Er lehrte sie vieles in Gleichnissen (Band 1)
Blinde Leiter der Blinden
In Matthäus 15, Vers 14, benutzt der Herr ein Bild von den Schriftgelehrten und Pharisäern, das wir wegen seiner Kleinheit kaum ein Gleichnis nennen würden. Aber in der Parallelstelle im Lukas-Evangelium wird ausdrücklich gesagt:
„Er redete aber auch ein Gleichnis zu ihnen: Kann etwa ein Blinder einen Blinden leiten? Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ (Kap. 6,39).
Es ist gewiß nur ein sehr kleines Gleichnis, und trotzdem enthält es wertvolle Belehrungen für uns. Wie uns Matthäus zeigt, sprach der Herr Jesus diese Worte in Verbindung mit dem Vorwurf der Pharisäer, die Jünger Jesu würden Brot mit ungewaschenen Händen essen. Der Herr entlarvte sie als Heuchler, denn auch sie übertraten das Gebot Gottes um ihrer Überlieferung (Tradition) willen und machten es damit ungültig (Verse 1–6). Ihre Lehren, mit denen sie das Volk belehrten, waren nichts als Menschengebote, wie der Herr mit Seinem Zitat aus Jesaja deutlich macht (Vers 9). Sie begingen den nicht ungewöhnlichen Fehler zu glauben, daß man Gott mit äußeren Dingen zufriedenstellen könne, und vergaßen, daß Satan sogar ein religiöses System (wie das ihre) für seine Ziele zum Bösen benutzen kann. Ihr hohler Formalismus führte sie nicht allein zur Heuchelei, wie das allgemein zu beobachten ist; sondern dadurch, daß sie dem Wort Gottes ihre menschlichen Satzungen hinzufügten, nahmen sie auch Seinem heiligen Wort die Kraft.
Abrupt wandte sich der Herr denn auch von ihnen ab und rief statt dessen die Volksmenge herzu. Sie, nicht die Pharisäer, belehrte Er darüber, daß nicht das, was durch den Mund in den Menschen eingeht, ihn verunreinigt, sondern das, was aus seinem Mund ausgeht. Nicht das Essen mit ungewaschenen Händen war das Problem. Es bestand vielmehr in dem bösen Herzen des Menschen und in dem, was aus dieser Quelle hervorkommt (Verse 19.20). Das zu vernehmen war den Pharisäern damals ein Anstoß, wie es auch heute dem religiösen Menschen unverändert ein Anstoß ist. Man will nicht wahrhaben, daß der Mensch eine verdorbene Natur hat und daß er deswegen nicht nur einer Verbesserung, sondern einer neuen Geburt bedarf (Joh 3,3–5). Nur das Einpflanzen eines neuen, göttlichen Lebens kann wirklich Abhilfe und Rettung schaffen. Solche, die es besaßen, vergleicht der Herr mit „Pflanzen“, die Sein himmlischer Vater gepflanzt hatte. Die Pharisäer gehörten nicht dazu. Alle Pflanzen, die der Vater nicht gepflanzt hatte, würden ausgerissen werden – ein ernstes Bild des kommenden Gerichts (Vers 13).
Nach der mehr allgemeinen Feststellung des 13. Verses kommt der Herr noch einmal direkt auf die Pharisäer zu sprechen und sagt von ihnen zu Seinen Jüngern:
„Laßt sie; sie sind blinde Leiter der Bünden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen“ (Vers 14).
