Betrachtung über Galater (Synopsis)
Kapitel 4
Die entsprechende Stellung des Juden (selbst wenn er ein Gläubiger war), bevor Christus kam, sowie diejenige des gläubigen Juden oder Heiden nach der Offenbarung Christi ist also klar vorgestellt worden. Im Anfang des 4. Kapitels nun fasst der Apostel das Gesagte noch einmal zusammen. Er vergleicht den Gläubigen vor dem Kommen Christi mit einem unmündigen Kind, das mit seinem Vater hinsichtlich seiner Gedanken nicht in unmittelbarer Verbindung steht, sondern des Vaters Befehle empfängt, ohne dass ihm der Grund dafür angegeben wird, ähnlich wie ein Knecht sie empfangen würde. Er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der von dem Vater bestimmten Zeit. So standen die Juden, obwohl sie Erben der Verheißung waren, nicht in Verbindung mit dem Vater und seinen Ratschlüssen in Jesus, sondern befanden sich unter der Vormundschaft von Grundsätzen, die dem System der gegenwärtigen Welt, d. i. einer verderbten und gefallenen Schöpfung, angehörten. Ihr Wandel in diesem System war von Gott angeordnet und ging nicht über dasselbe hinaus. Wir reden von dem System, durch das sie geleitet wurden, abgesehen von dem göttlichen Licht, das sie von Zeit zu Zeit empfangen mochten, um ihnen den Himmel zu offenbaren und ihre Hoffnung zu beleben, während das System selbst, unter dessen Herrschaft sie gestellt waren, nur noch finsterer dadurch wurde. Unter dem Gesetz waren sie also, obwohl Erben, noch in Knechtschaft. Als aber die Zeit erfüllt und dazu reif war, sandte Gott seinen Sohn (eine Handlung, die aus seiner überschwänglichen Güte hervorfloß) zur Erfüllung seiner ewigen Ratschlüsse und zur Offenbarung seines ganzen Charakters. Gott war es, der das tat; Er war es, der handelte. Das Gesetz forderte den Menschen auf, zu handeln, und es brachte ans Licht, dass der Mensch gerade das Gegenteil von dem war, was er dem Gesetz gemäß hätte sein sollen. Der Sohn Gottes aber kommt von Gott. Er fordert nichts. Er ist in der Welt in Beziehung zu den Menschen offenbart worden in dem zwiefachen Verhältnis eines Menschen, „geboren von einer Frau und geboren unter Gesetz“.
Wenn Sünde und Tod durch eine Frau in die Welt gekommen sind, so kam auch Christus durch eine Frau in diese Welt. War der Mensch durch Gesetz unter der Verdammnis, so stellte sich auch Christus unter Gesetz. In diesem zwiefachen Verhältnis nimmt Er den Platz ein, auf dem sich der Mensch befindet. Er nimmt ihn ein in Gnade, ohne Sünde, aber mit der damit verbundenen Verantwortlichkeit, einer Verantwortlichkeit, der Er allein entsprochen hat. Jedoch ging der Zweck seiner Sendung viel weiter, als in seiner Person den Menschen ohne Sünde inmitten des Bösen und mit der Erkenntnis des Guten und Bösen zu offenbaren. Er kam, um diejenigen zu erlösen, die unter Gesetz waren, damit die Gläubigen (wer sie auch sein mögen) die Sohnschaft empfingen. Dass Gläubige aus den Nationen zugelassen waren, um an der Sohnschaft teilzuhaben, war bewiesen durch die Sendung des Geistes, der sie rufen ließ: „Abba, Vater!“ Denn weil sie Söhne sind, hat Gott den Geist seines Sohnes ohne Unterschied sowohl in ihre Herzen als auch in diejenigen der Juden gesandt. Der Heide, ein Fremder bezüglich des Hauses, und der Jude, der sich in seiner Unmündigkeit in nichts von einem Knecht unterschied, hatten beide, zufolge der durch den Sohn für sie bewirkten Erlösung, die Stellung eines Sohnes in unmittelbarer Beziehung zu dem Vater eingenommen – eine Beziehung, von der der Heilige Geist die Kraft und das Zeugnis war. Der Jude unter dem Gesetz bedurfte der Erlösung ebenso sehr wie der Heide in seinen Sünden. Die Wirksamkeit dieser Erlösung war aber eine so große, dass der Gläubige nicht Knecht, sondern Sohn war, wenn aber Sohn, so auch Erbe Gottes durch Jesus Christus. Der Heide war zuvor in Knechtschaft gewesen, freilich nicht unter dem Gesetz, sondern unter dem, was seiner Natur nach nicht Gott war (V. 8). Er kannte Gott nicht und war ein Sklave von allem, was sich des Namens Gottes rühmte, um dadurch das Herz des von dem wahren Gott und von seiner Erkenntnis entfremdeten Menschen zu verblenden.
