Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 1)
Die zwei Söhne
Als wir das Gleichnis von den »Arbeitern im Weinberg« vor uns hatten (Mt 20,1–16), fanden wir anschließend, wie sich der Herr Jesus auf den Weg nach Jerusalem begab. In Kapitel 21 sehen wir Ihn dann in Jerusalem, wie Er als erstes den Tempel Gottes reinigt. Die Hohenpriester und Ältesten fragen Ihn, in welchem Recht Er diese Dinge tue. Mit einer Gegenfrage trifft Er ihr Gewissen und stellt ihre Bosheit und Blindheit bloß.
An dieser Stelle im Matthäus-Evangelium beginnt das, was wir als Seine abschließenden öffentlichen Reden oder Seine Tempelreden bezeichnen können. Die letzten Worte jedoch, mit denen Er die Seinen tröstet und sie auf Seinen Weggang vorbereitet, müssen wir an anderer Stelle suchen (vgl. Joh 14–16). Doch der Evangelist Matthäus berichtet eine Fülle von Einzelheiten, mit denen die letzten Tage Seines öffentlichen Dienstes ausgefüllt waren.
Noch einmal gibt der Herr dem Volk Israel Gelegenheit, Seine Stimme voller Gnade zu hören. Sie würde bald verstummen, um sich erst an einem späteren Tag wieder hören zu lassen, dann allerdings im Gericht. Für den Augenblick jedoch macht Er in symbolischer Sprache den sittlichen Zustand offenbar, in dem sich die geistlichen Führer befanden und in den ihre Blindheit auch die Nation mehr oder weniger gebracht hatte. Zur Illustration benutzt Er drei Gleichnisse. Direkt aufeinander folgend, sind das: das Gleichnis von den »zwei Söhnen«, das von den »bösen Weingärtnern« und das Gleichnis von dem »König, der seinem Sohn Hochzeit machten In dem ersten Gleichnis zeigt Er ihnen ihr Verhalten Gott gegenüber. Die beiden nächsten Gleichnisse schildern Gottes Handeln mit ihnen, und zwar unter einem zweifachen Aspekt. Im Gleichnis von den »bösen Weingärtnern« ist der Blickwinkel der menschlichen Verantwortlichkeit unter Gesetz vorherrschend, in dem von dem »König, der seinem Sohn Hochzeit machte«, steht mehr die Gnade Gottes in der Zeit des Reiches der Himmel im Vordergrund.
Doch gehen wir ein wenig genauer auf die Einzelheiten ein, die zu dem ersten Gleichnis führten! Die Hohenpriester und Ältesten hatten Ihn nach der Autorität gefragt, in der Er handelte. Welch eine anmaßende Frage! Hatte Er nicht vor ihren Augen mächtige Zeichen und Wunder getan, die klar bewiesen, daß sie himmlischen Ursprungs waren? Aber Seine Gegenfrage „Die Taufe des Johannes, woher war sie, vom Himmel oder von Menschen?“ – würden sie sie beantworten? Johannes war eine brennende und scheinende Lampe gewesen, und sie hatten für eine Zeit in seinem Licht fröhlich sein wollen (Joh 5,35). In ihrem nationalen Stolz hatten sie sich dessen gerühmt, daß ein Prophet in ihrer Mitte aufgestanden war. Genauso hatten ihre Väter es getan. Aber ihre Selbstgerechtigkeit hatte sie daran gehindert, sein Zeugnis über den Messias anzunehmen. Johannes war dann ermordet worden, und seinen Meister hatten sie selbst verworfen. So bringt sie die Frage des Herrn in Bedrängnis. Aber anstatt ihre Sünde zuzugeben, verweigern sie die Antwort. Und so wendet sich der Herr noch einmal an ihr Gewissen und zeigt ihnen mit dem Gleichnis von den »zwei Söhnen« ihren wahren sittlichen Zustand.
„Was meint ihr aber? Ein Mensch hatte zwei Kinder; und er trat hin zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh heute hin, arbeite im Weinberg. Er aber antwortete und sprach: Ich will nicht. Danach aber reute es ihn, und erging hin. Und er trat hin zu dem zweiten und sprach ebenso. Der aber antwortete und sprach: Ich gehe, Herr, und ging nicht. Wer von den beiden hat den Willen des Vaters getan? Sie sagen: Der erste. Jesus spricht zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch, daß die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes. Denn Johannes kam zu euch auf dem Weg der Gerechtigkeit, und ihr glaubtet ihm nicht; die Zöllner aber und die Huren glaubten ihm; euch aber, als ihr es saht, reute es auch danach nicht, so daß ihr ihm geglaubt hättet“ (Mt 21,28–32).
