Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 24
Wir sehen in dieser Weissagung unseres Herrn eine bemerkenswerte Bestätigung jenes Prinzips Gottes, daß Er nie den Blick auf die Gerichtszukunft über die Widerspenstigen und die Befreiung für Sein Volk öffnet, bevor nicht die Sünde sich soweit entwickelt hat, um nur noch den völligen Ruin aufzuzeigen. Nimm das allererste Beispiel in der Bibel! Wann wurde gesagt, daß der Same des Weibes der Schlange den Kopf zertreten sollte? Als die Frau von dem Feind durch seine Schlingen umgarnt und der Mann in Übertretung gefallen – als die Sünde in die Welt gekommen war und durch die Sünde der Tod! Auch wurde die Prophezeiung Henochs, wie sie uns Judas berichtet, erst ausgesprochen, als die Langmut Gottes mit der damaligen Welt fast zu Ende war und die Flut bevorstand, um ein Zeugnis von Gottes Gericht über die Verderbtheit und Gewalttat des Menschen abzulegen.
Wenn vor der Austreibung aus Eden ein erster Hinweis auf Christus sowie vor der Sintflut ein Zeugnis von dem Kommen des Herrn im Gericht mitgeteilt werden, erkennen wir, daß offensichtlich die Prophetie auf den Plan tritt, nachdem der Mensch völlig versagt hat. Das sehen wir auch im nächsten Beispiel. Als sich in seiner Familie und auch bei ihm selbst Verwirrung und Versagen geoffenbart hatten, wurde Noah vom Heiligen Geist geleitet, einen prophetischen Überblick über die Geschichte der ganzen Welt zu geben. Er begann mit dem Verderben jenes Sohnes, der seinen Vater zu dessen eigener Schande verachtet hatte, und ging dann zu den Segnungen Sems und dem Teil Japhets über.
So war es auch später bei den Prophezeiungen Bileams und Moses – ja, „auch alle Propheten, von Samuel an und der Reihe nach.“ (Apostelgeschichte 3,24). Samuel kennzeichnet jene Epoche, welche das Neue Testament als den Anfang der langen Reihe von Propheten bezeichnet. Warum? Damals gab Israel offen Gott als seinen König auf und führte jene Sünde aus, die es zum erstenmal in der Wüste erwogen hatte, als es einen Führer suchte, um nach Ägypten zurückzukehren. Ein Höhepunkt seines Stolzes war erreicht. Dabei lag seine Glückseligkeit darin, als Volk von allem rundumher durch und zu Jehova, ihrem Gott, abgesondert zu sein. Er würde ihnen ganz gewiß einen König Seiner Wahl gegeben haben, wenn sie gewartet und nicht selbst gewählt hätten. Da sie wie die Nationen sein wollten, verunehrten sie Gott und brachten unfehlbare Herabwürdigung und Leid über sich.
Derselbe Grundsatz gilt ebenfalls und sehr auffallend für die Zeit, in der die großen prophetischen Bücher – Jesaja, Jeremia, usw. – geschrieben wurden. Jede gegenwärtige Hoffnung war entflohen. Die Söhne Davids bewirkten keine Befreiung mehr, sondern häuften nur einen schwereren Fluch durch ihre sich auftürmende Ungerechtigkeit und ihre ruchlosen Schmähungen des wahren Gottes auf das Volk. So war Gott sittlich gezwungen, über die Nation Sein „Lo-Ammi. . . nicht mein Volk“ auszusprechen (Hosea 1,9). Vor, während und nach der Gefangenschaft legte der Geist der Prophetie die Sünden der Könige, Priester, Propheten und des Volkes bloß, wies jedoch auch das Herz auf den kommenden Messias und den neuen Bund hin. In unserem Evangelium sahen wir, wie der Messias wirklich kam und dennoch zunehmend und vollständig von Israel verworfen wurde. Damit verschmähten sie auch alle ihre Verheißungen und Hoffnungen in Ihm. Jetzt, vor dem nahen Bevorstehen Seines Todes von ihrer Hand – in sich selbst der ärgste Tod, den sie bewirken konnten – nimmt Er den Faden der prophetischen Vorhersagen wieder auf.
„Und Jesus trat hinaus und ging von dem Tempel hinweg.“ (V. 1). Was war dieser jetzt? – Ein toter Körper und nicht mehr! „Siehe, euer Haus wird euch öde gelassen.“ (Matthäus 23,38). „Und seine Jünger traten herzu, um ihm die Gebäude des Tempels zu zeigen. Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Sehet ihr nicht alles dieses? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen wird.“ Die Herzen der Gläubigen waren damals, wie auch heute viel zu oft, mit dem äußeren Anblick und der großen Prachtentfaltung im Gottesdienst erfüllt. Die Aureole ihrer Verbindung mit der jüdischen Religion stand noch strahlend vor den Augen der Jünger. Aber Jesus sprach Sein Urteil über alles aus, was sogar sie auf der Erde bewunderten. Als Er den Tempel verließ, gab es in Wirklichkeit nichts mehr, was diesem einen Wert in den Augen Gottes verlieh. So ist es immer. Unabhängig von Jesus – was gibt es in dieser Welt außer hohlem Schein oder Schlimmeres? Wie befreit der Herr die Seinen von der Macht der Überlieferung und jeder anderen Anziehungskraft für das Herz? Er teilt Seine eigenen Gedanken mit und wirft das Licht der Zukunft auf die Gegenwart. Wie oft verrät sich ungerichtete Weltlichkeit im Herzen eines Christen durch den Mangel an Verlangen, daß Gott Seine zukünftigen Wege offenbare! Wie kann ich mich am Kommen des Herrn erfreuen, wenn es vieles zerstört, was ich in dieser Welt aufzubauen suche? Ein Mensch mag zum Beispiel große Anstrengungen machen, durch sein Können eine Stellung in dieser Welt zu gewinnen und zu bewahren. Dabei hofft er, daß seine Söhne ihn durch diese besseren Voraussetzungen noch übertreffen werden. Auf solche Gedanken ist jede menschliche Größe gegründet. So ist „die Welt“. Die Wiederkehr Christi ist eine Wahrheit, die das ganze Gebilde zusammenstürzen läßt. Wenn wir wirklich nach Seinem Kommen als ein Ereignis, das jeden Tag eintreffen kann, ausschauen – wenn wir verwirklichen, daß wir als Knechte mit der Hand an der Klinke hinter die Tür gestellt worden sind, um auf Sein Anklopfen zu warten (wir wissen nicht wie bald), und den Wunsch haben, Ihm sofort zu öffnen („Glückselig jener Knecht!“; V. 45) – wenn das unsere Einstellung ist, wie könnten wir dann die Zeit oder das Herz haben für Dinge, mit denen sich diese rührige Welt beschäftigt, die Christus vergessen hat? Darüber hinaus sind wir nicht von der Welt, gleichwie Christus nicht von der Welt ist. Dieser werden nie die Mittel und die Ausführenden fehlen, um ihre Pläne und Ziele zu verwirklichen. So wird es immer sein. Wir haben jedoch eine höhere Aufgabe; und es ist uns zu gering, die Ehren der Welt zu suchen. Mag unsere weltliche Stellung hienieden noch so niedrig und beschwerlich sein – was ist so herrlich, wie in diesen Umständen dem Herrn Christus zu dienen? Und Er kommt bald!
Am Kreuz sehe ich, wie Gott sich erniedrigte. Der Einzige, Dem alle Größe gehört, macht sich um meiner Seele willen zu nichts – Der Einzige, Der allem befiehlt, wurde um des Verworfensten willen ein Knecht. Niemand kann die Wahrheit des Kreuzes aufnehmen, er habe denn bis zu einem gewissen Grad seinen Wandel mit dessen Geist in Übereinstimmung gebracht. Doch manche Heilige Gottes sehen das Kreuz nicht so sehr als die Kraft, durch welches ihnen die Welt gekreuzigt ist und sie der Welt, sondern vielmehr als das Heilmittel, durch welches sie sich von aller Furcht befreit jetzt einen bequemen Platz in dieser Welt bereiten können. Ein Christ sollte der Glücklichste unter den Menschen sein. Sein Glück besteht indessen nicht in den Dingen, die er auf der Erde besitzt, sondern die er, wie er weiß, mit Christus zusammen genießen wird. In der Zwischenzeit sollte unser Dienst und unser Gehorsam dem Geist des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus nachgebildet sein. Am Kreuz offenbarten sich die Bosheit des Menschen und die Gnade Gottes vollständig. Dort traf alles zusammen. Darum sagt die Bibel so oft dem Sinn nach: „Es ist aber nahe gekommen das Ende aller Dinge.“ (1. Petrus 4,7). Alles, was zur sittlichen und haushälterischen Handlungsweise Gottes mit dem Menschen gehört, wurde dort herausgestellt.
In Verbindung damit entfaltete der Herr noch nicht unser Teil als Christen. Statt dessen ließ Er die Jünger dort, wo sie sich damals befanden. Sie waren gläubige, gottesfürchtige Juden. In ihren Gedanken gehörten Christus und der Tempel zusammen. Sie wußten, daß Er der Messias Israels war, und dachten, daß Er die Römer richten und den zerstreuten Samen Abrahams von den vier Winden der Erde her sammeln würde. Sie erwarteten, alle Prophezeiungen über das Land und die Stadt erfüllt zu sehen. Zu dieser Zeit dachten die Jünger nicht im geringsten daran, daß Jesus in den Himmel gehen und dort eine lange Zeit bleiben könnte. Die Zerstreuung Israels und die Einführung der Nichtjuden in die Erkenntnis Christi lag außerhalb ihrer Denkweise. Folglich beginnt diese große Prophezeiung auf dem Ölberg mit den Jüngern und ihrem damaligen Zustand. Ihre Herzen waren zu sehr mit den Gebäuden des Tempels beschäftigt. Aber der Herr kündete als der schon Verworfene an: „Hier wird nicht ein Stein auf dem anderen gelassen werden, der nicht abgebrochen werden wird.“ Diese Äußerung erweckte sehr den Wunsch in den Jüngern zu erfahren, wie dies geschehen sollte. Sie verstanden aus der Prophetie, daß Israel eine Zeit jammervoller Leiden zu gewärtigen hatte, konnten diese Voraussage jedoch nicht mit den vorhergesagten Segnungen in Übereinstimmung bringen. Darum fragten sie Ihn: „Wann wird dieses sein, und was ist das Zeichen deiner Ankunft und der Vollendung des Zeitalters?“ (V. 3).
„Deine Ankunft“ bedeutet die Anwesenheit des Herrn unter ihnen auf der Erde; und die „Vollendung des Zeitalters“ ist etwas ganz anderes als das Ende der Welt. Sie spricht vom Abschluß jener Zeitspanne, in der unser Herr nicht bei den Juden sein würde. Die Jünger wünschten, das Zeichen Seiner Anwesenheit zu kennen. Sie wußten, daß die erwähnte Verwüstung unvereinbar mit der Herrschaft des Messias über sie war. Darum wollten sie erfahren, wann die Zeit der Drangsal kommen und was das Zeichen Seiner Ankunft sein würde, welche jene Not beenden und unaufhörliche Freude bringen sollte.
„Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Sehet zu, daß euch niemand verführe! denn viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! und sie werden viele verführen.“ (V. 4–5). In den Briefen des Apostels Paulus wird genaugenommen nirgendwo vor falschen Christi gewarnt. Dort spricht der Heilige Geist uns als Christen an; und ein Christ kann durch die Behauptung eines Mannes, er sei Christus, nicht verführt werden. Hingegen ist die Darstellung hier durchaus angemessen; denn die Jünger werden in diesem Kapitel als die Stellvertreter der zukünftigen gottesfürchtigen Juden, und nicht als Christen, gesehen. Wir haben als Christen mit der Zerstörung des Tempels nichts zu tun; sie betrifft uns nicht im geringsten. Diese Jünger werden indessen als der gottesfürchtige Überrest der Nation angesprochen, welcher nach dem Messias ausschaut, damit Er die Herrlichkeit bringe. Darum ermahnt der Herr sie, niemandem zu glauben, der aufsteht und behauptet, der Christus zu sein. Die Zeit der Erscheinung des wahren Messias sollte kommen. Er war schon einmal erschienen; aber Israel hatte Ihn verworfen. Die Juden lehnten es ab, sich Ihm zu beugen, und hielten beharrlich an der Lüge fest, daß unser Herr nicht der Verheißene sein konnte.
Obwohl die Juden nicht glaubten, daß Jesus der Christus ist, haben sie doch die Hoffnung auf den Messias nicht aufgegeben. Das setzt sie jenen Verführungen aus, von denen hier gesprochen wird (Personen, welche sagen, sie seien der Christus). Auf jeden Fall machte sie die Verwerfung des wahren Christus offen für die Aufnahme eines falschen. Davor hatte der Herr sie schon früher gewarnt. „Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmet mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen.“ (Johannes 5,43). Wenn ein Messias kommt, aufgeblasen von seinem Ich und von Satan erfüllt, wird die Nation diesem Verführer vollständig ausgeliefert sein. Das ist die gerechte Vergeltung dafür, daß sie den wahren Christus verworfen haben. Die Jünger stehen hier stellvertretend für die gottesfürchtigen Juden und werden vor dem gewarnt, was über ihre Nation hereinbrechen wird. Falls wir jedoch die Johannesbriefe lesen, was finden wir dort? „Geliebte, glaubet nicht jedem Geist.“ (1. Johannes 4,1). Warum? Weil die Kirche (Versammlung) in unserer Zeit durch die Gegenwart des Heiligen Geistes gekennzeichnet ist! Darum sollen wir uns vor der Verführung durch falsche Geister hüten und nicht vor falschen Christi, obschon es viele Antichristen gibt.
Wie sollen wir Gottes Willen tun? Wie erfahren wir, wodurch wir Ihn ehren können? Allein der Heilige Geist kann uns auf dem richtigen Weg führen; und Er wirkt durch das Wort Gottes. In Übereinstimmung mit den Schriften muß ich mich dort aufhalten, wo alles, was vom Menschen ist, abgelehnt und alles, was von Gott ist, uneingeschränkt und vollständig anerkannt wird. Wir sind verpflichtet, immer darauf zu achten, daß alles, was wir tun, die forschende Prüfung durch die Bibel ertragen kann. Falls nicht, sollten wir sofort innehalten! Erlaube dir niemals das Geringste, das, wie du glaubst, gegen das geschriebene Wort Gottes verstößt! „Laßt ab vom Übeltun!“ (Jesaja 1,16). „Wer nun weiß, Gutes zu tun, und tut es nicht, dem ist es Sünde.“ (Jakobus 4,17). Angenommen, ich weiß nur, daß das, womit ich mich beschäftige, falsch ist. Mehr erkenne ich bisher nicht; dennoch muß ich damit aufhören. Gott gibt mir kein weiteres Licht, wenn ich Falsches tue. Es kann sein, daß ich in meinem Zimmer bleiben muß, ohne zu sehen, was folgen wird. Aber wo immer ich Böses erblicke, stehe ich unter einer Verantwortung. Wir können nicht im Bösen weitergehen und dabei auf mehr Licht hoffen. Was ist der Wandel des Glaubens? Es mag so aussehen, als würde ein Gläubiger blind vorwärts tappen; und doch hat er Gott zum Führer. Er sieht nichts vor sich; dennoch gehört ihm das Auge, das Herz und die Hand Dessen, Der sieht. Gott leitet ihn. Er zeigt mir Seinen Willen für jeweils einen Schritt. Nachdem ich diesen getan habe, zeigt Er mir den nächsten. Es geht um die Verherrlichung Gottes. Wenn wir auf diese Weise einen Schritt gegangen sind, eröffnet Er mir einen weiteren auf meinem Pfad.
Unser Herr warnt hier nicht vor falschen Geistern, weil Er nicht zu Jüngern auf dem Boden des Christentums redet. Unter einem Christen verstehe ich einen Gläubigen nach dem Ausgießen des Heiligen Geistes aus dem Himmel. Er ist kein bißchen mehr ein Heiliger als ein Mensch, der vor dieser Zeit zur Erkenntnis Gottes berufen wurde. Er besitzt jedoch besondere Vorrechte, die auf einer vollendeten Erlösung beruhen. Außerdem kann er mehr in die Wahrheit Gottes eindringen, wie sie sich in Christus geoffenbart hat. Die Jünger kannten diese Segnung noch nicht; und der Herr nahm sie als Muster vom gläubigen Überrest in den letzten Tagen. Für einen Christen besteht die Gefahr, den Heiligen Geist zu betrüben und auf falsche Geister zu hören. „Glaubet nicht jedem Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele falsche Propheten sind in die Welt ausgegangen.“ (1. Johannes 4,1). Das waren Personen, in denen ein böser Geist wirkte. Es gibt auch jetzt falsche Propheten; und in ihnen wirken böse Geister. In unseren Tagen ist der Glaube an den Heiligen Geist und an die Macht Satans fast verschwunden. Die Leute blicken nur auf den Menschen, während die Bibel sich sehr viel mit Gott und Satan beschäftigt. Satan gewinnt seine Macht über einen Bekenner des Namens Christi, wenn dieser in seinem Leben Sünde zuläßt. Satan hat nicht ein Atom Macht über ein Kind Gottes, das ausschließlich auf Jesus blickt. Wo jedoch das Ich Einfluß erhält, kommt Satan und findet für eine gewisse Zeit einen Wohnplatz. Wenn ein Gläubiger auch kein falscher Prophet werden kann, so kann doch der Feind zeitweise Macht über seine Seele gewinnen.
Hier geht es um falsche Christi, weil unser Herr zu den Jüngern über jüdische Umstände und Hoffnungen sprechen wollte. Später wendet Er sich auch anderen Themen zu. Die Prophezeiung besteht aus drei großen Teilen. Der jüdische Überrest bekommt ausführlich seine Geschichte beschrieben. Danach folgt der Abschnitt für die Christen und zuletzt für die Nationen. In diese drei Abteilungen ist die Prophetie aufgegliedert. Wir mögen fragen: Warum werden zuerst die Juden vorgestellt? Weil die Jünger noch nicht aus ihrer jüdischen Stellung herausgeführt worden waren! Erst nach der Kreuzigung Christi wurde die „Zwischenwand der Umzäunung“ (Epheser 2,14) abgebrochen. Der Herr nahm also einen jüdischen Überrest und zeigte an ihm, daß in den letzten Tagen eine Menschengruppe auf den gleichen Grundlagen stehen würde wie diese Jünger. Das Christentum sollte dazwischen treten, welches wir im letzten Teil des Kapitels und im Hauptabschnitt des nächsten beschrieben finden. Zuletzt werden die Heiden, „alle Nationen“, vor dem Sohn des Menschen versammelt. Dieser Faden durchzieht die drei Teile Seiner großen Predigt.
„Viele werden unter meinem Namen kommen und sagen: Ich bin der Christus! und sie werden viele verführen. Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören. Sehet zu, erschrecket nicht; denn dies alles muß geschehen, aber es ist noch nicht das Ende.“ (V. 5–6). Achten wir darauf! Wir hören zwei große sittliche Warnungen durch unseren Herrn. Zunächst sollen die Jünger sich vor einer wahren Hoffnung hüten, die falsch angewandt wird. Er warnt sie vor der Anziehungskraft falscher Christi, die es sich zunutze machen, daß die Juden Christus erwarten. Darum geben sie vor, Christus zu sein. Zum zweiten würde der Feind sie in Furcht versetzen wollen. Er weiß, wie er eine neue Folge besonderer Ereignisse zu ihrer Verführung gebrauchen kann. Vers 6 bereitet sie folglich auf Beunruhigungen von außen vor. „Ihr werdet aber von Kriegen und Kriegsgerüchten hören.“ Damit haben wir nichts zu tun. Wo lesen wir, daß der Heilige Geist die Christen vor Unruhe durch Kriege und Kriegsgerüchte warnt? Finden wir irgend etwas dieser Art in den Briefen, wo insbesondere die christliche Kirche vorgestellt wird?
Leugne ich damit die Wichtigkeit der Prophezeiung des Herrn? Gott bewahre! Aber der Bibelabschnitt, den wir jetzt betrachten, bezieht sich nicht auf Christen in der ihnen gemäßen Stellung, sondern auf jüdische Jünger, wie es sie damals gab und wie es sie bald wieder geben wird. Unsere Berufung fand statt, nachdem unser Herr in den Himmel gegangen war, und wird enden, bevor Er in Herrlichkeit zurückkehrt. Dagegen steht der jüdische Überrest in den letzten Tagen auf einem ähnlichen Boden, verbunden mit gleichen Hoffnungen, wie die Jünger, welche der Herr hier anspricht. Wir werden niemals die Gedanken der Bibel klar verstehen, wenn wir die großen Marksteine Gottes leugnen. Falls wir die Wahrheiten im Wort Gottes in einen richtigen Zusammenhang stellen wollen, müssen wir beachten, was und zu wem Er spricht. Wenn ein Heide die Aussagen für die Juden auf sich bezieht, begeht er einen großen Fehler. Dasselbe gilt für einen Christen in Hinsicht auf Juden und Heiden. Deshalb wird so großer Nachdruck darauf gelegt, daß wir das „Wort der Wahrheit recht“ teilen. (2. Timotheus 2,15). Wir finden, daß Gott nach Seinem unumschränkten Willen unterschiedliche Wege geht je nachdem, mit wem Er sich gerade beschäftigt. Darum müssen wir aufpassen, daß wir Sein Wort richtig anwenden.