Doch was taten diese Heiden jetzt, nachdem sie Christen geworden waren? Sie wollten sich wieder in die Knechtschaft unter diese armseligen weltlichen und fleischlichen Elemente, denen sie vorher unterworfen gewesen waren, zurückbegeben – unter Dinge, aus denen der fleischlich gesinnte Mensch, ohne irgendeinen sittlichen oder geistlichen Gedanken, seine Religion bilden konnte, und welche die Gott gebührende Ehre in äußerliche Satzungen fassten, die ein Ungläubiger wie ein über Gott unwissender Heide rühmend seine Religion nennen konnte.
Als Bilder, die Gott gebraucht hatte, um von den Wirklichkeiten, die in Christus sind, zuvor Zeugnis zu geben, besaßen sie ihren Wert. Gott wusste den Gebrauch dieser dem Glauben nützlichen Vorbilder mit einem religiösen System zu vereinigen, das den Menschen im Fleisch auf die Probe stellt und dazu diente, die Frage zu beantworten, ob der Mensch mit jeder Art von Hilfe imstande sei, vor Gott zu stehen und Ihm zu dienen. Jetzt aber zu diesen, für den Menschen im Fleisch gemachten Satzungen zurückkehren, nachdem Gott die Unfähigkeit des Menschen, vor Ihm gerecht zu werden, erwiesen hatte, jetzt wo das Wesen dieser Schatten gekommen war, hieß zu der Stellung des Menschen im Fleisch zurückkehren und diese Stellung ohne irgendein dahingehendes Gebot Gottes einnehmen. Es war ein Zurückkehren auf den Boden des Götzendienstes, das heißt zu einer fleischlichen Religion, die von Menschen, ohne irgendwelche Autorität von Gott, angeordnet war und den Menschen in keinerlei Weise mit Ihm in Verbindung brachte. Denn ein Dienst im Fleisch konnte das durchaus nicht bewirken. „Ihr beobachtet Tage und Monate und Zeiten und Jahre.“ Das taten die Heiden in ihrer menschlichen Religion. Freilich war das Judentum eine von Gott verordnete menschliche Religion; aber durch ihr Zurückkehren zu derselben, nachdem die Verordnung Gottes nicht mehr in Kraft war, kehrten die Galater nur zum Heidentum zurück, aus dem sie berufen worden waren, um mit Christus an himmlischen Dingen teilzuhaben.
Nichts könnte deutlicher zeigen, was religiöse Gebräuche nach dem Tod Christi wert sind, als dies. Zu der Religion des Menschen zurückzukehren, wenn Gott völlig offenbart ist, ist einfach Heidentum. „Ich fürchte für euch“, sagt der Apostel, „ob ich nicht etwa vergeblich an euch gearbeitet habe.“ Sie warfen aber dem Apostel vor, dass er kein treuer Jude nach dem Gesetz sei, sondern sich von der Autorität desselben frei gemacht habe. Doch er begegnet diesem Vorwurf mit den Worten: „Werdet wie ich, denn auch ich bin wie ihr“, nämlich frei vom Gesetz. Ihr habt mir nichts zuleide getan, indem ihr dies gesagt habt. Wollte Gott, ihr wärt ebenso! Dann erinnert er sie an seinen Dorn für das Fleisch (siehe 2. Kor 12,7). Derselbe bestand in irgendetwas, das ihn in seinem Dienst verächtlich zu machen vermochte. Trotzdem hatten die Galater ihn wie einen Engel Gottes, wie Jesum Christum selbst, aufgenommen. Was war aus dieser Glückseligkeit geworden? War er ihr Feind geworden, weil er ihnen die Wahrheit gesagt hatte? Eifern war gut; aber wenn ihr Eifer eine rechte Sache zu seinem Gegenstand hatte, so hätten sie in demselben beharren und ihn nicht nur zeigen sollen, solange Paulus bei ihnen gegenwärtig war. Jene neuen Lehrer beeiferten sich sehr, die Galater zu ihren Parteigängern zu machen und sie von dem Apostel zu trennen, um sie an sich zu fesseln. Dieser arbeitete wiederum, als wenn er in Geburtswehen wäre, damit Christus gleichsam aufs Neue in ihren Herzen gestaltet werden möchte: ein rührendes Zeugnis von der Stärke seiner christlichen Liebe. Diese Liebe war göttlich in ihrem Charakter; sie wurde durch die ihr widerfahrene Undankbarkeit nicht geschwächt, weil sie nicht ihre Quelle in der Liebenswürdigkeit und Anziehungskraft ihrer Gegenstände hatte. Moses sagte einst: „Habe ich denn dieses ganze Volk geboren, dass ich es in meinem Busen tragen soll?“ Paulus ist bereit, zum zweiten Male Geburtswehen um sie zu haben.
