Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 1)
Der unbarmherzige Knecht
Unterschiedliche Schuld
Es gibt eine ganze Reihe von Gleichnissen, die dadurch miteinander verbunden werden können, daß sie entweder im Hauptgegenstand oder in den Einzelheiten dieselben Symbole verwenden.
Dazu gehört auch das Gleichnis vom »unbarmherzigen Knecht« in Matthäus 18, Verse 23–35. Ihm steht in Lukas 7, Verse 41.42, das Gleichnis von »den beiden Schuldnern« gegenüber. In beiden werden Menschen als Schuldner dargestellt, doch ist der Blickwinkel jeweils ein anderer.
Im Gleichnis von Lukas 7 ist die souveräne Gnade Gottes der Hauptgedanke. Beide Schuldner „hatten nichts, um zu bezahlen“, und so erließ der Gläubiger in seinem Erbarmen beiden die Schuld. Der Unterschied zwischen der jeweils erlassenen Schuld war vergleichsweise gering: fünfhundert Denare – fünfzig Denare. Wenn es um die unterschiedliche Schuld des Menschen Gott gegenüber geht, sind die Unterschiede nicht allzu groß. Zudem bestehen sie weit eher in der Auffassung der einzelnen als in absoluter Hinsicht. Doch genügen sie, um das unterschiedliche Maß an Liebe zu begründen – einer Liebe, die sich als Antwort auf die Barmherzigkeit einstellt. Wem (nach seiner Meinung) viel vergeben wurde, liebt auch viel; wem (nach seiner Meinung) wenig vergeben wurde, liebt auch wenig.
Die Zielsetzung im Gleichnis vom »unbarmherzigen Knecht« in Matthäus 18 geht in eine andere Richtung. Auch hier sind es zwei Schuldner, aber an ihrem Beispiel wird die Schuld des Menschen Gott gegenüber mit der Schuld des Menschen seinem Nächsten gegenüber verglichen, und dann sind die Unterschiede an Schuld allerdings gewaltig groß: zehntausend Talente hier – hundert Denare dort. Damit wird der Nachdruck auf das Ergebnis gelegt, das die erfahrene Güte Gottes in unserem Verhalten anderen gegenüber hervorbringen sollte. Doch damit werden wir uns noch näher beschäftigen. In beiden Gleichnissen jedenfalls ist der Gläubiger ein Bild von Gott.
Grenzenlose Vergebung
Nachdem der Herr darüber Belehrungen gegeben hatte, was geschehen sollte, wenn ein Bruder gegen einen anderen sündigte (Verse 15ff), wirft Petrus die Frage auf, wie oft er seinem Bruder, der gegen ihn sündigte, vergeben sollte: „bis siebenmal?“ (Vers 21). Das gibt dem Herrn Anlaß, die Gesinnung zu zeigen, die im Reich der Himmel herrschen soll: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzig mal sieben sollte dem Bruder vergeben werden. Er besteht also auf einer schrankenlosen Vergebung. Zur Verdeutlichung fugt Er das Gleichnis vom »unbarmherzigen Knecht« an:
„Deswegen ist das Reich der Himmel einem König gleich geworden, der mit seinen Knechten Abrechnung halten wollte. Als er aber anfing abzurechnen, wurde einer zu ihm gebracht, der zehntausend Talente schuldete. Da dieser aber nichts hatte, um zu bezahlen, befahl sein Herr, ihn und seine Frau und die Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und so zu bezahlen. Der Knecht nun fiel nieder, flehte ihn an und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir alles bezahlen. Der Herr jenes Knechtes aber, innerlich bewegt, ließ ihn frei und erließ ihm das Darlehen. Jener Knecht aber ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete. Und er ergriff und würgte ihn und sprach: Bezahle, wenn du etwas schuldig bist. Sein Mitknecht nun fiel nieder, bat ihn und sprach: Habe Geduld mit mir, und ich will dir bezahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er die Schuld bezahlt habe. Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, wurden sie sehr betrübt und gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Dann rief ihn sein Herr herzu und spricht zu ihm: Du böser Knecht! Jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, da du mich ja batest; hättest nicht auch du dich deines Mitknechtes erbarmen sollen, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Peinigern, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt habe. So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergebt“ (Verse 23–35).
