Betrachtung über Galater (Synopsis)
Kapitel 5
Als Kinder der Freien, des Jerusalems droben, sollten die Galater in dieser Freiheit, in der Freiheit des Christus, feststehen und sich nicht wieder unter das Joch des Gesetzes stellen. Sobald sie diesen Boden betraten, machten sie sich verantwortlich, das Gesetz persönlich und völlig zu halten, und Christus war ohne Nutzen für sie. Sie konnten nicht zur Erlangung der Gerechtigkeit auf dem Werk Christi ruhen und zugleich sich verantwortlich machen, selbst eine Gerechtigkeit nach dem Gesetz zu erwirken. Diese beiden Dinge stehen im Widerspruch miteinander. Es wäre daher nicht mehr der Boden der Gnade gewesen, auf dem sie standen. Sie verließen die Gnade, um die Forderungen des Gesetzes zu erfüllen. Das ist nicht die Stellung des Christen.
Des Christen Stellung ist vielmehr diese: er trachtet nicht nach Gerechtigkeit vor Gott wie ein Mensch, der sie nicht besitzt; er ist Gottes Gerechtigkeit in Christus, und Christus selbst ist der Maßstab dieser Gerechtigkeit. Der Heilige Geist wohnt in ihm. Der Glaube ruht in dieser Gerechtigkeit, gleichwie Gott in ihr ruht, und dieser wird aufrecht gehalten durch den Heiligen Geist, der das in dieser Gerechtigkeit befestigte Herz auf ihren Lohn, die Herrlichkeit, hinlenkt – ein Lohn, den Christus bereits genießt, so dass wir wissen, was diese Gerechtigkeit verdient. Christus befindet sich in der Herrlichkeit, die der Gerechtigkeit, dem Werk, das Er vollbracht hat, gebührt. Wir kennen diese Gerechtigkeit kraft dessen, was Er gewirkt hat, weil Gott sein Werk anerkannt und Ihn zu seiner Rechten droben gesetzt hat. Die Herrlichkeit, in der Er ist, ist sein gerechter Lohn und der Beweis dieser Gerechtigkeit. Der Geist offenbart die Herrlichkeit und versiegelt uns diese Gerechtigkeit, auf die der Glaube baut. Der Apostel drückt diese Wahrheit mit folgenden Worten aus: „Wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung (die erhoffte Herrlichkeit) der Gerechtigkeit.“ Für uns ist es Glauben, denn wir sind noch nicht im Besitz dessen, was wir hoffen – jener Herrlichkeit nämlich, die der Gerechtigkeit, die unser Teil ist, gebührt. Christus besitzt sie, so dass wir wissen, worauf wir hoffen. Durch den Geist erkennen wir die Herrlichkeit und haben zugleich die Gewissheit der Gerechtigkeit, die uns das Recht gibt, jene zu besitzen. Es ist also nicht Gerechtigkeit, worauf wir warten, sondern wir erwarten durch den Geist aus Glauben die der Gerechtigkeit angehörende Hoffnung. Es geschieht aus Glauben: „Denn in Christus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.“ Es muss Wirklichkeit im Herzen vorhanden sein.
Das Herz des Apostels ist niedergedrückt bei dem Gedanken an das, was die Galater verwarfen, und an das Unheil, das die böse Lehre unter ihnen anrichtete. Es fließt über. Inmitten seiner Beweisführung unterbricht er sich plötzlich mit den Worten: „Ihr liefet gut; wer hat euch aufgehalten, der Wahrheit zu gehorchen?“ So leicht von dieser jüdischen Lehre, die nur ein verderblicher Irrtum war, überredet zu werden, war nicht das Werk Dessen, der sie berufen hatte. Auf diese Weise waren sie nicht durch Gnade Christen geworden. Ein wenig Sauerteig durchsäuerte den ganzen Teig.