Dieses Wort „Laßt sie“ ist überaus ernst. Diese Männer hatten nichts anderes als Gericht zu erwarten, und die Jünger sollten sie gehen, sie gewähren lassen. Sie sollten nicht mit ihnen diskutieren in der Meinung, sie vielleicht doch noch überzeugen zu können. In ähnlicher Weise warnt der Apostel Paulus den jungen Timotheus vor Alexander, dem Schmied, der ihm viel Böses getan hatte: „Vor ihm hüte auch du dich, denn er hat unseren Worten sehr widerstanden“ (2. Tim 4,14.15). Es gibt kaum etwas Ernsteres, als wenn Gott einen Menschen aufgibt und ihn seine eigenen Wege gehen läßt. Gewiß, Er wird Sich jedem Menschen gegenüber bezeugen, und das mehr als einmal (vgl. Hiob 53,29.30). Aber wenn dieser absolut nicht umkehren will, läßt Er ihn schließlich gehen. Erklärten Feinden der Wahrheit gegenüber gilt auch für uns heute: „Laßt sie!“
Was nützt das Diskutieren über Lehrfragen mit jemand, der noch geistlich tot und vielleicht gar ein ausgesprochener Gegner der Wahrheit ist? Das ist nicht nur nutzlos, es ist auch gefährlich. In der Bergpredigt warnt der Herr Seine Jünger davor, das Heilige den Hunden zu geben und ihre Perlen vor die Schweine zu werfen, „damit sie diese nicht etwa ... zertreten und sich umwenden und euch zerreißen“ (Mt 7,6). Zu einem Mißbrauch der Gnade sollen wir nicht noch die Hand reichen.
Bevor wir uns mit den religiösen Führern in Israel beschäftigen, wollen wir einen kurzen Blick auf die werfen, die von ihnen belehrt wurden. Als Ganzes gesehen, waren die Juden nach dem Urteil des Herrn „Blinde“, blind in bezug auf sich und blind in bezug auf die Gedanken Gottes. Das war in der Tat ein ernstes Urteil! Es schloß, wie wir noch sehen werden, nicht weniger in sich, als daß sie das schreckliche Los mit denen teilen würden, die sie belehrten. Das Urteil der Pharisäer über ihr eigenes Volk war jedoch verächtlich: „Diese Volksmenge aber, die das Gesetz nicht kennt, sie ist verflucht!“ (Joh 7,49). Welch ein Hochmut spricht aus diesen Worten!
Das war neben der Selbstgerechtigkeit ein Haupt-Charakterzug dieser religiösen Führer. Im Gleichnis vom »Pharisäer und Zöllner« stellt der Herr dieselben beiden Merkmale nebeneinander: Diese Leute vertrauten auf sich selbst, daß sie gerecht seien; und sie verachteten die übrigen (Lk 18,9). In der Mitte des Volkes Israel nahmen sie jedoch die Stellung von Lehrern ein und hatten sich, wie der Herr es bezeichnet, „auf den Stuhl Moses gesetzt“ (Mt 23,2). Sie hielten sich für kompetent und allein befugt, in allen religiösen Fragen zu entscheiden. Diesen Anspruch leiteten sie daraus ab, daß sie die Buchrollen des Gesetzes besaßen und mit den Schriftgelehrten den heiligen Text pflegten und auf dessen Er- und Einhaltung bedacht waren. Als solche, die im Gesetz unterwiesen waren, getrauten sie sich, Leiter der Blinden zu sein (Röm 2,19). In den Synagogen belehrten sie das Volk und legten die Bestimmungen des Gesetzes im einzelnen aus.
Das bedeutet aber nicht, daß sie sie auch verstanden. Sie meinten das zwar, aber der Herr Jesus sagt, daß sie blinde Leiter der Blinden seien. Wer wirklich die Schriften verstand, würde erkennen, daß sie von Ihm zeugten, und würde zu Ihm kommen, um ewiges Leben zu erhalten (Joh 5,39.40). Sie aber kamen nicht zu Ihm, und das zeigt, daß sie die Schriften nicht verstanden, daß sie blind waren.
Doch diese geistliche Blindheit war nicht nur ein bloßes Mißgeschick, es war auch nicht allein die natürliche Blindheit des Menschen als Folge seines sündigen Zustands. Nein, weil sie meinten, sie sähen, deswegen waren sie in Wahrheit blind (Joh 9,39–41). Wir werden uns mit diesen Versen eingehender beschäftigen, wenn wir zum Gleichnis von der Tür der Schafe« in Johannes 10 kommen. Die Pharisäer hatten es jedenfalls abgelehnt „zu sehen“, und so würden sie, die Sehenden (das heißt, die da meinten zu sehen), blind werden. Es war ein Gericht des Herrn. Sie liebten die Finsternis mehr als das Licht (Joh 3,19), und so erfüllte sich an ihnen die Weissagung in Zephanja 1: „Ich werde die Menschen ängstigen, und sie werden einhergehen wie die Blinden, weil sie gegen Jehova gesündigt haben; und ihr Blut wird verschüttet werden wie Staub und ihr Fleisch wie Kot“ (Vers 17). Zur Blindheit verurteilt – welch ein ernstes Gericht ist das! Es beginnt schon in dieser Zeit und hat ewige Folgen.