Nach Meinung jüdischer Rabbiner sollte die Vergebung einem bußfertigen Bruder gegenüber bis dreimal gewährt werden. Petrus war bereit, die Vergebung bis auf siebenmal auszudehnen. Doch der Herr Jesus sagt gleichsam: „Wie groß ist die wiederherstellende Gnade Gottes euch gegenüber! Habt ihr sie nicht unzählige Male erfahren? Nun, wenn ihr in dem Bewußtsein dieser Gnade lebt, dann offenbart sie auch anderen gegenüber ohne irgend welche Schranken.“ „... einander ertragend und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat gegen den anderen; wie auch der Christus euch vergeben hat, so auch ihr“ (Kol 3,13).
In der parallelen Stelle in Lukas 17 fugt Er noch eine bemerkenswerte Bedingung für die angemahnte Vergebung hinzu: „Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm. Und wenn er siebenmal am Tag gegen dich sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben“ (Verse 3.4). Wir sind manchmal geneigt, diese Vorbedingung zu übersehen, die für jede wirkliche Vergebung unabdingbar ist: Es muß Reue über das verübte Unrecht vorhanden sein, und man muß bereit sein, dieses Unrecht einzugestehen, nicht allein vor sich selbst oder vor Gott, sondern auch vor dem, gegen den man sich vergangen hat. Mit anderen Worten, der Schuldige muß seine Sünde vor seinem Bruder bekennen. Sehr oft unterbleibt das, und deswegen werden viele ungute Vorkommnisse unter Kindern Gottes nie wahrhaft bereinigt. Sie schwelen weiter, Wurzeln der Bitterkeit breiten sich aus, und viele werden dadurch beunruhigt und verunreinigt. Täuschen wir uns nicht: Auch Gott vergibt nur, wenn die Sünde vor Ihm bekannt wird. „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Doch selbst dann, wenn der Schuldige nicht bereit sein sollte, sein Unrecht zu bekennen, so sollten wir stets von einem vergebenden Geist erfüllt sein und so in Übereinstimmung mit Gott bleiben.
Das ist das erste, was wir aus diesem Gleichnis lernen sollen. Was für Folgen sich daraus ergeben, wenn wir es nicht tun, wenn wir unserem Bruder nicht von Herzen vergeben sollten, zeigen die beiden letzten Verse. Darauf wollen wir jedoch erst dann zurückkommen, wenn wir auf das Gleichnis näher eingegangen sind und die weiteren Belehrungen, die es enthält, verstanden haben.
Kann ein Gläubiger die Vergebung verlieren?
Manche Christen benutzen das Gleichnis vom »unbarmherzigen Knecht« als Begründung für die Auffassung, daß ein gläubiger Christ die empfangene Vergebung seiner Schuld unter gewissen Umständen doch wieder verlieren kann. Der König hatte, so argumentieren sie, dem Knecht die Schuld von zehntausend Talenten erlassen, überlieferte ihn aber, weil er einen unversöhnlichen Geist offenbarte, schließlich doch den Peinigern, bis er alles bezahlt haben würde. Nun, die Heilige Schrift lehrt an vielen Stellen klar und eindeutig, daß ein wahres Kind Gottes nicht wieder verlorengehen kann:
- Niemand kann uns aus der Hand des Vaters und des Sohnes rauben (Joh 10,28–30).
- Gott gedenkt unserer Sünden nie mehr, weil Er sie vergeben und uns „auf immerdar“, das heißt ununterbrochen, vollkommen gemacht hat (Heb 10,14–18).
- Gott hat uns für Sein Licht passend gemacht und hat uns aus der Gewalt der Finsternis errettet und uns in das Reich des Sohnes Seiner Liebe versetzt (Kol 1,12–14).