Dennoch gewinnt der Apostel sein Vertrauen wieder, indem er höher schaut. Ruhend auf der Gnade, die in Christus für die Seinigen vorhanden ist, kann er sich hinsichtlich der Galater wieder ermutigen. Er war in Verlegenheit, wenn er an sie dachte; wenn er aber auf Christus blickte, so hatte er Vertrauen, dass sie gewiss nicht anders gesinnt sein würden. So durch die Gnade über dem Bösen stehend, war er bei den Korinthern, wo sittliche Dinge in Frage standen, bereit, allen Ungehorsam zu bestrafen, wenn alle, die zu gehorchen verstanden, völlig zum Gehorsam zurückgebracht sein würden (2. Kor 10). Und ebenso sollte auch hier, wo es sich um Lehre handelte, jedes Herz, das dem Einfluss der Wahrheit Christi zugänglich war, zu der Kraft der Wahrheit Christi zurückgebracht werden; und die, welche, im Bösen tätig, sie durch falsche Lehre beunruhigten, deren Wille damit beschäftigt war, den Irrtum zu verbreiten, sollten ihre Last tragen. Es ist sehr schön, des Apostels Unruhe zu sehen, wenn er an die Menschen denkt (eine Unruhe, die übrigens die Frucht seiner Liebe zu ihnen war) sowie das Vertrauen, das er wiedergewinnt, sobald er sein Herz zu dem Herrn erhebt. Sein gedrängter Stil, seine abgebrochenen und nicht zusammenhängenden Worte, alles zeigt, wie tief sein Herz bewegt war. Der Irrtum, der die Seele von Christus trennte, war ihm schrecklicher als die traurigen Früchte einer praktischen Trennung. In seinem Brief an die Korinther finden wir nicht dieselben Zeichen tiefer Gemütsbewegung wie hier; es handelt sich hier eben um die Grundlage von allem. Die Herrlichkeit Christi, des Erlösers, stand auf dem Spiel, die einzige Sache, die eine Seele mit Gott in Verbindung bringen konnte; und auf der anderen Seite sah sich der Apostel einem planmäßigen Werk Satans gegenüber, das die Wahrheit umstoßen wollte, dass das Evangelium von Christus zum Heil der Menschen unentbehrlich ist.
An dieser Stelle fügt Paulus, sich unterbrechend, die Worte hinzu: „Ich aber, Brüder, wenn ich noch Beschneidung predige, was werde ich noch verfolgt?“ Tatsächlich waren die Juden gewöhnlich die Urheber der Verfolgungen, die der Apostel seitens der Heiden zu erdulden hatte. Der Geist des Judentums, der religiöse Geist des natürlichen Menschen, war zu allen Zeiten das große Werkzeug Satans in seinem Widerstand gegen das Evangelium. Wenn Christus dem Fleische seine Anerkennung geben wollte, so würde die Welt Frieden machen und so religiös sein, wie man es nur wünschen möchte; sie würde sich sogar ihrer Frömmigkeit rühmen. Aber in diesem Fall war es nicht mehr der wahre Christus. Christus ist gekommen als ein Zeugnis, dass der natürliche Mensch verloren, gottlos, ohne Hoffnung, tot in seinen Vergehungen und Sünden ist, und dass die Erlösung und ein neuer Mensch nötig sind. Er ist in Gnaden gekommen, eben weil der Mensch jeder Verbesserung unfähig war. Aus diesem Grund musste alles unvermischte Gnade sein und in Gott seine Quelle haben. Wollte Christus sich irgendwie mit dem alten Menschen einlassen, so wäre alles gut; aber ich wiederhole, Er wäre dann nicht mehr Christus. Die Welt, der alte Mensch, erträgt Ihn nicht. Ein Gewissen, das Gefühl, dass man der Religion bedarf, sowie das Blendwerk einer alten, von den Vätern überlieferten Religion sind vorhanden, einer Religion, die, wenn auch verderbt, in ihren ursprünglichen Grundlagen vielleicht wahr ist. Der Fürst dieser Welt benutzt daher gern fleischliche Religion, um das Fleisch – diesen, wenn einmal erwacht, willigen Feind der geistlichen Religion – aufzuwiegeln, um so mehr als diese das Fleisch verurteilt.
Es handelt sich also nur darum, Christus etwas hinzuzufügen. Aber was? Wenn es nicht Christus und der neue Mensch ist, so ist es der alte, der sündige Mensch; und anstatt einer notwendigen und vollbrachten Erlösung und eines ganz neuen Lebens von oben erhält man ein Zeugnis, dass zwischen jenem und diesem eine Verständigung möglich ist: man bedarf der Gnade nicht, es sei denn höchstens als einer kleinen Beihilfe. Der Mensch ist nicht schon verloren und tot in seinen Vergehungen und Sünden, und endlich, das Fleisch ist nicht tatsächlich und durchaus böse. Auf diese Weise wird der Name Christi dem Fleisch untergeordnet, das sich gern mit dem Ansehen dieses Namens schmückt, um das Evangelium in seinen wahren Grundlagen zu zerstören. Man predige nur Beschneidung und erkenne den Gottesdienst des Fleisches an, so wird jede Schwierigkeit aufhören; die Welt wird ein solches Evangelium annehmen, aber es wird nicht das Evangelium Christi sein. Das Kreuz in sich selbst (d.h. der Beweis des gänzlichen Verderbens und der Gottesfeindschaft des Menschen) sowie eine vollkommene, vollendete Erlösung aus Gnaden werden stets ein Stein des Anstoßes für alle bleiben, die für das Fleisch einiges Ansehen zu behalten wünschen. „Ich wollte“, ruft der Apostel aus – denn er sah, wie das ganze Evangelium vor diesem listigen Angriff in Trümmer ging und die Seelen zerstört wurden –, „ich wollte, dass sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!“ Was haben wir seitdem gesehen? Und wo findet sich diese heilige Entrüstung des Apostels?
