf Christus in seiner künftigen Erhöhung als Sohn des Menschen. Diese Herrlichkeit erreichte Er, nachdem Er vorher verfolgt wurde, durch tiefe Leiden und den Tod gehen musste3. Der völlige Triumph der Juden über ihre Feinde, ihre Freude und ihr Friede werden am Ende des Buches beschrieben. Sie symbolisieren die Zeit, in der der Messias auf der Erde regieren wird. Das Buch Esther weist somit in besonderer Weise auf Christus – und zwar als den Sohn des Menschen – hin, der einmal alle Ehre empfangen und über alle Werke der Hände Gottes regieren wird (Ps 8,7; Eph 1,10). Das letzte Kapitel des Buches spricht eindrucksvoll von seiner Regierung im 1000-jährigen Reich und dem damit verbundenen Segen für Israel. Gott hat Freude daran, uns mit der Herrlichkeit des Sohnes des Menschen zu beschäftigen.
d) Esther: Esther war eine junge Jüdin, die als Vollwaise völlig von der Gunst anderer (zuerst von Mordokai und dann von Ahasveros) abhängig und von ihrem Cousin (oder Onkel) Mordokai adoptiert worden war. Ihr jüdischer Name ist Hadassa, während ihr persischer Namen Esther lautet. Sie zeichnet sich durch Gehorsam, Treue und Hingabe aus und beweist im entscheidenden Moment Mut und Zivilcourage. Sie wird ebenfalls das Instrument zur Rettung ihres Volkes.
Damit ist sie ein treffliches Vorbild auf den kommenden Überrest der Juden. Er hat keinerlei Recht darauf, dass der Messias ihm hilft. Er hat kein Recht auf Gnade. Dennoch wird Gott sich diesem Überrest zuwenden und ihn annehmen. Er wird ihnen „Zeiten der Erquickung“ geben und den „zuvor bestimmten Christus Jesus“ senden (Apg 3,20).4 Doch zunächst wird das Volk Esthers in größte Bedrängnis geraten.
Esther ist die jüdische Ehefrau des Königs Ahasveros. Sie wird seine Frau, nachdem er Vasti verstoßen hat. Dieser Vorgang illustriert die Wahrheit, die Paulus in Römer 11 vorstellt. Dort geht es darum, dass das Christentum als Zeugnis Gottes auf der Erde völlig versagt (Vasti) und Gott seine Beziehung zu seinem irdischen Volk Israel in dem Überrest der Juden (Esther) wieder aufnimmt. Esther ist also – genauso wie Ruth – ausdrücklich kein Bild der himmlischen Braut Christi (der Gemeinde), sondern der irdischen Braut (Israel). Paulus schreibt: „Denn wenn du (das sind die Christen) aus dem von Natur wilden Ölbaum (das sind die Nationen oder Menschen, die keinen Anteil an dem Segen Gottes hatten) ausgeschnitten und gegen die Natur in den edlen Ölbaum (das ist die Linie des Segens durch Abraham) eingepfropft worden bist, wie viel mehr werden diese, die natürlichen Zweige (das ist Israel), in ihren eigenen Ölbaum (das ist der edle Ölbaum) eingepfropft werden! Denn ich will nicht, Brüder, dass euch dieses Geheimnis unbekannt sei, damit ihr nicht euch selbst für klug haltet: dass Israel zum Teil Verhärtung widerfahren ist, bis die Vollzahl der Nationen eingegangen ist (Ende der Zeit der Gnade); und so wird ganz Israel errettet werden“ (Röm 11,24–26).
e) Haman: Haman ist der große Feind Mordokais und der Juden. Sein Name bedeutet „Empörer“ oder „Widersacher“ und ist damit Programm. Er war ein Agagiter (vgl. Kap 3,1.10; 8,3.5; 9,24), d. h. ein Amalekiter5. Agag scheint ein Titel der Könige der Amalekiter gewesen zu sein (4. Mo 24,7; 1. Sam 15,8). Die Amalekiter waren die ersten Feinde Israels nach dem Durchzug durch das Rote Meer. Haman war ein hochrangiger Diener am Hof des Königs und wird „der böse Haman“ und der „Feind der Juden“ genannt. Das war er in der Tat. Voller Hass und Intrigen versuchte er die Juden völlig zu vernichten – was am Ende gründlich misslang.
Haman ist ein Bild des zukünftigen Feindes, dem sich Israel gegenübersehen wird. Einige Ausleger weisen darauf hin, dass der Zahlenwert der hebräischen Buchstaben des Ausdrucks „dieser böse Haman“ (Kap 7,6) 666 beträgt und verbinden das mit der Zahl des Antichristen (Off 13,18). Dabei ist allerdings Vorsicht geboten, denn wenn wir den Text in Offenbarung 13 sorgfältig lesen, wird deutlich, dass 666 die Zahl des ersten Tieres ist, d. h. des römischen Weltherrschers und nicht die des Antichristen. Es ist dennoch naheliegend, in Haman ein Bild des Antichristen zu sehen, besonders jedoch ein Bild Satans, dessen Werkzeug dieser Mann sein wird. Der eigentliche Widersacher ist tatsächlich Satan, der immer wieder versucht hat, Christus und das Volk der Juden auszurotten (vgl. Off 12).