- Wir haben durch das Blut Christi die Erlösung, die Vergebung der Vergehungen (Eph 1,7). Es ist eine ewige Erlösung (Heb 9,12).
- Als Siegel einer vollbrachten Erlösung haben wir den Heiligen Geist empfangen, der bei uns bleibt und in uns ist in Ewigkeit (Joh 14,16.17).
- Wir haben ewiges Leben, weil wir glauben an den Namen des Sohnes Gottes. Wer den Sohn hat, hat das Leben (1. Joh 5,12.13).
- Dieses ewige Leben hat seinen Sitz nicht in uns, sondern in dem verherrlichten Christus. ER ist unser Leben (Kol 3,3.4), und wenn es uns genommen werden sollte, müßte es zuerst Ihm genommen werden. Aber das ist absolut unmöglich, ist Er doch in Sich selbst der wahrhaftige Gott und das ewige Leben (i.Johs,2o).
Zwei Arten der Sündenvergebung
Viele Schwierigkeiten und Irrtümer kommen daher, daß man nicht zwischen den beiden Arten der Sündenvergebung unterscheidet, von denen die Schrift redet. Als erstes benötigen wir und schenkt Gott die Vergebung für Sünder oder die ewige Vergebung, das heißt die Vergebung im Blick auf die Ewigkeit. Von dieser Vergebung reden die oben angeführten Stellen. Gott sagt: „Ich schreibe euch, Kinder, weil euch die Sünden vergeben sind um seines (des Sohnes) Namens willen“ (1. Joh 2,12). Die Gnade schenkt sie, das Blut sichert sie, der Geist Gottes verkündigt sie, und der Glaube ergreift sie.
Aber zweitens redet die Schrift an manchen Stellen von einer Vergebung hinsichtlich der Regierungswege Gottes mit den Menschen. Die Regierung Gottes oder Sein Handeln mit den Menschen kann sich auf Seine Kinder, auf das Volk der Juden oder auch auf die beziehen, die sich zum Christentum bekennen. Gerade davon handelt unser Gleichnis. Es ist weder ein Gleichnis vom Himmel noch von der Kirche, sondern von dem Reich der Himmel, daß heißt von dem Bereich des christlichen Bekenntnisses auf der Erde. Zudem, nicht von Sühnung ist in diesem Gleichnis die Rede, sondern vom Vergeben oder Behalten von Sünden hinsichtlich der Regierungswege Gottes. Wenn wir das klar erfassen, verschwinden alle zweifelnden Fragen. Doch betrachten wir jetzt das Gleichnis ein wenig genauer.
Wie bereits bemerkt, ist der »König« ein Bild von Gott. Der »Knecht«, der die unbezahlbare Summe von zehntausend Talenten schuldete, versinnbildlicht das Volk Israel. Die große Schuld bestand darin, daß dieses Volk die Fülle von Segnungen und Vorrechten, die Gott ihm über Jahrhunderte geschenkt hatte, nur mit Ungehorsam und Auflehnung und schließlich mit der Kreuzigung Seines Sohnes beantwortet hatte. Gott stand bereit „abzurechnen“, das heißt Gericht über das Volk zu bringen, denn schon war die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt (Mt 3, 10). Aber der Herr Jesus hatte am Kreuz gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34). Auch Petrus billigt ihnen in Apostelgeschichte 3, Vers 17, Unwissenheit zu und fährt fort: „So tut nun Buße und bekehrt euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn“ (Verse 19.20).
So hatten sie die Stimme der Vergebung gehört, ohne ihr jedoch Gehör oder Glauben zu schenken. Vielmehr „würgten“ sie den „Mitknecht“, der ihnen ungleich weniger schuldete. Das zeigt uns das feindselige Verhalten der Juden gegenüber den Nationen, das der Apostel Paulus so beschreibt: „Die sowohl den Herrn Jesus als auch die Propheten getötet und uns durch Verfolgung weggetrieben haben und Gott nicht gefallen und allen Menschen entgegen sind, indem sie uns wehren, zu den Nationen zu reden, damit sie errettet werden, um so ihre Sünden allezeit vollmachen; aber der Zorn ist völlig über sie gekommen“ (1. Thes 2,15.16; vgl. auch Apg 13,45; 14,2; 17,5; 21,27).