Hier sehen wir Jünger, die eine besondere Berufung in einem besonderen Land, dem Land Judäa, erhalten hatten. Sie sollten sich nicht beunruhigen lassen, wenn sie „von Kriegen und Kriegsgerüchten“ hörten. „Denn dies alles muß geschehen, aber es ist noch nicht das Ende.“ Beachte die Unterschiede in der Ausdrucksweise der Schrift! Sagen die Apostel an irgendeiner Stelle, daß für uns das Ende noch nicht da sei? Im Gegenteil schreiben sie von uns als solchen, „auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist.“ (1. Korinther 10,11). In Bezug auf den Kreuzestod Christi steht in Hebräer 9,26: „Einmal in der Vollendung der Zeitalter.“ Doch in unserem Abschnitt sagt der Herr bezüglich des jüdischen Überrests: „Es ist noch nicht das Ende.“ Dies liegt daran, daß noch viele Dinge erfüllt werden müssen, bevor die Juden in ihre Segnungen eintreten können. Für den Christen sind hingegen in Christus schon jetzt alle Dinge unser. (1. Korinther 3,23). Die Segnung wurde niemals aufgeschoben, obwohl wir die Krone erst bei Seinem Kommen zu erwarten haben. Viele Bibelabschnitte sprechen von Leidensszenen vor dem Kommen des Herrn; andere ermahnen die Christen, jederzeit Christus zu erwarten. Diese Schriftstellen können nicht aufgehoben werden, noch können sie einander widersprechen. Das wäre aber der Fall, wenn sie sich auf dieselben Menschen bezögen.
Auch in praktischer Hinsicht ist der Unterschied außerordentlich wichtig; denn der Christ ist nicht von der Welt, gleichwie Christus nicht von der Welt ist. Das kann man von dem jüdischen Überrest, der in den letzten Tagen berufen wird, nicht in gleicher Weise sagen. Für uns sollten „Kriege und Kriegsgerüchte“ kein Grund zur Beunruhigung sein. Auch sollten wir nicht mit einer der Kämpfergruppen dieser Welt sympathisieren. Sicherlich geben sie uns Anlaß für eine heilige Besorgnis und Fürbitte im Geist der Gnade – und zwar für alle Parteien. Der jüdische Überrest hingegen wird nicht in dieser himmlischen Weise abgesondert sein. Darum müssen ihn die irdischen Kämpfe, die in seinem Land und dessen Umkreis toben, nahe angehen, sodaß der Herr hier sein Vertrauen auf Seine Worte besonders anfacht. Die Gläubigen sollten sich nicht beunruhigen, als seien der endgültige Ausgang der Schwierigkeiten ungewiß oder sie selbst in jenen dunklen Zeiten vergessen. Sie sollen geduldig warten; „denn es wird sich Nation wider Nation erheben und Königreich wider Königreich, und es werden Hungersnöte und Seuchen sein und Erdbeben an verschiedenen Orten. Alles dieses aber ist der Anfang der Wehen.“ (V. 7–8).
Ganz offensichtlich können wir eine solche Sprache in ihrer vollen Kraft nur auf Juden beziehen. Es handelt sich zweifellos um Gläubige. Doch es sind Juden inmitten einer Nation, die wegen ihres Abfalls von Gott und der Verwerfung ihres Messias im Gericht gezüchtigt wird.
Außerdem bereitete der Herr die jüdischen Jünger, bzw. den Überrest, auf ihre eigenen, besonderen Versuchungen vor. Diese erfuhren sie zum Teil schon nach Seinem Weggang und bis zur Zerstörung Jerusalems. Sie werden jedoch noch einmal auftreten, bevor Jerusalem nach der Vernichtung des Antichristen völlig von Gott anerkannt wird. „Dann werden sie euch in Drangsal überliefern und euch töten, und ihr werdet von allen Nationen [oder Heiden] gehaßt werden um meinen Namens willen. Und dann werden viele geärgert werden und werden einander überliefern und einander hassen.“ (V. 9–10). Auch unter ihnen würde es ein falsches Bekenntnis geben und Haß gegen das wahre. Dabei kamen die Übungen nicht nur von außen. „Viele falsche Propheten werden aufstehen und werden viele verführen; und wegen des Überhandnehmens der Gesetzlosigkeit wird die Liebe der Vielen erkalten; wer aber ausharrt bis ans Ende, dieser wird errettet werden.“ (V. 11–13). Die Zeit des Ausharrens ist demnach genau festgelegt. Wie es einen Anfang gab, so gibt es auch ein Ende der Kümmernisse. Doch welch eine Versuchung, welche Finsternis, welche Leiden und welche Ärgernisse, bevor jenes Ende kommt! Als unser Herr, wie zum Beispiel im Johannesevangelium, von dem Los eines Christen sprach, erwähnte Er weder einen Anfang noch ein Ende der Trübsal. Statt dessen sollte dieser während seines ganzen Weges hienieden Beschwerden erwarten. „In der Welt habt ihr Drangsal.“ (Johannes 16,33). Dieser Gedanke und diese Sprache werden in den Briefen ständig beibehalten, wo zweifellos unsere Berufung vorausgesetzt wird.
Dann folgt ein abschließendes Zeichen. „Dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen.“ (V. 14). Das Evangelium der Gnade Gottes stimmt nicht mit dem Evangelium des Reiches überein. Beide sollten gepredigt werden. Das eine besagt, daß Gott aus reinem Wohlwollen jetzt in Christus Seelen errettet. Das andere spricht von einem Königreich, welches Gott durch Seine Macht in Kürze aufrichten will und das die ganze Erde umfassen soll. Vor dem Ende wird demnach ein besonderes Zeugnis von dem Kommen des Herrn, wie es hier angedeutet wird, abgelegt werden. So sieht in Offenbarung 14,6-7 Johannes in seiner prophetischen Vision einen Engel, „der das ewige Evangelium hatte, um es denen zu verkündigen, die auf der Erde ansässig sind, und jeder Nation und Stamm und Sprache und Volk, indem er mit lauter Stimme sprach: Fürchtet Gott und gebt ihm Ehre, denn die Stunde seines Gerichts ist gekommen; und betet den an, der den Himmel und die Erde gemacht hat und das Meer und die Wasserquellen.“ Wir können wohl kaum sagen, daß die Stunde Seines Gerichts gekommen sei; denn wir befinden uns jetzt ausdrücklich in den Tagen Seiner Gnade und Seines Heils.
Daraus dürfen wir folglich den Schluß ziehen, daß unmittelbar vor dem Abschluß dieses Zeitalters sich eine bemerkenswerte Energie des Geistes Gottes inmitten der Juden entfalten wird. Aus gerade diesem Volk, das früher Jesus verworfen hatte, werden Boten des Königreiches in die Welt hinausziehen. Angerührt von Seiner Gnade werden sie das unverzügliche Hereinbrechen des göttlichen Gerichts und die Aufrichtung des Reiches der Himmel in Macht und Herrlichkeit ankündigen. Wer ist nach der Barmherzigkeit Gottes so geeignet, den zurückkommenden Messias zu verkündigen, wie Menschen jenes Volkes, das Ihn seinerzeit an das Kreuz nagelte? Dabei geht ihre Botschaft an all die stolzen Nationen, deren damaliger Repräsentant Sein Kreuz mit den Worten „Dieser ist Jesus, der König der Juden“ (Matthäus 27,37) überschreiben ließ. Das Zeugnis wird überall ausgebreitet werden. Wie demütigend für die Christenheit! Was ist aus dem Osten geworden? Was aus dem Westen? Der Islam! Das Papsttum! Und immer noch werden weite Landstriche Asiens und Afrikas vom Heidentum beherrscht! Dennoch verschließen christliche Männer und Frauen ihre Augen vor diesen offensichtlichen und ernsten Tatsachen und rühmen den Triumph des Evangeliums! Nein, die Heiden sind in ihrer Selbstgefälligkeit weiterhin weise in ihren Augen, obwohl natürlich, wo es Gott gefallen hat, trotz allem Versagens Seine Gnade wirkte. Es ist anderen Zeugen vorbehalten das kommende Königreich auf der ganzen bewohnten Erde zu verkündigen, nachdem der Abfall der Christenheit vollendet und der Mensch der Sünde geoffenbart ist.
In Vers 15 macht der Herr in Hinsicht auf den Zeitpunkt einen Schritt zurück. Er spricht nicht mehr von den allgemeinen Zeichen des herannahenden Endes und von den Unterschieden desselben zu früheren Drangsalen Israels. Hier lesen wir von genau beschriebenen Umständen, die man vielleicht zum Teil auf die Zeit vor dem Fall Jerusalems unter Titus1 beziehen könnte. Ihre volle Erfüllung finden sie allerdings erst in der Zukunft Israels, wie wir erkennen, wenn wir die Besonderheiten des Schauplatzes, den Zusammenhang der Weissagung und vor allem das Ende, mit dem alles abschließt, gebührend beachten.
Zuerst bezieht sich unser Herr auf einen jüdischen Propheten. „Wenn ihr nun den Greuel der Verwüstung, von welchem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen sehet an heiligem Ort, (wer es liest, der beachte es).“ (V. 15). Der Klammersatz warnt davor, die Vorhersage falsch zu verstehen, und sollte auf jeden Fall volle Beachtung finden. Zwei Stellen der Prophetie (Daniel 11,31 und 12,11) sprechen von diesem Greuel. Warum sollte ich zögern, darauf hinzuweisen, daß die erste eine Ankündigung der Handlungsweise von Antiochus Epiphanes2 – Jahrhunderte vor Christus – darstellt? Auf die zweite bezieht sich unser Herr hier, denn sie ist noch unerfüllt. Zusätzlich zu dem Götzen aus der Zeit des Antiochus spricht Daniel 12 von einem anderen Greuel, der Verwüstung mit sich bringt, und zwar ausdrücklich in der „Zeit des Endes.“ „Viele werden sich reinigen und weiß machen und läutern, aber die Gottlosen werden gottlos handeln; und keine der Gottlosen werden es verstehen, die Verständigen aber werden es verstehen.“ (Daniel 12,10). (Hierin erkennen wir eine weitere Parallele zu den Worten unseres Herrn – „wer es liest, der beachte es!“). „Und von der Zeit an, da das beständige Opfer abgeschafft wird, und zwar um den verwüstenden Greuel aufzustellen, sind tausendzweihundertundneunzig Tage.“ (V. 11). Demnach sieht Daniel außer jenen Götzengreuel, den der wohlbekannte König des Nordens lange vor dem Kommen des Herrn aufstellte, im voraus ein ähnliches Schandbild am Ende der Leiden Israels. Die Zerstörung dieses Greuels geht der Befreiung des Volkes unmittelbar voraus. „Glückselig der, welcher harrt!“ (V. 12). Mit Blick auf den Inhalt dieser Worte zitiert unser Herr den jüdischen Propheten und wirft weiteres Licht auf dieselbe Zeit und jene Umstände, wenn Daniel zu seinem Los auferstehen wird.