Paulus geht jetzt zu den praktischen Folgerungen aus seiner Lehre über: die Lehre von einer vollkommenen Gnade, ohne Gesetz, ist mit einem dem Volk Gottes würdigen Wandel verbunden. „Denn ihr seid zur Freiheit berufen worden, Brüder“, sagt er; „allein gebraucht nicht die Freiheit zu einem Anlass für das Fleisch“ – wozu das Fleisch sofort bereit sein würde. Hatte Gott das Gesetz gegeben, um den Menschen von der Sünde zu überführen, so wollte das Fleisch es gebrauchen, um Gerechtigkeit zu erwirken. Handelt Er in Gnade, um uns über die Sünde zu erheben und von ihrer Herrschaft zu befreien, so will das Fleisch die Gnade als einen Anlass benutzen, um ohne Schranken zu sündigen. Der Christ, in Wahrheit freigemacht von dem Joch der Sünde und von ihrem Gericht (denn der auferstandene Christus ist sowohl sein Leben als auch seine Gerechtigkeit, und der Geist ist die Kraft und der Leiter seines Wandels zur Herrlichkeit hin und Christus Jesus gemäß), sucht, anstatt seinen Lüsten zu folgen, anderen zu dienen; denn er ist frei, das in Liebe zu tun. Auf diese Weise wird das Gesetz selbst erfüllt, ohne dass wir uns unter seinem Joch befinden; denn das ganze praktische Gesetz ist in dem Wort zusammengefasst: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“
Wenn die Galater, indem sie sich dem Fleisch ergaben und die Unbeschnittenen anfielen, einander bissen und fraßen, so sollten sie zusehen, dass sie nicht voneinander verzehrt würden. Doch der Apostel wünschte ihnen noch eine bestimmtere Belehrung zu geben. „Ich sage aber“, fährt er nach der Einschaltung, die er gemacht hat, fort, „wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen.“ Niemand hat Kraft der Sünde gegenüber, wenn er sich unter das Gesetz stellt. Der Geist, der infolge der Erhöhung Christi (unserer Gerechtigkeit) zur Rechten Gottes hernieder gesandt ist, ist des Christen Kraft. Die beiden Mächte, das Fleisch und der Geist, sind einander entgegengesetzt. Das Fleisch strengt sich an, uns zurückzuhalten, wenn wir nach dem Geist wandeln wollen, und der Geist widersteht der Wirkung des Fleisches, um es an der Erfüllung seines Willens zu hindern. Es heißt nicht: „So dass ihr nicht tun könnt“, sondern „damit ihr nicht das tut, was ihr wollt.“ Aber wenn wir durch den Geist geleitet werden, so sind wir nicht unter Gesetz. Heiligkeit, wahre Heiligkeit, wird ohne Gesetz vollendet, so wie auch Gerechtigkeit nicht aufs Gesetz gegründet ist. Auch ist es gar nicht schwierig, zwischen dem, was vom Fleisch und dem, was vom Geist ist, zu unterscheiden. Der Apostel zählt die traurigen Früchte des Fleisches auf und fügt das bestimmte Zeugnis hinzu, dass, die solches tun, das Reich Gottes nicht ererben werden. Die Früchte des Geistes sind in ihrem Charakter ebenso offenbar wie jene, und gewiss gab es wider solche Dinge kein Gesetz. Wenn wir nach dem Geist wandeln, so wird das Gesetz nichts in uns zu verurteilen finden. Und diejenigen, welche Christi sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten. Das ist ihr Charakter, insofern sie Christen sind: es ist das, was sie von anderen unterscheidet. Wenn jene Galater wirklich lebten, so war es durch den Geist; deshalb sollten sie auch durch den Geist wandeln.
Das ist die allezeit gültige Antwort des Apostels für alle, die das Gesetz als ein Heiligungsmittel und als den Leiter unseres Wandels einzuführen suchen. Die Kraft und die Richtschnur zur Heiligkeit liegen in dem Geist; das Gesetz gibt den Geist nicht. Schließlich ermahnt der Apostel die Christen, nicht eitler Ehre geizig zu sein, einander herauszufordern, einander zu beneiden. Offenbar hatten die anmaßenden Forderungen, das Gesetz zu halten, dem Hochmut des Fleisches freies Feld gegeben.