Er weiß nicht, was er sagen soll. Er wünschte sehr, bei ihnen gegenwärtig zu sein, damit er, wenn er sie sähe, seine Worte ihrem Zustand anpassen könnte; denn sie hatten wirklich den Boden des Christentums verlassen. Wollten sie denn, da sie unter dem Gesetz zu sein wünschen, das Gesetz hören? Sie konnten in demselben, unter dem Vorbild der Hagar und Sara, die zwei Systeme erblicken: Das des Gesetzes, das zur Knechtschaft, und das der Gnade, das zur Freiheit gebiert; und nicht allein das, auch die bestimmte Ausschließung des Kindes der Knechtschaft von dem Erbe wurde offenbar. Die beiden Kinder konnten nicht miteinander vereinigt werden: das eine schloss das andere aus. Das Kind der Magd war nach dem Fleisch geboren, das der Freien aber nach der Verheißung. Das Gesetz und der sinaitische Bund standen mit dem Menschen im Fleisch in Verbindung. Der Grundsatz der Beziehungen des Menschen zu Gott dem Gesetz gemäß (wenn solche Beziehungen möglich gewesen wären) war derjenige eines zwischen dem Menschen im Fleisch und dem gerechten Gott gebildeten Verhältnisses. Was den Menschen anbetraf, so waren das Gesetz und die Satzungen für ihn nur eine Knechtschaft. Ihr Zweck war, den Willen zu zügeln, ohne dass er verändert worden wäre. Es ist höchst wichtig zu verstehen, dass ein Mensch unter dem Gesetz ein Mensch im Fleisch ist. Wenn er wiedergeboren, gestorben und wieder auferweckt ist, so ist er nicht mehr unter Gesetz; dasselbe übt seine Herrschaft nur insoweit über den Menschen aus, wie er hienieden lebt. „Das Jerusalem droben ist frei, das unsere Mutter ist.“ Es steht im Gegensatz zu dem Jerusalem auf Erden, das in seinen Grundsätzen dem Berg Sinai entsprach. Beachten wir, dass der Apostel hier nicht von der Übertretung, sondern von dem Grundsatz des Gesetzes redet. Das Gesetz selbst versetzt den Menschen in einen Zustand der Knechtschaft. Es ist dem Menschen im Fleisch auferlegt, der im Widerspruch zu demselben steht. Gerade durch die Tatsache, dass er einen eigenen Willen hat, liegen das Gesetz und dieser Wille in stetem Kampf miteinander. Eigenwille ist nicht Gehorsam.
Der 27. Vers bietet manchen Seelen Schwierigkeit, weil sie seinen Inhalt gewöhnlich mit Hagar und Sara vermengen, während er nur eine allein stehende Bemerkung enthält, die hervorgerufen ist durch den Gedanken an das Jerusalem droben. Der Vers ist eine Anführung aus Jesaja 54, wo die Freude und Herrlichkeit des irdischen Jerusalem im Anfang des 1000-jährigen Reiches gepriesen wird. Der Apostel führt diese Stelle an, um zu zeigen, dass Jerusalem während der Zeit ihres Verlassenseins mehr Kinder besaß, als zurzeit, da sie einen Mann hatte. Im 1000-jährigen Reich wird der Herr, HERR, ihr Mann sein, wie Er es auch vor der Zeit ihres Verlassenseins war. Jetzt ist sie vereinsamt, sie gebiert nicht. Dennoch sind mehr Kinder da als zuvor, da sie verheiratet war. Das sind die wunderbaren Wege Gottes. Wenn Gott dereinst wieder mit der Erde in Verbindung treten wird, so werden alle Gläubigen als Kinder Jerusalems gerechnet werden, des Jerusalems jedoch, das jetzt ohne Mann und verlassen ist; darum sollten die Galater es nicht anerkennen, als wenn Gott es noch anerkennte. Sara war nicht ohne Mann. Das beweist schon, dass der Gedankengang hier ein anderer ist. Ohne Mann und verlassen (so dass sie im eigentlichen Sinn keine Kinder hat), besitzt Jerusalem jetzt mehr Kinder, als in den besten Tagen ihres Lebens, als der HERR ihr zum Mann war. Denn hinsichtlich der Verheißung kam das Evangelium aus Jerusalem hervor. Die Versammlung (Gemeinde) ist nicht nach der Verheißung. Sie war ein in Gott verborgener Ratschluss, von dem die Verheißungen nie geredet hatten. Ihre Stellung ist eine noch höhere; doch an dieser Stelle erreicht die Belehrung des Apostels diese Höhe nicht. Indessen sind auch wir Kinder der Verheißung und nicht des Fleisches. Israel nach dem Fleisch hatte keine anderen Ansprüche, als dass sie dem Fleisch nach Kinder Abrahams waren. Wir sind das nur durch Verheißung. Das Wort Gottes aber stieß den Sohn der Magd, der nach dem Fleisch geboren war, hinaus, damit er nicht erben möchte mit dem Sohn der Verheißung. Was uns betrifft, so sind wir Kinder der Verheißung.