Die Schlußfolgerung ist also klar und gewiß: Unser Herr spielt im 15. Vers von Matthäus 24 auf jenen Teil des Buches Daniel an, der noch zukünftig ist, und nicht auf den, der schon Geschichte war, als Er auf dem Ölberg stand. Ich weiß, daß einige Ausleger diesen Gegenstand damit verwechselt haben, was wir in Daniel 8 und 9 lesen. Doch der „verwüstende Frevel“ (Daniel 8,13) ist nicht dasselbe wie „der verwüstende Greuel“; noch dürfen wir die „letzte Zeit des Zorns“ (V. 19) unbedingt mit „der Zeit des Endes“ gleichsetzen. (Vergl. Jes 10!). Die Unterschiede in den Ausdrücken der Schrift müssen genauso gut beachtet werden wie die Übereinstimmungen und ihre Beziehungen zueinander. Der letzte Vers von Daniel 9 scheint schwerwiegendere Hinweise zu enthalten. Dort wird ein Bund für eine Woche abgeschlossen; und in der Mitte der Woche hört die Darbringung von Schlachtopfern und Speisopfern auf. Wegen der Beschirmung der Greuel oder Götzenbilder wird danach ein Verwüster kommen, „und zwar bis Vernichtung und Festbeschlossenes über das Verwüstete [d. h. Jerusalem] ausgegossen werden.“ (Daniel 9,27).
Ich habe die Worte hier so angeführt, wie sie dem wahren Inhalt dieses bedeutsamen Bibelabschnittes am besten entsprechen.3 Wenn wir die (hebräischen) Ausdrücke mit angemessener Genauigkeit übersetzen, verschwindet die scheinbare Übereinstimmung mit dem „Greuel der Verwüstung“. Ein Verwüster, der wegen der Beschirmung (Flügel; s. Fußn.!) der Greuel kommt, ist etwas anderes als ein Greuel, der selbst verwüstet, oder ein Götzenbild, das sich im Heiligtum befindet. Mit der Aufrichtung desselben stehen die eintausendzweihundertundneunzig Tage in Verbindung. Selbst für jene, welche die Tage als ebenso viele Jahre ansehen, ist es unmöglich, die Weissagung auf die Zerstörung Jerusalems oder seines Tempels durch die Römer zu beziehen. Wäre es so, dann hätte die Zeit der Segnung schon lange Israel erreichen müssen. Ist die Prophezeiung also sinnlos? Nein! Nur – viele Leser haben sie nicht verstanden. Wir sollten nicht die Sprache der Schrift korrigieren, sondern unsere Auslegung, und immer wieder zum Wort Gottes zurückkehren und prüfen, ob wir nicht seinen Sinn falsch erfaßt haben!
Tatsächlich ist das Verständnis von Daniel 12 von größter Bedeutung, um den rechten Gewinn aus Matthäus 24 ziehen zu können. Der erste Vers des Kapitels gibt uns eine klare Zeitangabe. „In jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht.“ Niemand kann rechtmäßig bezweifeln, daß Daniels Volk die Juden sind und daß auf ein mächtiges Eingreifen zu ihren Gunsten angespielt wird. Wie üblich geschieht das nicht, ohne eine ernste Erprobung des Glaubens; denn „es wird eine Zeit der Drangsal sein, dergleichen nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht bis zu jener Zeit.“ Diese hat unser Herr zweifellos im Auge, wenn Er in Vers 21 sagt: „Alsdann wird große Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen ist, noch je sein wird.“ Ein Volk kann nicht zwei Drangsale erleben, von denen jede die größte ist. Beide Angaben beziehen sich folglich auf dieselbe Prüfung. Nun sagt Daniel ausdrücklich: „In jener Zeit wird dein Volk [die Juden] errettet werden.“ Wer will behaupten, daß Michael gegen Titus mehr zugunsten Israels aufgetreten sei als gegen Nebukadnezar? Weiß nicht jeder, daß die Juden nicht befreit, sondern vollständig von den Römern besiegt wurden? Alle, die dem Schwert entkamen, wurden als Sklaven verkauft und über die ganze Erde zerstreut. Damals war Gott gegen und nicht für Israel. Wie der König im Gleichnis (Matthäus 22) wurde Gott zornig und sandte Seine Heere aus, um jene Mörder zu vernichten und ihre Stadt zu verbrennen. Hier hingegen kommt die unvergleichliche Stunde der Leiden direkt vor ihrer Befreiung von seiten Gottes und nicht vor ihrer Gefangenschaft.
Indem wir dies im Auge behalten, erfahren wir in unserem Kapitel, daß der Anblick des verwüstenden Greuels am heiligen Ort das Signal zur Flucht wird. „Daß alsdann die in Judäa sind, auf die Berge fliehen.“ (V. 16). Kein Gedanke, daß es sich um ein Zeichen an Christen handelt! Es spricht zu jüdischen Jüngern im Heiligen Land, damit sie sich sofort vom Schauplatz der Gefahr wegbegeben. „Wer auf dem Dach ist, nicht hinabsteige, um die Sachen aus seinem Haus zu holen; und wer auf dem Feld ist, nicht zurückkehre, um sein Kleid zu holen. Wehe aber den Schwangeren und den Säugenden in jenen Tagen!“ (V. 17–19). Man hat versucht, eine Erfüllung dieser Warnung in der Flucht einiger Juden nach Pella in dem Zeitraum zwischen dem Spähtrupp des römischen Heerführers nach Jerusalem und der endgültigen Plünderung unter dem siegreichen Oberbefehlshaber zu finden.4 Dieser Irrtum entstand dadurch, daß man Lukas 21,20-24 und Matthäus 24,15-21 durcheinander warf. Dabei sprechen diese Verse trotz gewisser Ähnlichkeiten von verschiedenen Ereignissen. Es paßte ausgezeichnet zum Thema, das der Heilige Geist dem großen Evangelisten der Nichtjuden übergab, von der damaligen römischen Belagerung sowie der gegenwärtigen Oberherrschaft der Nationen zu sprechen, welche Jerusalem zertreten dürfen, bis die „Zeiten der Nationen“ vollendet sind.
Matthäus' besondere Aufgabe bestand darin – auf jeden Fall ab Vers 15 – die schreckliche, zukünftige Krise des jüdischen Volkes darzustellen. Offensichtlich unterscheidet sich der Greuel an heiligem Ort weitgehend von Armeen, welche Jerusalem umzingeln. Außerdem war genug Zeit vorhanden für eine gemächliche Abwanderung aus der bedrohten Stadt (ja, sogar für Behinderte und Gebrechliche beiderlei Geschlechts), als Cestius Gallus* sich damals wieder zurückgezogen hatte. Daraus schließe ich, daß unser Herr durch Matthäus mitteilt, was sich auf die Zeit des Endes bezieht, und durch Lukas die Ereignisse der Vergangenheit, ganz flüchtig die der Gegenwart sowie auch die der Zukunft. Zum Beispiel konnte Matthäus nicht wie Lukas von dem Zertreten Jerusalems durch die Nationen sprechen, denn er beschäftigt sich hier ausschließlich mit den Schrecken, die dem Segen und der Befreiung Israels unmittelbar vorausgehen. Lukas spricht von einer frühen und einer späten Zeit der Trübsal. Matthäus übergeht von Vers 15 an die erste und beschränkt sich auf die zweite.
„Betet aber, daß eure Flucht nicht im Winter geschehe, noch am Sabbat; denn alsdann wird große Drangsal sein, dergleichen von Anfang der Welt bis jetzthin nicht gewesen ist, noch je sein wird.“ (V. 20–21). Wie rücksichtsvoll ist der Herr! Und wie sehr dürfen Seine Jünger in jenen Tagen mit Seiner Fürsorge rechnen und damit, daß Er ihre Bitten beantwortet, damit ihre eilige Flucht nicht durch eine ungünstige Jahreszeit oder den jüdischen Tag der Ruhe behindert werde! Dieses ist ein weiterer Beweis, daß es hier nicht um Christen, sondern um Juden geht. So heilig der Sabbat auch ist – ich zögere nicht zu sagen, daß der Tag des Herrn, mit dem es die Kirche (Versammlung) zu tun hat, auf einer erhabeneren Heiligkeit gegründet ist. Der Gläubige muß sich jetzt vor zweierlei hüten: Zum einen, den Sabbat mit dem Tag des Herrn zu verwechseln, zum anderen, den zweiten, da er nicht der Sabbat ist, für seine eigenen selbstsüchtigen und weltlichen Zwecke zu mißbrauchen. Der Sabbat ist der heilige Gedenktag der Schöpfung und des Gesetzes. Der Tag des Herrn spricht von Erinnern an die Gnade und die neue Schöpfung in der Auferstehung des Heilands. Als Christen gehören wir weder zur alten Schöpfung, noch stehen wir unter Gesetz. Wir ruhen auf völlig anderer Grundlage, nämlich der eines gestorbenen und auferstandenen Christus. Der Sabbat als der letzte Tag der Woche galt für die Juden und die Menschheit im allgemeinen und war ein Tag der Ruhe, den sie mit Ochse und Esel teilen sollten. Dieser Gedanke paßt nicht zum Christentum. Christen beginnen die Woche mit dem Herrn und geben Ihm in der Anbetung ihr Bestes, während sie völlig frei sind, in der Mitte einer Welt der Sünde und des Elends eifrig für den Herrn zu arbeiten.
So finden wir in jedem neuen Gesichtspunkt ein weiteres Zeugnis von der wahren Bedeutung dieser Prophezeiung. Für uns ist der heilige Ort im Himmel und nicht in Jerusalem. Wir sollen auch nicht einer unvergleichlichen Drangsal ausweichen, sondern ständig auf Verfolgungen vorbereitet sein und uns darin freuen. Für uns, die wir aus allen Nationen und Sprachen herausgesammelt sind, stellen die Berge rund um Jerusalem wohl kaum ein geeigneter Verbergungsort dar. Auch würde Winter oder Sabbat wenig zu unserer Beunruhigung beitragen. Wir sollen jedes Wort Gottes erwägen und Nutzen daraus ziehen. Doch hier wird unmißverständlich von einer Gruppe bekehrter Juden in den letzten Tagen gesprochen, welche nicht das Licht der Kirche (Versammlung) und ihre Vorrechte besitzt. Sie folgt jüdischen Hoffnungen und wird angewiesen, wie sie während des Wartens auf den Messias den Täuschungen und der erdrückenden Drangsal entfliehen kann. Das Ziel ist die Errettung des Fleisches (V. 22) und nicht die Gemeinschaft mit den Leiden Christi und die Gleichförmigkeit mit Seinem Tod, um, koste es, was es wolle, an der Auferstehung aus den Toten teil zu haben.