Es ist fast erschreckend zu sehen, wie oft und auf welche Weise der Herr Jesus diese geistlichen Führer in Seiner Rede in Matthäus 23 mit dem Prädikat »blind« belegt: „Wehe euch, blinde Leiter!“ (Vers 16); „Ihr Narren und Blinden!“ (Vers 17); „Ihr [Narren und] Blinden!“ (Vers 19); „Blinde Leiter!“ (Vers 24); „Blinder Pharisäer!“ (Vers 26). Würden sie vom Geist gesalbte Augen haben, so würden sie davor bewahrt bleiben, in die Grube zu fallen. Da sie aber meinten zu sehen, in Wirklichkeit aber blind waren, würde ihnen gerade dieses Los widerfahren. „Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen.“ So schließt auch dieses kleine Gleichnis mit einem Hinweis auf das kommende Gericht, das sich auf Führer wie Geführte gleichermaßen erstrecken würde.
Ist das alles nicht auch auf unsere Zeit und die Zustände in der Christenheit anzuwenden? Ganz gewiß! Nach wie vor verblendet ja der »Gott dieser Welt«, Satan, den Sinn der Ungläubigen, damit ihnen nicht ausstrahle der Lichtglanz des Evangeliums der Herrlichkeit des Christus (2. Kor 4,4). Doch welch ein Gericht wird die treffen, die er als geistliche Führer dazu benutzen kann! Und legt das nicht auch auf uns die ernste Verantwortlichkeit, nicht das Wort Gottes zu verfälschen, sondern nur die Wahrheit vor die Gewissen der Menschen zu bringen?
Wir wollen indes die Betrachtung über dieses kleine Gleichnis nicht abschließen, ohne auch auf die Gnade Gottes hinzuweisen, die trotz allem zu wirken vermag. Saulus von Tarsus war auch ein Pharisäer, war sogar ein Verfolger der Versammlung. Trotzdem öffnete Gott ihm die Augen, die körperlichen und die geistlichen (Apg 9,12–18). Und nicht nur das, der Herr, der ihm erschienen war, sandte ihn auch zu anderen, zu den Nationen, um deren „Augen aufzutun, damit sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht (Kap. 26,18).
Während in unserem Gleichnis die Blinden von Blinden irregeleitet werden und gemeinsam in der Grube enden, fuhren die Knechte im Gleichnis vom »großen Abendmahl« auf Geheiß des Hausherrn von den Straßen und Gassen der Stadt unter anderen auch Blinde herbei (Lk 14,21). Auch sie leiten Blinde, aber sie sind nicht blinde Leiter der Blinden. Und wo endet ihr gemeinsamer Weg? Im Festsaal des Herrn oder – entsprechend der Darstellung in Matthäus 22 – im Hochzeitssaal des Königs. Wenn der Herr solche Blinden zu Sich führt, ist es dann denkbar, daß Er ihnen nicht vorher die Augen öffnet, bevor sie an Seiner Tafel Platz nehmen? Der Prophet Elisa liefert uns davon ein schönes Beispiel. Als er die mit Blindheit geschlagenen feindlichen Syrer mitten nach Samaria geführt hatte, betete er: „Jehova, öffne diesen die Augen, daß sie sehen! Da öffnete Jehova ihnen die Augen; und sie sahen ...“ Und dann wurde ihnen ein großes Mahl zugerichtet (2. Kön 6,19–23).
Welch ein Triumph der Gnade Gottes! Sie setzt auch in unseren Tagen ihren Triumphzug fort, wie sehr die sittliche Blindheit der Menschen auch zunimmt.