Einführung in das Buch Esther
5. Eine Besonderheit im Buch Esther
Das auffallende Merkmal des Buches ist bereits erwähnt worden. Erstens wird der Name Gottes nicht genannt und zweitens fehlt jeder Hinweis auf religiöse Handlungen, wie z. B. Gebete, Opfer oder das Halten der Festtage1. Das Gesetz Gottes wird ebenfalls nicht erwähnt.2 Die Stadt Jerusalem wird nur ein einziges Mal – und zwar im Rückblick – genannt (Kap 2,6). Von dem Tempel lesen wir ebenfalls nichts. Das zusammengenommen unterscheidet das Buch Esther von jedem anderen Buch im Alten Testament. Während des Exils der Juden wurden zum Beispiel die Bücher Daniel und Hesekiel verfasst. Die Ereignisse im Buch Esra finden etwa zur gleichen Zeit statt, die im Buch Nehemia etwas später. In diesen Büchern ist Gott durchaus nicht verborgen. Er wird als Gott angerufen und antwortet auf Gebet. Es werden Opfer gebracht und Festtage gehalten. Das Gesetz Gottes spielt eine große Rolle. Selbst heidnische Könige fallen vor Ihm nieder und bekennen Ihn als Gott. Im Buch Esra sendet Gott sogar Propheten. Im Buch Esther ist das ganz anders.
Es muss einen Grund dafür geben, dass Gott sich verborgen hält, und er ist nicht schwer zu finden. Es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen den Juden, die nach Jerusalem zurückkehrten und denen, die im Perserreich blieben. Die einen waren dem Ruf Gottes gefolgt, die anderen nicht. Die einen bekannten sich zu Gott, die anderen nicht. Sie fühlten sich offensichtlich in der Fremde sehr wohl und hatten kein Interesse an dem Land ihrer Väter und an dem Ort, an dem Gott seinen Namen wohnen lassen wollte.3 Dabei hatte Gott die Juden schon vor der Gefangenschaft ausdrücklich aufgefordert, Babel zum gegebenen Zeitpunkt wieder zu verlassen (Jes 48,20; Jer 50,8 51,6). Diesen Aufforderungen waren sie nicht nachgekommen. Das bestätigt die Vermutung, dass die Juden im persischen Exil nicht nach Gottes Willen lebten. Sie missachteten weitgehend ihre Verpflichtungen, die Gott ihnen gegeben hatte. Dazu zählen auch Esthers und Mordokais Eltern. Es fällt zumindest auf, dass nicht berichtet wird, dass sie beteten. Esther gibt ihre nationale Identität bewusst nicht bekannt4 und scheint darüber hinaus kein Problem gehabt zu haben, die Tafelkost des Königs zu essen.
In seinen Regierungswegen bekannte Gott sich nicht zu den Juden, die noch im Perserreich waren, weil sie sich nicht zu Ihm bekannten. Die öffentliche Beziehung zu Gott war gestört. Deshalb offenbart Gott sich diesen Juden, die nicht mit Serubbabel und Jeschua zurückgekehrt waren, nicht. Er bleibt verborgen. W. Kelly schreibt: „Gott spricht hier von seinem irdischen Volk, das sich in Umständen befand, in denen Er seinen Namen nicht in Verbindung mit ihnen nennen konnte, weil sie sich nicht in dem richtigen Zustand und an dem richtigen Ort befanden. Genau gesagt nehmen sie ihre Stellung als Volk Gottes dort überhaupt nicht mehr ein“.5 J.N. Darby formuliert es so: „Es ist oft bemerkt worden, dass der Name Gottes im Buch Esther nicht zu finden ist. Das ist kennzeichnend. Gott zeigt sich nicht. Doch hinter der Macht und den Fehlern jenes Thrones, dem die Regierung der Welt zugefallen ist, hält Gott die Zügel durch seine Vorsehung; Er wacht darüber, dass seine Vorsätze erfüllt werden. Er sorgt für sein Volk, wie immer ihr Zustand oder die Macht ihrer Feinde sein mögen“.6 In seiner Gnade handelt Er mit seinem Volk in Vorsehung – und zwar so, wie sie es nicht verdient haben. Es trifft zu, was Elihu sagt: „Wenn du auch sagst, du schaust ihn nicht – die Rechtssache ist vor ihm; so harre auf ihn“ (Hiob 35,14).
Fußnoten
- 1 Lediglich das Fasten als Ausdruck von Entsetzen und Trauer wird dreimal erwähnt (Kap 4,3.16; 9,31). Es ist der einzige indirekte Hinweis, der überhaupt etwas mit Religion im weitesten Sinn zu tun hat.
- 2 Eine Ausnahme bildet Kapitel 3,8. Dort spricht jedoch Haman über die Gesetze (das sind die Anordnungen) der Juden.
- 3 Das ist umso auffallender, weil wir gerade im Buch Esra davon lesen, dass nur relativ wenige Priester und noch weniger Leviten nach Jerusalem zurückgekehrt waren. Sie waren offensichtlich in Persien geblieben. Doch von einem Interesse an den Dingen Gottes finden wir nichts.
- 4 Es fällt ebenfalls auf, dass ihr hebräischer Name (Hadassa) nur ein einziges Mal genannt wird (Kap 2,7), während sie sonst immer mit ihrem persischen Namen (Esther) bezeichnet wird. Im Buch Daniel ist das völlig anders. Daniel wird überwiegend mit seinem jüdischen Namen (Daniel) bezeichnet.
- 5 W. Kelly: The Book of Esther
- 6 J.N. Darby: The Book of Esther (in: Synopsis of the Books of the Bible)