H. Rossier schreibt zusammenfassend: „Die göttliche Macht ist in einer Person vereinigt. Der Erretter wird zu königlicher Würde erhoben und gekrönt. Der erklärte Feind des Volkes wird gerichtet und verurteilt, die heidnische Gemahlin verstoßen, die jüdische Gemahlin aus ihrer Gefangenschaft herausgeführt und zur Frau des großen Königs erhoben. Der Überrest geht durch die große Drangsal bis der Befreier eingreift. Frieden und Freude folgen auf die große Befreiung“.6 Ein anderer Ausleger schreibt: „Die Begebenheiten im Buch Esther sind von höchstem Interesse für den Bibelleser, weil sie eine große prophetische Bedeutung enthalten. In diesem Buch schatten viele Dinge das Handeln Gottes mit den Juden voraus, nachdem die abgefallene Christenheit von ihm nicht mehr anerkannt wird. So wie Gott in jenen Tagen wirkte, um die Juden vom teuflischen Plan Hamans, sie umzubringen, zu retten, wird Er auch in der Zukunft (der großen Drangsal) den göttlichen jüdischen Überrest in der großen Verfolgung des Tieres und des Antichristen erretten. Am Ende ragt ein Mensch (Mordokai) über allen anderen heraus, dem Herrlichkeit und Ehre gegeben wird. Er ist ein Bild des Herrn Jesus Christus“.7
Das ist die große prophetische Linie, die das Buch durchzieht. Dabei müssen wir jedoch vorsichtig sein und nicht jedes berichtete Detail prophetisch deuten. Es geht um die große Linie.
Fußnoten
- 1 Grundsätzlich darf es uns nicht wundern, dass ein heidnischer König auf Gott hinweist. Denken wir nur an den Pharao in 1. Mose 41 (ein Hinweis auf Gott, der den Herrn Jesus erhoben, erhöht und sehr hoch gemacht hat) oder an König Kores, der deutlich auf den Herrn Jesus hinweist (Jes 44,28; 45,1). Einige Ausleger gehen soweit zu sagen, Ahasveros sei ein Bild von Gott. Das mag richtig gemeint sein, scheint mir jedoch etwas zu weit zu gehen, denn viele Aussagen über Ahasveros zeigen ihn in einem Charakter, der alles andere als göttlich ist. Er zeigt sich häufig in plötzlichem Jähzorn, in Unberechenbarkeit als echter orientalischer Despot, der keine Mühe damit hat, den Befehl zu geben, ein ganzes Volk einfach abzuschlachten.
- 2 Gemeint ist ausdrücklich nicht die Versammlung nach dem Ratschluss Gottes, die aus allen besteht, die in der Zeit der Gnade das Evangelium des Heils annehmen und mit dem Heiligen Geist versiegelt sind.
- 3 Im Gegensatz zu Christus wurde Mordokai nur mit dem Tod bedroht. Christus hingegen musste den Tod „schmecken“.
- 4 Der hebräische Name lautet Hadassa und bedeutet Myrte. Myrten sind immergrüne Bäume oder Sträucher, die prächtig blühen und angenehm duften. Sie kommen nur noch an vier Stellen im Alten Testament vor (Neh 8,15; Jes 41,19; 55,13; Sach 1,8-11). Ein Vergleich zeigt, dass die Myrte in der Bibel mit dem Segen und der Wiederherstellung Israels im 1000-jährigen Reich zusammenhängt. Das bestätigt die Auffassung, dass Esther prophetisch von dem Überrest spricht, der durch große Leiden in das Reich eingehen wird.
- 5 Die Amalekiter waren ein Volk und Feind im Land Palästina, mit dem Israel in der Zeit der Richter und der frühen Könige häufig um Landbesitz kämpfte. Die Herkunft der Amalekiter ist nicht eindeutig zu klären. Einerseits war Amalek ein Enkel Esaus (1. Mo 36,12), andererseits lesen wir bereits in 1. Mose 14,7 von Amalekitern. Bereits in der Wüste wurde Israel nach dem Auszug aus Ägypten von Amalekitern angegriffen und geschlagen. Dort hatte Gott gesagt, dass er das Gedächtnis Amaleks „ganz und gar unter dem Himmel austilgen werde“, denn „Krieg hat der Herr gegen Amalek von Geschlecht zu Geschlecht“ (2. Mo 17,14.16). Von Bileam stammt der interessante Ausspruch: „Die erste der Nationen war Amalek, aber sein Ende ist zum Untergang“ (4. Mo 24,20). Amalek war also nach Ägypten zeitlich gesehen der erste Feind des Volkes Gottes. Die Feindschaft blieb bis in die Zeit der frühen Könige. Danach lesen wir – außer in Psalm 83,8 – von Amalek nichts mehr. Gott hatte seine Ankündigung gegen Amalek früh wahrgemacht. Haman war allerdings ein Nachkomme dieses alten Feindes des Volkes Gottes.
- 6 H. Rossier: Méditations sur le Livre d‘Esther
- 7 B. Anstey: Esther, A Prophetic Application