Folglich lesen wir hier nichts von dem Wiederkommen Christi, um uns zu sich zu holen und uns in Seiner Gegenwart Wohnungen im Vaterhaus zu geben. Wir erfahren von Seiner Gegenwart auf der Erde in Herrlichkeit, um die Feinde zu vernichten und das zu richten, was tot ist und im Widerspruch zu Gott steht, und um die zerstreuten Auserwählten Israels zu sammeln. Um ihretwillen sollten jene Tage des Schreckens verkürzt werden. Damit stimmen auch die Warnungen in den Versen 23–28 überein. „Alsdann, wenn jemand zu euch sagt: Siehe, hier ist der Christus oder hier! so glaubet nicht. Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und werden große Zeichen und Wunder tun. . .“ (V. 23–24). Könnte eine solche Täuschung selbst den einfältigsten Christen verführen, der doch den Sohn Gottes vom Himmel erwartet? Sie ist jedoch durchaus verständlich, wenn wir an diese jüdischen Jünger der Zukunft denken, die das sichtbare Kommen des Messias nach der Prophetie erwarten. In Sacharja 14,4 wird vorhergesagt, daß der Messias auf dem Ölberg stehen wird. Wir können uns durchaus vorstellen, daß diese Heiligen durch Gerüchte, wie Christus sei in der Wüste oder in den Gemächern, beunruhigt werden. Solches Gerede kann Menschen verführen, die das Zusammentreffen mit dem Herrn auf der Erde erwarten, aber nicht uns, die wir wissen, daß wir Ihm und den auferweckten Heiligen in der Luft begegnen. (1. Thessalonicher 4; 2. Thessalonicher 2).
Als Vorkehrung gegen solche Verführungen wird die Art Seines Kommens zur Befreiung der Juden bekanntgemacht. „Denn gleichwie der Blitz ausfährt. . .“ (V. 27). Die Bilder, welche die Ankunft des Sohnes des Menschen schildern (V. 27 u. 28), vermitteln den Gedanken einer plötzlichen, schrecklichen Erscheinung und eines schnellen, unausweichlichen Gerichts über das, was dann vor Gott trotz all Seines Scheins nur noch einen toten Körper darstellt. Wo die Bibel ohne allen Widerspruch das Herabkommen des Herrn zur Aufnahme Seiner auferweckten Heiligen beschreibt, finden wir keine vergleichbaren Umstände. Was ist die Folge, wenn diese Verse falsch angewendet werden? Die abstoßende Auslegung, daß das „Aas“ Christus darstelle und die „Adler“ die verwandelten Heiligen (oder umgekehrt) verlangt eher eine kompromißlose Ablehnung als eine Stellungnahme. Ich brauche auch wohl kaum auf die Behauptung einzugehen, daß es sich um römische Feldzeichen handelt.5 Wenden wir diese Verse auf Israel an, wird alles einfach. Das Aas stellt den abtrünnigen Teil jener Nation dar; die Adler oder Geier sind Bilder der Gerichte, die über jenen hereinbrechen werden. Nicht nur wird Christus sich in einer blitzartigen Entfaltung des Gerichts offenbaren; auch die Ausführer Seines Zorns werden genau wissen, wo und wie sie mit allem in Gottes Augen Abscheulichem umzugehen haben. Der Herr spielt hier auf Hiob 39,30 an.
„Alsbald aber nach der Drangsal jener Tage wird die Sonne verfinstert werden. . .“ (V. 29). Möchte immer noch jemand auf den alten Versuch hinweisen, diese Darstellung auf den römischen Triumph über Jerusalem zu beziehen? Kann man angesichts dieser Verse sagen, daß jener Sieg „alsbald aber nach der Drangsal jener Tage“ stattfand? War er nicht vielmehr der Höhepunkt des jüdischen Leids und keineswegs die herrliche Beendigung der Trübsal durch eine göttliche Befreiung? Wenn Josephus6 von wundersamen Phänomenen berichtet, dann geschahen sie während der von ihm beschriebenen Drangsal, wohingegen die hier dargestellten Zeichen eine buchstäbliche oder symbolische Erfüllung „nach der Drangsal jener Tage“ (d. h. der zukünftigen Krise Jerusalems) finden werden. Nein, hier steht ein unvergleichlich Größerer als Titus vor unseren Augen; und ein Ereignis wird in Verbindung mit jenem armen Volk angekündigt, welches die Erscheinung und die Stellung aller Nationen auf der Erde ändert. „Dann werden wehklagen alle Stämme des Landes [der Erde; s. Fußn.!], und sie werden den Sohn des Menschen kommen sehen auf den Wolken des Himmels mit Macht und großer Herrlichkeit. Und er wird seine Engel aussenden mit starkem Posaunenschall, und sie werden seine Auserwählten versammeln von den vier Winden her, von dem einen Ende der Himmel bis zu ihrem anderen Ende.“ (V. 30–31).
Bei den „Auserwählten“ handelt es sich hier immer um den auserwählten Samen Israels (V. 22, 24, 31; vergl. Jesaja 45!). Es gibt zweifellos noch andere Auserwählte. Wir dürfen jedoch unsere Auslegung nur im Zusammenhang des Textes vornehmen; und dieser scheint mir im gegenwärtigen Fall klar und unmißverständlich zu sein. Der Sohn des Menschen wird am Himmel gesehen; und dieser Anblick ist, wie ich denke, das Zeichen für die Menschen auf der Erde. Es erfüllt alle Stämme mit Wehklagen. Christus kommt allen sichtbar zum Gericht. Andere Schriftstellen weisen nach, daß dann die himmlischen Heiligen schon verwandelt sind und ihren Herrn begleiten. Hier lesen wir indessen nichts davon. Dazu war es noch zu früh. Außerdem besteht der Gegenstand dieses Teils der Prophetie in der Ankündigung Seines Kommens zur Befreiung und Sammlung Seiner Auserwählten aus Israel. Darum wird Er als Sohn des Menschen, d. h. in Seinem richterlichen Charakter (siehe Johannes 5,27!), vorgestellt, Der Seine Engel mit lautem Posaunenschall aussendet. „Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird in eine große Posaune gestoßen werden, und die Verlorenen im Land Assyrien und die Vertriebenen im Land Ägypten werden kommen und Jehova anbeten auf dem heiligen Berg zu Jerusalem.“ (Jesaja 27,13). Das ist nicht nur die Verkündigung des angenehmen Jahres Jehovas (Lukas 4,18), sondern auch des Tages der Rache Gottes. (Jesaja 61,1-2). „Ihr werdet zusammengelesen werden, einer zu dem anderen, ihr Kinder Israel.“ (Jesaja 27,12). Der Hinweis auf die vier Winde in Verbindung mit Israel stellt keine Schwierigkeit dar – im Gegenteil (siehe Sacharja 2,6!). So wie Jehova Seine Auserwählten zerstreut und weit über die Erde verteilt hat „nach den vier Winden des Himmels“, so werden sie jetzt wieder eingesammelt.
Im 24. Kapitel wird uns demnach ein allgemeiner Überblick über den jüdischen Aspekt der Prophetie und das besondere Teil der Juden gegeben. Dies wird uns noch durch ein Bild aus der Natur (V. 32–33), durch die Aussagen der Schrift (V. 34–36) und zuletzt durch eine passende Anwendung verdeutlicht. (V. 42–44).
„Von dem Feigenbaum aber lernt das Gleichnis.“ (V. 32). Worin besteht seine Bedeutung, und warum ist es angemessen, daß der Feigenbaum hier erwähnt wird? Er ist das wohlbekannte Sinnbild der jüdischen Nationalität. In diesem Charakter sahen wir ihn in Kapitel 21, wo er nichts als Blätter trug, sodaß jene Generation dem Fluch einer ständigen Fruchtlosigkeit übergeben wurde unabhängig davon, was auch immer die Gnade für eine zukünftige Generation tun würde. In Lukas 21,29 lauten die Worte: „Sehet den Feigenbaum und alle Bäume.“ Warum dieser auffallende Unterschied? Weil der Heilige Geist im ganzen Lukasevangelium und besonders auch in jenem Kapitel „die Nationen“ vor Augen stellt! Lukas' Blickwinkel ist umfassender als der des Matthäus. Er beschäftigt sich vor allem mit den Leiden Jerusalems in Verbindung mit den „Zeiten der Nationen“. Darauf beruht der Unterschied sogar in den verdeutlichenden Bildern. Der Baum wird nicht mehr vertrocknet gesehen, sondern mit Zeichen der Lebenskraft. „Wenn sein Zweig schon weich geworden ist und die Blätter hervortreibt, so erkennet ihr, daß der Sommer nahe ist. Also auch ihr, wenn ihr alles dieses sehet, so erkennet, daß es nahe an der Tür ist“ (d. h. das Ende dieses Zeitalters und der Anfang des nächsten unter dem Messias und dem neuen Bund). Und wie ernst warnt der Heiland jene Menschen Israels, „dieses Geschlecht“, das Christus verworfen hat! Es wird nicht vergehen, bevor alle diese Dinge erfüllt sind.
Die Ansicht, daß alles schon bei der einstigen Belagerung Jerusalems erfüllt worden sei, schränkt den Sinn der Worte „dieses Geschlecht“ seitens des Herrn in einer unschriftgemäßen Weise ein, indem man nicht darauf hört, was Er zu Seinen Jüngern sagt. In einem Geschlechtsregister (wie in Matthäus 1) oder wo der Textzusammenhang es erfordert (in Lukas 1) mag dieses Wort die Zeit eines Menschenlebens bedeuten. Doch wo wird es in den prophetischen Schriften, Psalmen, usw. in diesem Sinn benutzt? Sein Charakter ist eher sittlicher als chronologischer Art, wie z. B. in Psalm 12,7: „Du, Jehova, wirst sie bewahren, wirst sie behüten vor diesem Geschlecht ewiglich.“ Das Wort „ewiglich“ spricht von einer langen Wirksamkeit und weist folglich darauf hin, daß Jehova die Gottesfürchtigen vor ihren bösen, überheblichen, schmeichlerischen und gesetzlosen Unterdrückern (V. 2–5) – d. h. „diesem Geschlecht“ – ewiglich bewahren wird. Dies ist also eine bestimmte und entscheidende Widerlegung jener, die diesen Begriff auf eine kurze Epoche oder auf die Lebenszeit eines Menschen beschränken möchten.