Gott hat sie auf ihre Haltung hin den »Peinigern«, den Nationen, überliefert, wo sie bis heute sind; Er hat ihnen die Schuld, die Er ihnen in Seinen Wegen mit ihnen „vergeben“ hatte, wieder auferlegt, bis zu der Zeit, von der Jesaja spricht: „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet zum Herzen Jerusalems, und rufet ihr zu, daß ihre Mühsal vollendet, daß ihre Schuld abgetragen ist, daß sie von der Hand Jehovas Zwiefältiges empfangen hat für alle ihre Sünden“ (Kap. 40,1.2).
Das ungläubige Israel wird nie aus dem Gefängnis herauskommen, wohl aber der durch »Jerusalem« dargestellte gläubige Überrest – und dieser auch nur durch die Gnade Gottes und aufgrund des Opfers Christi.
Daß man dieses Gleichnis auch auf jemand anwenden kann, der heute das Evangelium hört, ihm aber nicht gehorcht, ist offenkundig. Wenn jemand diesen Geist des Nicht-Vergebens hat, wie ihn jener »Knecht« zeigte – einen Geist, der ganz dem Christentum entgegen ist –, dann deutet nichts darauf hin, daß er überhaupt ein wahrer Christ ist. Aber auch für uns Kinder Gottes enthält dieses Gleichnis eine tiefe Belehrung und eine ernste Warnung, wie der Herr Jesus im abschließenden Vers klarmacht: Die Regierungswege Gottes mit Seinen Kindern werden maßgeblich davon bestimmt, ob wir einen Geist der Vergebung offenbaren.
Das also ist die Belehrung des Herrn in diesem Gleichnis. Mit keinem Wort aber redet Er davon, daß eines Seiner Schafe, für die Er als der gute Hirte Sein Leben hingeben würde, schließlich doch verlorengehen könnte; mit keiner Silbe davon, daß man die Vergebung der Sünden im Blick auf die Ewigkeit bekommen und unter gewissen Voraussetzungen doch wieder verlieren kann. Sollte Gott, der unsere Sünden hinter Seinen Rücken geworfen hat, der ihrer nie mehr gedenkt, sie uns eines
Tages, vielleicht kurz vor den Toren der Ewigkeit, doch wieder aufbürden? Sollte Er das Werk Seines Sohnes so geringachten, daß Er die, die sich darauf im Glauben stützen, doch verlorengehen läßt, weil sie in diesem oder jenem Punkt nicht treu waren?
Eine elende, erbärmliche Lehre ist das – das Werk Satans, das Ergebnis davon, daß man das Wort der Wahrheit nicht „recht teilt“! Doch Gott sei gepriesen: Unsere Erlösung ruht auf unserem Erlöser, nicht auf dem Erlösten oder auf irgend etwas in uns! Sie hat im Herzen Gottes selbst ihren Ursprung. Und überdies, wo man sich nicht der Vergebung der Sünden als einer vollendeten Tatsache erfreut, kann es keinen gefestigten Frieden geben, kann der Geist nicht in die ganze Wahrheit führen und kann man nicht ein Anbeter in Geist und Wahrheit sein. Deswegen hat Satan ein so großes Interesse daran, die Wahrheit zu zerstören. Laßt uns ihm kein Gehör geben, sondern Dem vertrauen, der die Wahrheit ist!
Aber laßt uns auch die Belehrung dieses Gleichnisses nicht vergessen und uns hüten vor einem unversöhnlichen Geist! Gott würde in Seinen Wegen mit uns die Folgen solch einer Ihm fremden Gesinnung auf uns selbst herabkommen lassen. „Seid aber zueinander gütig, mitleidig, einander vergebend, wie auch Gott in Christus euch vergeben hat“ (Eph 4,32).