Dieses Gleichnis ist ein weiteres Beispiel dafür, daß es ein zweifaches Hören gibt. Wir haben das schon bei früheren Gleichnissen gefunden. Beide Söhne hören des Vaters Gebot. Der eine lehnt es ab zu gehorchen, aber später reut es ihn, und er tut schließlich doch den Willen seines Vaters. Der andere verspricht Gehorsam, hält aber sein Versprechen nicht. Er ist genauso ungehorsam, als hätte er von Anfang an den Gehorsam verweigert. Doch durch sein Versprechen, den Willen des Vaters zu tun, täuscht er andere: Sie halten ihn für einen gehorsamen Sohn. Kann sich der Vater mit solch einem Verhalten zufrieden geben, das so gänzlich dem gegebenen Versprechen zuwiderläuft und letzten Endes nichts anderes als Heuchelei ist?
Wenn wir den Zusammenhang beachten, fällt die Erklärung dieses Gleichnisses nicht schwer. Der Herr gibt sie eigentlich selbst. Mit dem Bild des Sohnes, der seinen anfänglichen Ungehorsam bereut und dann doch geht, meint Er die »Zöllner und Huren«. Solche offenbaren Sünder wie sie waren durch die Predigt Seines Vorläufers von ihren Sünden überführt und in das Reich Gottes gebracht worden.
Die Führer des Volkes aber, dem zweiten Sohn gleichend, ehrten Ihn mit ihren Lippen – und gingen nicht. Wie einst das Volk Israel zu Mose sagte: „Alles, was Jehova geredet hat, wollen wir tun!“, so gaben auch sie vor, Gott gehorsam zu sein. Sie gaben sich den Anschein der Frömmigkeit, im Grunde ihres Herzens aber interessierte sie der Wille des »Vaters« nicht. Sie haben ihn auch nie getan.
Es ist eine ernste Lektion, die wir hier zu lernen haben. Selbstgerechtigkeit macht nicht allein Menschen zu Heuchlern, sondern versperrt ihnen auch den Blick für die Notwendigkeit, Buße zu tun. Das ist das Tragische – die tückische Schlinge, in der sich nicht so sehr »Zöllner und Huren« verfangen, sondern gerade „religiöse“ Menschen. An ernst gemeinten Vorsätzen mag es bei ihnen nicht fehlen und hat es nicht gefehlt. Viele haben schon gesagt: „Ich gehe, Herr“, und haben doch nie den Weg des Gehorsams, der mit der Buße zu Gott beginnt, betreten. Und so kommt es dann, daß den religiösen Menschen die »Zöllner und Huren« vorangehen in das Reich Gottes.
Was der Herr von den geistlichen Führern in Israel im besonderen und von den religiösen Menschen im allgemeinen sagt, redet auch zu uns Kindern Gottes. Laßt uns bedenken, daß Gott Übereinstimmung sehen möchte zwischen unseren Worten und unseren Taten, zwischen unseren Versprechungen und unserem Ausführen. Das ist die Belehrung dieses Gleichnisses. Andere Gleichnisse zeigen die Notwendigkeit der Übereinstimmung in noch anderer Hinsicht. Im Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht« hatten wir zu lernen, daß Übereinstimmung sein muß zwischen der Vergebung, die wir erfahren haben, und der, die wir unserem Bruder gegenüber üben sollen. Daß auch zwischen unserem Hören und unserem Tun Übereinstimmung herrschen soll, hatte uns das Gleichnis von den »zwei Häusern« gelehrt. Die Notwendigkeit der Übereinstimmung zwischen unserer Wurzel und unserer Frucht war Gegenstand des Gleichnisses vom »Sämann«. Denn nur in dem Maß, wie wir „nach unten wurzeln“, können wir „nach oben Frucht tragen“ (vgl. 2. Kön 19,30).
So zeigt unser Gleichnis zwei Arten von Menschen. Offene Auflehnung gegen den Vater, aber dann Buße, kennzeichnet die erste. Falsches Bekenntnis, nie bereut, charakterisiert die andere. Zu welchem der beiden »Söhne« gehörst du?