Auch in 5. Mose 32 (V. 5 u. 20) wird das Wort „Geschlecht“ in ähnlicher Weise benutzt. Es soll dort keine Zeitperiode beschreiben, sondern die sittlichen Kennzeichen Israels. Ferner finden wir in den Psalmen nicht nur den Ausdruck „dieses Geschlecht“; es wird auch von einem „künftigen Geschlecht“ gesprochen. (Psalm 102,18). Beide Bezeichnungen können nicht auf einen Zeitraum von dreißig oder hundert Jahre beschränkt werden. (Vergl. auch Sprüche 30!). Noch klarer wird uns diese Bedeutung, wenn wir den Gebrauch der Worte in den synoptischen Evangelien betrachten. So lesen wir in Matthäus 11,16: „Wem aber soll ich dieses Geschlecht vergleichen?“ Der Herr sprach von damals Lebenden, welche sich durch sittliche Launenhaftigkeit auszeichneten und dem Zeugnis Gottes – sei es in Gerechtigkeit oder in Gnade – widersetzten. Obwohl in erster Linie die zur Zeit des Herrn lebenden Menschen im Blickfeld standen, kann man diese Eigenschaft doch in weit ausgedehnterem Maß finden, sodaß die Menschen jedes Zeitalters immer als „dieses Geschlecht“ bezeichnet werden können. Lies Matthäus 12,39.41.42 und 45! Der letzte Vers zeigt, daß jenes „Geschlecht“ (welches, wie ich glaube, bis dahin keineswegs erloschen ist) im endgültigen Gericht mit dem gleichgesetzt werden muß, welches aus der babylonischen Gefangenschaft gekommen ist. Beachte auch Kapitel 23, 36: „Wahrlich, ich sage euch, dies alles wird über dieses Geschlecht kommen.“ Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles, was Christus bezüglich des Gerichts, usw. vorhergesagt hat, erfüllt ist. (Matthäus 24,34).
Aus dem, was wir schon gesehen haben – vor allem auch aus den klaren Schriftstellen selbst –, wird offenbar, daß vieles noch auf Erfüllung wartet und daß „dieses Geschlecht“ auch heute noch existiert und weiter existieren muß, bis alles geschehen ist. Wie wahr ist das! Da sind die Juden – ein Wunder für jeden denkenden Menschen! Ein zerrissenes, zerstreutes und dennoch bestehendes Volk! Es unterscheidet sich von allen anderen Völkern, trotz gewaltiger Versuche, es durch äußere Gewalteinwirkung auszulöschen, bzw. von innen her mit anderen Völkern zu vermischen. Dabei beherrscht es immer noch derselbe Unglaube, dieselbe Ablehnung und Verachtung Jesu, ihres Messias, wie an dem Tag, als Er ihr Verderben ankündigte. Alles dieses – die von Ihm vorhergesagten damaligen und zukünftigen Leiden – muß geschehen, bevor dieses böse Geschlecht verschwindet. „Der Himmel und die Erde werden vergehen, meine Worte aber sollen nicht vergehen.“ (V. 35). Alles, was der Unglaube für sehr dauerhaft hält, nämlich der Schauplatz seines Götzendienstes und seiner Selbsterhebung, wird vergehen; die Worte Christi jedoch – mögen sie Israel oder andere Völker betreffen – bleiben ewig.
Wenn auch alle diese Vorhersagen gewiß und unfehlbar sind, so weiß doch allein der Vater Tag und Stunde. (V. 36). Der Heiland hatte schon genügend eindeutige Zeichen angekündigt; und die Weisen werden sie verstehen. „Aber die Gottlosen werden gottlos handeln; und keine der Gottlosen werden es verstehen.“ (Daniel 12,10). „Gleichwie die Tage Noahs waren, also wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein. Denn gleichwie sie in den Tagen vor der Flut waren: sie aßen und tranken, sie heirateten und wurden verheiratet, bis zu dem Tag, da Noah in die Arche ging, und sie es nicht erkannten, bis die Flut kam und alle wegraffte, also wird auch die Ankunft des Sohnes des Menschen sein.“ (V. 37–39). Dies ist ein anderes Zeugnis, das unser Herr an dieser Stelle über den jüdischen Überrest der letzten Tage verkündigt (repräsentiert durch die Ihn umgebenden Jünger) und nicht über die Kirche (Versammlung); denn Er entnimmt Sein Bild aus der Bewahrung Noahs und seines Hauses durch die Wasser der Sintflut. Der Heilige Geist verdeutlicht hingegen durch Paulus unsere Hoffnung an dem Muster Henochs, der zum Himmel entrückt wurde, um nicht durch die Szenen und Ereignisse des Gerichts auf der Erde hindurchgehen zu müssen.
Darüber hinaus: Wenn der Sohn des Menschen auf diese Weise zum Gericht über die lebenden Menschen auf der Erde hernieder kommt, folgt nicht wie bei der Einnahme Jerusalems durch die Römer oder andere Völker ein unterschiedsloses Gemetzel oder Gefangennehmen. Statt dessen wird zwischen Einzelpersonen – seien sie Mann oder Frau – ein gerechter Unterschied gemacht, unabhängig davon, ob sie sich auf dem offenen Land oder in den häuslichen Pflichten befinden. „Alsdann werden zwei auf dem Feld sein, einer wird genommen und einer gelassen; zwei Weiber werden an dem Mühlstein mahlen, eine wird genommen und eine gelassen.“ (V. 40–41). Diese Worte bedeuten eindeutig, daß der eine im Gericht weggenommen wird. Der andere bleibt zurück, um die Segnungen der Herrschaft Dessen zu genießen, Der Gottes Volk in Gerechtigkeit regieren wird und „die Geringen richten in Gerechtigkeit.“ (Jesaja 11,4). Bei uns wird es genau umgekehrt sein. Nach der Auferstehung der Toten in Christo und unserer Verwandlung werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt, um dem Herrn in der Luft zu begegnen. (1. Thessalonicher 4,16-17). Hingegen werden jene, die in unserem Fall zurückbleiben, aufbewahrt für die Strafe eines ewigen Verderbens vom Angesicht des Herrn. (2. Thessalonicher 1,9). Aber der Herr wird auch ein irdisches Volk haben. Er wartet, bis die himmlischen Heiligen zu Ihm im Himmel versammelt sind. Danach beginnt Er, wenn ich so sagen darf, für irdische Segnungen zu säen. In letzterem Fall kommt Er als Sohn des Menschen, um die Gottlosen wegzuholen, indem Er die Gerechten ungestört in Frieden zurückläßt. „Es wird Überfluß an Getreide sein im Land, auf dem Gipfel der Berge; gleich dem Libanon wird rauschen seine Frucht; und Menschen werden hervorblühen aus den Städten wie das Kraut der Erde. Sein Name wird ewig sein; so lange die Sonne besteht, wird fortdauern sein Name; und in ihm wird man sich segnen; alle Nationen werden ihn glücklich preisen. Gepriesen sei Jehova, Gott, der Gott Israels, der Wunder tut, er allein! Und gepriesen sei sein herrlicher Name in Ewigkeit! Und die ganze Erde werde erfüllt mit seiner Herrlichkeit! Amen, ja, Amen.“ (Psalm 72,16-19).
„Wachet also, denn ihr wisset nicht, zu welcher Stunde [oder Tag]7 euer Herr kommt.“ (V. 42). Die Handlungsweise Gottes mit Israel, welche mit der Errettung der Gerechten in seiner Mitte endet, umfaßt auch, wie wir sahen, das Gericht über die selbstsichere und ahnungslose Welt. Daher erkennen wir in diesen Übergangsversen (V. 42–44) eine Anspielung auf einen ausgedehnteren Bereich als die Juden und ihre Heimat, in welcher der gläubige Überrest sich befindet. Der Herr muß ihn zwar bewahren, dennoch befindet er sich dort. Gott weiß die Gottesfürchtigen aus der Versuchung zu erretten. Sie befinden sich im Land, umgeben von Fallstricken und Widersachern; und Gott erhält sie. Das ist eine völlig andere Stellung als die unsere, die wir uns dann im Himmel aufhalten werden in der unumschränkten Gnade und Weisheit unseres Heilands. „Jenes aber erkennt: Wenn der Hausherr gewußt hätte, in welcher Wache der Dieb komme, so würde er wohl gewacht und nicht erlaubt haben, daß sein Haus durchgraben würde. Deshalb auch ihr, seid bereit; denn in der Stunde, in welcher ihr es nicht meinet, kommt der Sohn des Menschen.“ (V. 43–44). Ich nehme an, daß mit dem Ausdruck „Hausherr“ oder „Eigentümer“ im eigentlichen Sinn der Feind gemeint ist – der Fürst dieser Welt, welcher überrascht wird, wenn plötzlich der Tag des Herrn wie ein Dieb kommt. Es ergeht hier jedoch augenscheinlich auch eine praktische Ermahnung an die Gottesfürchtigen auf der Erde, bereit zu sein. Sie waren im Blick auf Leiden und Gewalttaten getröstet worden. Sie waren auf Wache gestellt worden gegen die religiösen Täuschungen der alten Schlange. Der Herr hatte ihnen ernst die Beständigkeit Seiner Worte in Bezug auf jene Punkte zugesichert, wo heidnische Überheblichkeit selbst wahre Gläubige hatte irreführen können. Jetzt wird ihnen Wachsamkeit und Bereitschaft eingeschärft, um ihren kommenden Herrn zu erwarten, damit sie nicht nur dem Vogelsteller entkommen, sondern auch vor dem Sohn des Menschen stehen können.
Ab Vers 45 des 24. Kapitels bis Kapitel 25, 30 hören wir Gleichnisse, die sich ausschließlich auf die Christenheit und nicht auf den jüdischen Überrest beziehen. Daher finden wir hier ein eingehendes Porträt des christlichen Bekenntnisses, sei letzteres echt oder falsch. Wo immer wir der christlichen Seite begegnen, sehen wir Gott, der sich mit Herz und Gewissen beschäftigt. Er hat Menschen berufen, welche die Begleiter Seines Sohnes in der himmlischen Herrlichkeit sein sollen, und erzieht sie für diese hohe Stellung. Darum kann Er nichts durchgehen lassen. Alles wird von Gott in seinem wahren Licht gerichtet. Folglich werden jetzt hinsichtlich des Ortes oder des Volkes keine Grenzen gezogen. Das Christentum steht über der Zeit und ist himmlischen Charakters und vom Himmel, auch wenn es tatsächlich – während der Unterbrechung der Haushaltungen Gottes durch die zeitweise Verwerfung Israels – auf der Erde verkündet wird. Es ist eine Offenbarung der Gnade, welche von Dem ausgeht, Der jetzt nicht auf der Erde, sondern vom Himmel her spricht.
Das bedeutet nicht, wie ich kaum anmerken muß, daß das Böse übergangen wird. Kein Irrtum könnte schwerwiegender und verhängnisvoller sein als der, welcher der Gnade Leichtfertigkeit der Sünde gegenüber zuschreibt. Im Gegenteil, sie ist die schwerste Verdammung alles Bösen. Sie zeigt uns den Anspruch Gottes an den Menschen, nämlich was dieser Ihm gegenüber sein sollte. Aber sie offenbart auch in dem Gericht über die Sünde am Kreuz Christi, was Gott für den Menschen ist. Demnach bringt die Gnade die vollste Entfaltung des göttlichen Hasses und des Gerichts über das Böse. Doch das geschieht in Christus, sodaß der schuldigste Mensch, welcher glaubt, auf Kosten des eigenen Sohnes Gottes, des Heilands, errettet werden kann. Während Gott sich mit Seinem irdischen Volk unter dem Gesetz beschäftigte, wurde wegen dessen Herzenshärtigkeit vieles zugelassen, was eigentlich niemals Seine Billigung fand. Doch gerade jetzt, während die volle Entfaltung der Gnade aufstrahlt, wird das Böse nicht mehr ertragen, sondern gerichtet.
Dieser Charakter kennzeichnet das Christentum seinem Grundsatz nach und auch in Wirklichkeit. Darum ist für den wahren Christen die ganze Zeit seines Aufenthalts auf der Erde eine Zeit des Selbstgerichts. Wenn er darin versagt, ist die Versammlung verpflichtet, seine Wege zu richten. Falls beide versagen, richtet der Herr sowohl den Sünder als auch die Versammlung in Heiligkeit und Gnade, damit sie nicht mit der Welt verdammt werden. Eventuell macht der Herr jetzt schon ein falsches Bekenntnis offenbar; doch das Ende davon sehen wir in diesen drei Gleichnissen. Die Gnade verschließt niemals die Augen vor dem Bösen. Wenn das Böse zu seinem Vorteil Nutzen aus der Gnade ziehen will, dann wird das Ergebnis schrecklich sein. Dies wird insbesondere beim Kommen des Herrn deutlich sichtbar werden.
Dazu möchte ich bemerken, daß das Kommen des Herrn einen doppelten Charakter trägt. Zunächst einmal kommt Er voller Gnade und unabhängig von allen Fragen bezüglich unseres Dienstes für Ihn. In diesem Zusammenhang geht es nicht um besondere Belohnungen in Seinem Reich, in dem wir mit Christus zusammen geoffenbart werden. Wir müssen jedoch im Gedächtnis behalten, daß diese Offenbarung an die Welt im zukünftigen Königreich keineswegs den erhabensten Teil Seiner und unserer Herrlichkeit ausmacht; denn sie enthüllt nicht die höchste Form der Ausübung Seiner Gnade. Unsere Aufnahme bei Ihm selbst hingegen, geht einzig von Ihm selbst aus. Seine Liebe will uns bei sich haben und Ihm gleich machen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet Johannes das Kommen Christi in seinem Evangelium (Johannes 14); und ich wüßte nicht, daß es dort irgendwo unter einem anderen Aspekt geschildert wird.
Das Buch „Offenbarung“ zeigt uns beide Sichtweisen. Im ersten Kapitel lautet das Zeugnis: „Siehe, er kommt mit den Wolken. . .“ (V. 7). Offensichtlich lesen wir hier nichts von den Heiligen, die entrückt werden, sondern: „Jedes Auge wird ihn sehen, auch die ihn durchstochen haben, und wehklagen werden seinetwegen alle Stämme des Landes.“ Die Braut wird nicht erwähnt. Wir sehen eine öffentliche Darstellung und das, was die Welt im allgemeinen und insbesondere die blutschuldigen Juden angeht; und alles endet mit Wehklagen. Doch das letzte Kapitel konnte nicht schließen, ohne uns mitzuteilen, daß es trotz all des Bösen, der Weherufe und der Gerichts eine Braut gibt, die ihren himmlischen Bräutigam erwartet. Sobald Er sich als die Wurzel und das Geschlecht Davids, als der glänzende Morgenstern, vorstellt, rufen der Geist und die Braut: „Komm!“ (V. 17) Hier erfahren wir vom innigen Herzensverkehr zwischen dem Herrn und der Kirche (Versammlung). Unmöglich kann jemand, der nicht aus Gott geboren ist, „Komm!“ rufen. Dennoch mag es manche geben, die aus Gott geboren sind und trotzdem aus Unwissenheit das volle Vorrecht ihres Einssein mit Christus nicht kennen. Ich zweifle nicht, daß gerade für diese Gläubigen besondere Vorsorge getroffen wird in den Worten: „Wer es hört, spreche: Komm!“ Aber keineswegs kann die Welt oder eine Seele, der noch nicht vergeben ist, einen solchen Ruf aufgreifen. Es wäre tatsächlich wahnsinnige Anmaßung; denn für solche Menschen bedeutet Sein Kommen das sichere und endlose Verderben.
Es geht beim Kommen Christi für uns auch nicht um die Errettung des Fleisches oder die Befreiung aus Elend und Gefahr durch die Überwältigung unserer Feinde. Der Heilige Geist stellt niemals das Kommen Christi für uns in ein solches Licht. Wir werden Ruhe finden und jene, die uns bedrängen, am Tag Seines Erscheinens Trübsal. Unser Teil besteht darin, dem Heiland zu begegnen, um für immer bei Ihm zu sein. Bis dahin ist es unser liebliches, irdisches Vorrecht, um Seinetwillen zu leiden. Wir sind für eine Weile in einer Welt zurückgelassen worden, wo alles gegen uns ist, weil es gegen Ihn ist; und wir gehören Ihm an. Wir wissen jedoch, daß Er darauf wartet, für uns zu kommen; und auch wir erwarten Ihn vom Himmel Während wir so ausharren, gewärtigen wir nichts als Leiden seitens der Welt und sind in ihnen glücklich in dem sicheren Bewußtsein, daß die Herrlichkeit im Himmel und das Kreuz auf der Erde zusammengehören. Der Kelch der Versuchung sowie die Schande und Verachtung der Welt mag zu manchen Zeiten geringer sein als zu anderen. Das liegt in der Hand des Vaters, wie Er es nach Seiner Weisheit austeilt. Wenn wir allerdings etwas anderes von der Welt erwarten als dieses natürliche Los eines Christen, sind wir unserer Berufung untreu. Unser Teil ist die Verwerfung, weil wir dem Herrn angehören. „Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.“ (1. Johannes 3,1).
Als Bräutigam hat der Herr nichts als Liebe zu Seiner Braut in Seinem Herzen. Dabei geht es Ihm nur um die Seinigen. Er hat ihnen Sein Kommen angekündigt; und je größer die Kraft des Geistes in der Seele, desto dringlicher ruft die Braut: „Komm!“ Wie unpassend wäre es, wenn andere Augen dieses Zusammentreffen sehen oder wehklagende Volksmengen in diese Szene eindringen und ihr Zeuge sein könnten! Die Bibel spricht nicht davon.
Die Juden und die Welt, welche den wahren Christus ablehnten, werden den Antichristen aufnehmen. Das erwartet die Menschen. In diese Schlinge werden sie geraten; und inmitten ihrer Verblendung und ihres scheinbaren Triumphs wird der Herr im Gericht kommen. Doch wenn Er kommt, wird Er nicht allein sein. Andere, Seine Heiligen, erscheinen mit Ihm in Herrlichkeit. Das sehen wir in Offenbarung 17 und in den Einzelheiten in Kapitel 19. Nicht nur die Engel, sondern auch Seine Heiligen, bekleidet mit weißen Kleidern und auf weißen Pferden reitend, folgen Ihm aus dem Himmel, wie die treffenden Bilder der Offenbarung darstellen. Die Heiligen befinden sich im Himmel, bevor der Tag des Gerichts über diese Welt kommt. Sie müssen vorher von der Erde in den Himmel versetzt worden sein, damit sie Ihm aus dem Himmel folgen und bei Ihm sein können, wenn jener Tag heraufdämmert. Das kann nur durch Sein Kommen zu ihrer Aufnahme geschehen. So erkennen wir wieder, daß Sein Kommen einen doppelten Charakter trägt, je nachdem, womit Er sich bei den einzelnen Schritten oder Phasen desselben beschäftigt. Er kommt hernieder, um Seine toten und lebenden Heiligen zu sammeln und sie im Vaterhaus vorzustellen, damit auch sie dort seien, wo Er ist. Zur bestimmten Zeit danach nimmt Er sie mit, wenn Er das Tier und den falschen Propheten, die Juden und die Nationen sowie jedes falsche Bekenntnis zu Seinem Namen richtet. Das ist im eigentlichen Sinn Sein Kommen bzw. Seine Gegenwart auf der Erde. Dieses Kommen wird im Unterschied zu dem früheren Ereignis, wenn Er uns zu sich nimmt, „Sein Erscheinen“, „die Erscheinung Seiner Ankunft“ (2. Thessalonicher 2,8), „Seine Offenbarung“ und „Sein Tag“ genannt.
Mit diesem zweiten Teil des Kommens des Herrn, bzw. Seinem Tag, steht die Anerkennung unseres Dienstes und die Festsetzung unseres Lohnes für das Werk, das wir getan haben, in Verbindung. Denn vor dem Richterstuhl des Christus muß alles offenbar werden; und jeder muß empfangen, was er in dem Leib getan hat, es sei Gutes oder Böses. (2. Korinther 5,10). Einige Gläubige finden eine Schwierigkeit darin, beide Wahrheiten anzuerkennen. Falls wir uns jedoch dem Wort Gottes unterwerfen, werden wir weder den allgemeinen Segen der Heiligen in der vollen Gnade des Heilands bei Seinem Kommen geringachten, noch eine Anerkennung der individuellen Treue (oder ihr Fehlen), wie sie in dem Lohn des Königreiches gesehen wird, abstreiten. Beim Lesen von den vielen Wohnungen sollten wir uns nicht dem Traum hingeben, als sei der eine Erlöste herrlicher als der andere. Das Vaterhaus zeigt uns, daß wir alle so nahe und geliebt sind, wie Söhne es in der Gegenwart des Vaters durch die vollkommene Liebe und das Werk des Sohnes sein können. Unter diesem Aspekt sehe ich nicht den geringsten Unterschied. Alle sind so nahe wie möglich herzugebracht; und alle werden mit der Liebe geliebt, mit der Christus geliebt wird. Sie besitzen Sein Teil, soweit Geschöpfe dies vermögen. Sollte ich aber deshalb jene Worte verleugnen, welche sagen: „Ein jeder aber wird seinen eigenen Lohn empfangen nach seiner eigenen Arbeit“ (1. Korinther 3,8)? Wie ist es mit der Wahrheit, daß in einigen Fällen das Werk bleiben wird und in anderen verbrennen (V. 13–15) oder daß, wie das Gleichnis uns lehrt, der eine Knecht zehn und der andere fünf Städte empfängt. (Lukas 19).
Wir finden daher in der Schrift eine enge Beziehung zwischen dem Tag Christi oder Seinem Erscheinen und den Ermahnungen zur Treue in der gegenwärtigen Zeit. So wird Timotheus aufgefordert, das Gebot unbefleckt und unsträflich zu bewahren bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus. (1. Timotheus 6,14). Ferner spricht der Apostel in 2. Timotheus 4,8 von der „Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag; nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung lieben.“ Die Folgen von Treue und Untreue werden erst dann gesehen. Es geht um den Tag der Offenbarung vor der Welt; und wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart wird, werden auch wir mit Ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit. (Kolosser 3,4). Darum schrieb der Apostel angesichts der Erwartung der Offenbarung unseres Herrn Jesus von den Korinthern, daß sie an keiner Gnadengabe Mangel litten, und stellte er sofort den Gedanken Seines Tages vor. (1. Korinther 1,7). Auch im Brief an die Philipper ist der Tag Christi die ernste Probe von allem und das gesegnete Ziel. Zu den Briefen an die Thessalonicher brauche ich am wenigsten zu sagen, weil sie die Wahrheit über Seine beiden Kommen in klarster Weise zeigen.
Kehren wir nun zu dem ersten dieser drei Gleichnisse, die sich mit dem christlichen Bekenntnis beschäftigen, zurück! Zuerst möchte ich im Zusammenhang mit dem, was wir gerade betrachtet haben, noch die allgemeine Bemerkung machen, daß die Wörter „Erscheinen“, „Tag“, usw. stets einen besonderen Bezug aufweisen und, wie ich denke, nur dann verwendet werden, wenn von Verantwortung gesprochen wird. Das gilt nicht für das Wort „Kommen“, welches eine allgemeinere Anwendung findet. Obwohl es auch da, wo der Zusammenhang es erfordert, in Fällen von Verantwortung gebraucht wird, besitzt es in sich selbst einen umfassenderen Charakter und kann darum auch von der Rückkehr des Herrn in reiner Gnade sprechen. Anders ausgedrückt bedeuten „Erscheinen“, „Tag“ oder „Offenbarung Christi“ stets Sein Herabkommen und Seine Anwesenheit auf der Erde. Hingegen spricht das Wort „Kommen“ nicht notwendigerweise von Seinem Erscheinen, Seiner Offenbarung oder Seinem Tag. Unser Herr kommt auch ohne Erscheinen; und ich denke, daß die Schrift beweist, daß Er uns auf diese Weise zu sich nimmt. „Sein Erscheinen“ spricht jedoch von jener späteren Phase Seines Wiederkommens, wenn jedes Auge Ihn sehen wird.
„Wer ist nun der treue und kluge Knecht, den sein Herr über sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen die Speise zu geben zur rechten Zeit?“ (V. 45). Das spricht nicht von Evangelisation, sondern von Sorge für den Haushalt. Nach welchem Grundsatz wir mit den Gaben des Hausherrn außerhalb des Hauses handeln sollen, wird uns bald beschäftigen. (Matthäus 25). Hier geht es darum, daß der Herr Seine Erlösten liebt („dessen Haus wir sind“; Hebräer 3,6) und sehr darauf achtet, wie treu oder untreu der Dienst unter ihnen ausgeübt wird. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß die Treue zum Herrn nicht den Dienst vernachlässigt. Jeder wahre Dienst ist von Gott; aber die Weise, in der er ausgeführt wird, ist oft falsch und nicht biblisch. Der Dienst ist kein Kennzeichen des Juden-, sondern des Christentums. Dennoch verliert er sehr schnell seinen wahren Charakter. Anstatt ein Diener Christi in Seinem Haushalt zu sein, haben viele diese Stellung verlassen, um für eine besondere Körperschaft zu arbeiten. In derartigen Fällen geht der Dienst immer von einer Kirche oder Benennung (Denomination) aus. Wahrer Dienst hat seine Quelle ausschließlich in Christus. Darum sagt der Apostel, daß er ein Knecht oder Sklave Jesu Christi sei, seinen Auftrag nicht von der Kirche (Versammlung) empfangen habe und ihr folglich nicht für sein Werk Verantwortung schulde. Die Wirkungskreise seines Dienstes waren das Evangelium und die Versammlung (Kolosser 1); der Geber und Herr dieses Auftrags war jedoch ausschließlich Christus selbst. Mir scheint, daß dies die notwendige Voraussetzung ist, damit ein Dienst seiner Quelle nach als göttlich erkannt werden kann. Nur ein von Gott gegebener Dienst wird in der Schrift anerkannt; und so sollte es auch heute beim Volk Gottes sein.
Das ist also das erste Kennzeichen, auf das unser Herr besonders besteht, nämlich daß der treue und kluge Knecht, den der Herr zum Aufseher über Sein Gesinde gesetzt hat, auch bei Seiner richtigen Arbeit vorgefunden wird, indem er für die sorgt, die dem Herzen Christi so nahe stehen. Es ist ein äußerst trauriger Beweis von dem gegenwärtigen Tiefstand der Kirche, daß solch ein Dienst als eine Verschwendung kostbaren Öls angesehen wird. So sehr haben selbst Kinder Gottes das Wesen des wahren Dienstes vergessen, daß sie es als Trägheit und Proselytentum ansehen, wenn man sich mit den Seelen innerhalb der Versammlung beschäftigt. „Warum predigt ihr nicht den Menschen draußen“, sagen sie, „und führt sie zur Erkenntnis Christi?“ Dies ist jedoch nicht das Erste, auf das unser Herr den Nachdruck legt. Der „treue und kluge Knecht“ kümmert sich um die Menschen im Haus, um ihnen die Speise zur rechten Zeit zu geben. Der Herr nennt diesen Knecht glückselig. „Glückselig jener Knecht, den sein Herr, wenn er kommt, also tuend finden wird!“ (V. 46). Andere mögen sein Recht anzweifeln; der Herr aber sagt einfach: „Wenn ich dich bei dieser Tätigkeit antreffe, bist du glückselig.“ Es geht darum, Seinen Willen zu tun und nicht um Vorrechte oder Stellungen – um die Ausführung des Werkes, von dem der Herr will, daß es getan wird.
Danach folgt die andere Seite des Bildes. „Wenn aber jener böse Knecht in seinem Herzen sagt: Mein Herr verzieht zu kommen, und anfängt, seine Mitknechte zu schlagen, und ißt und trinkt mit den Trunkenen. . .“ (V. 48–49). Hier erkennen wir die beiden großen Gefahren für die vorgeblichen Diener Christi in dieser Welt. Erstens behandeln sie ihre Mitknechte ungerecht, nachdem sie sich eine leitende Stellung angemaßt haben. Autorität ist richtig, wenn sie unter dem Gehorsam Christi ausgeübt wird. Kein Wechsel der Umstände oder der äußeren Lage verändert die Wahrheit, daß der Herr das Haupt der Kirche (Versammlung) ist und seine Knechte zu allen Zeiten auffordert, Seine Wünsche mit Autorität durchzusetzen. In unseren Versen lesen wir jedoch vom menschlichen Willen, durch den der Knecht den Platz des Herrn einnimmt und anfängt, seine Mitknechte zu schlagen. Zweitens hören wir außerdem von bösem Umgang mit der Welt. Es wird nicht gesagt, daß der Knecht selbst betrunken sei; doch er steht in Verbindung mit der Welt. „Böser Verkehr verdirbt gute Sitten.“ (1. Korinther 15,33). Wo der Herrn nicht mehr vor Augen steht, verliert der Dienst seinen wahren Charakter. Dann folgt Gewaltherrschaft über die Seelen im „Haus“ und böser Umgang mit den Menschen draußen.
Doch das Gericht schläft nicht. „Der Herr jenes Knechtes (wird) kommen an einem Tag, an welchem er es nicht erwartet, und in einer Stunde, die er nicht weiß, und wird ihn entzweischneiden und ihm sein Teil setzen mit den Heuchlern: da wird sein das Weinen und das Zähneknirschen.“ (V. 50–51). Hier wird vorausgesetzt, daß der Knecht seinen Weg unbeirrt weiterverfolgt und beim Kommen des Herrn darauf angetroffen wird. Sein Herz lebt ausschließlich in der Welt. Er begann mit den Worten: „Mein Herr verzieht zu kommen.“ Das ist bei weitem mehr, als nur, wie einige Gläubige, falsche Vorstellungen vom Kommen des Herrn zu haben. Darauf beziehen sich diese Bibelverse nicht. Wenn jedoch Menschen bekennen, das Kommen des Herrn zu erwarten, und sich trotzdem so verhalten, als würden sie nicht daran glauben, dann entsprechen sie völlig jenem Knecht, der in seinem Herzen sagt: „Mein Herr verzieht zu kommen.“ Der Herr tadelt nicht ein Mißverständnis oder einen lehrmäßigen Irrtum, sondern den Zustand eines Herzens, das zufrieden ist, wenn Christus niemals wiederkommt. Falls wir irdische Größe und Ansehen unter den Menschen suchen – wie können wir dann rufen: „Komm!“ Sein Kommen würde alle unsere Pläne über den Haufen werfen. Wir mögen viel vom Kommen des Herrn reden und genau in der Prophetie Bescheid wissen, der Herr sieht jedoch das Herz an und beachtet nicht den äußeren Schein. Mag das Bekenntnis auch noch so laut und hochtönend sein – Er sieht genau, wo die Seelen der Welt anhangen und Ihn nicht haben wollen.
Fußnoten
- 1 Unter der Heerführerschaft des späteren römischen Kaisers Titus wurde Jerusalem im Jahr 70 völlig zerstört. (Übs.).
- 2 Antiochus IV. Epiphanes, König von Syrien aus dem Geschlecht der Seleuciden, eroberte 168 v. Chr. Jerusalem, schaffte den jüdischen Gottesdienst im Tempel ab und führte griechischen Götzendienst ein. Seine Schreckensherrschaft und der jüdische Aufstand gegen dieselbe unter den Hasmonäern (Makkabäern) ist in den beiden apokryphen Büchern „1. und 2. Makkabäer“ geschildert. (Übs).
- 3 D. h. Kelly bringt hier seine eigene englische Übersetzung der Bibelstellen. Der deutsche Text folgt der „Elberfelder Bibel“. (Übs.).
- 4 Vergl. Flavius Josephus: De bello Judaico II, 19 – 20, 1 (siehe Fußnote auf S. 314!)! (Übs.).
- 5 Das Feldzeichen einer römischen Legion war eine auf einer Stange befestigte Adlerfigur. (Übs.).
- 6 Flavius Josephus (37/38 – um 100 n. Chr.), jüdischer Geschichtsschreiber, der die Belagerung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer als Augenzeuge miterlebte und in seinem Werk „De Bello Judaico“ („Jüdischer Krieg“) schildert. (Übs.).
- 7 „Bedeutende Autoritäten sprechen dafür, daß hier „Ómr“ („Tag“) anstelle der üblichen Lesart „ôr“ („Stunde“) stehen muß. Neben dem äußeren Beweis (durch alte Manuskripte; Übs.) sollten wir auch die Folge der Gedanken in den Versen 42 bis 44 – „Tag“, „Wache“, „Stunde“ – berücksichtigen. In Hinsicht auf Vers 44 stimmen selbst die Autoritäten, welche in Vers 42 „Tag“ stehen haben, mit den übrigen darin überein, dort „Stunde“ zu lesen.“ (W. K.). (Vergleiche auch die Überarbeitung des „Elberfelder Neuen Testaments“ von 1996!; Übs.).