Betrachtung über Galater (Synopsis)
Kapitel 3
Welch ein schrecklicher und unersetzlicher Verlust, einen solchen Christus zu verlieren, wie wir Ihn unter der Gnade erkannt haben! eine solche Gerechtigkeit, eine solche Liebe! den Sohn Gottes selbst, der unser Teil, unser Leben ist, den Sohn Gottes, der sich für uns hingegeben und sich uns gänzlich gewidmet hat! Der Gedanke daran erweckt die Gefühle des Apostels so mächtig, dass er ausruft: „O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert?“ Christus war, als unter ihnen gekreuzigt, ihnen vor Augen gemalt worden. Ihre Torheit trat noch überraschender zu Tage, wenn sie sich an das erinnerten, was sie empfangen, an das, was sie tatsächlich unter dem Evangelium genossen und was sie für dasselbe gelitten hatten. Hatten sie den Geist aus Gesetzeswerken empfangen oder aus der Kunde des Glaubens? Nachdem sie durch die Kraft des Geistes angefangen hatten, wollten sie die Sache nun durch das elende Fleisch zur Vollendung bringen? Sie hatten für das Evangelium gelitten, für das reine Evangelium, das weder durch das Judentum, noch durch das Gesetz verfälscht war. War denn das alles vergeblich? „Und“, fragt der Apostel weiter, „der euch nun den Geist darreicht und Wunderwerke unter euch wirkt, ist es aus Gesetzeswerken oder aus der Kunde des Glaubens?“ d. h. in Verbindung mit einem Zeugnis, das sie durch den Glauben aufgenommen hatten. Geradeso hatte auch Abraham Gott geglaubt, und es war ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden. Diesen Grundsatz der Rechtfertigung aus Glauben hatte Gott in der Geschichte des Vaters der Gläubigen aufgerichtet. Deshalb waren die, welche sich durch Gnade auf den Boden des Glauben stellten, auch“Söhne Abrahams“. Und die Schrift, in der Voraussicht, dass Gott die Nationen aus Glauben rechtfertigen würde, verkündigte dem Abraham diese gute Botschaft zuvor, indem Gott ihm sagte: „In dir werden gesegnet werden alle Nationen.“
Der Brief muss notwendigerweise die Anfangsgründe der christlichen Wahrheit behandeln, denn die Galater waren beschäftigt, das Fundament zu verlassen, und der Apostel besteht auf demselben. Die Hauptgrundsätze des Briefes sind, in Verbindung mit der bekannten Gegenwart des Geistes: Verheißung der Gnade gemäß, im Gegensatz zum Gesetz und vor dem Gesetz, und dann Christus als die Erfüllung der Verheißung, nachdem das Gesetz inzwischen neben eingekommen ist. Die Nationen waren somit Erben in Christus, dem wahren und einzigen Erben der Verheißung, und die Juden erlangten die Stellung von Söhnen.
Wir haben in diesem Kapitel also den Grundsatz, auf dem Abraham vor Gott stand, sowie die Erklärung, dass in ihm die Nationen gesegnet werden sollten. Alle nun, die auf dem Boden des Glaubens stehen, sind mit dem gläubigen Abraham gesegnet, während das Gesetz ausdrücklich einen Fluch über sie ausspricht, die es nicht in jedem Punkt beobachten (V. 10). Die Anwendung, die der Apostel hier von 5. Mose 27 macht, ist schon an anderer Stelle besprochen worden. Ich möchte hier nur daran erinnern, dass (während die zwölf Stämme in zwei Teile von je sechs geteilt wurden, der eine um den Segen, der andere um den Fluch zu verkünden) nur die Flüche ausgesprochen wurden, während die Segnungen gänzlich unterblieben. Der Apostel benutzt diesen auffallenden Umstand, um den wahren Charakter des Gesetzes ans Licht zu stellen. Zugleich erklärt die Schrift auf die deutlichste Weise, dass nicht Gesetzeswerke rechtfertigen können; denn sie sagt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Das Gesetz aber war nicht aus Glauben, sondern: „Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben.“ Sollte denn diese Autorität des Gesetzes, die doch die Autorität Gottes war, nicht aufrecht gehalten werden? Sicherlich! Aber Christus hatte den Fluch des Gesetzes getragen (und also diejenigen erlöst und befreit, die, zuvor dem Urteilsspruch des Gesetzes unterworfen, jetzt an Ihn geglaubt hatten), damit der Segen Abrahams durch Ihn zu den Nationen käme, so dass alle Gläubigen, sowohl die aus den Juden als auch die aus den Nationen, den verheißenen Geist empfangen möchten.
Christus hatte für den Gläubigen (der zuvor dem Gesetz unterstanden und sich der Übertretung desselben schuldig gemacht hatte) den ganzen Fluch, den es über den Schuldigen aussprach, erschöpft; und das Gesetz, durch das Israel abgesondert war, hatte seine Kraft über jeden Juden, der an Jesum glaubte, verloren, und zwar durch die nämliche Handlung, welche die Autorität des Gesetzes in der schlagendsten Weise bezeugt hatte. Darum war die Scheidewand nicht mehr vorhanden, und der einst verheißene Segen konnte (den Worten gemäß, in denen er seinerzeit dem Abraham gegeben wurde) jetzt frei ausströmen auf die Nationen durch Christus; denn der Fluch, den das Gesetz auf die Juden gebracht hatte, war durch Ihn weggenommen, und sowohl Juden als Nationen konnten nun durch den Glauben an Ihn den Heiligen Geist, den Gegenstand der Verheißung Gottes, in der Zeit der Segnung empfangen.
Nachdem der Apostel diesen Punkt erörtert hat, behandelt er das gegenseitige Verhältnis, das zwischen dem Gesetz und der Verheißung bestand, ohne von der Wirkung des Gesetzes auf das Gewissen zu reden. Die Verheißung war zuerst gegeben, und nicht nur gegeben, sondern auch bestätigt worden; und wäre es nur ein menschlicher, feierlich bestätigter Bund gewesen, so hätte weder etwas hinzugefügt noch aufgehoben werden können. Nun aber hatte Gott, 430 Jahre vor dem Gesetz, Sich selbst dem Abraham durch Verheißung verbindlich gemacht, und hatte die Segnung der Nationen gleichsam in der Person Abrahams hinterlegt (1. Mo 12). Diese Verheißung wurde seinem Samen (Isaak) bestätigt 1 (1. Mo 22), und zwar nur einem; Er sagt nicht, „den Samen“, sondern „dem Samen“; und dieser Same ist Christus. Ein Jude würde diesen letzten Punkt nicht leugnen. Nun aber konnte das so lange nachher kommende Gesetz die Verheißung, die von Gott zuvor gegeben und feierlich bestätigt worden war, nicht ungültig und wirkungslos machen. Denn wenn die Erbschaft aus Gesetz wäre, so wäre sie nicht mehr aus Verheißung; aber Gott hat sie dem Abraham durch Verheißung geschenkt (V. 18). Warum denn aber das Gesetz, wenn die unveränderliche Verheißung schon gegeben war und die Erbschaft dem Gegenstand dieser Verheißung zufallen musste, ohne dass das Gesetz Kraft gehabt hätte, irgendetwas daran zu ändern? Es ist gegeben worden, weil noch eine andere Frage zwischen der Seele und Gott lag, oder wenn man will, zwischen Gott und dem Menschen, nämlich die der Gerechtigkeit. Die Gnade, die so gern Segen austeilt und ihn zuvor verheißt, ist nicht die einzige Segensquelle für uns. Die Frage der Gerechtigkeit muss mit Gott in Ordnung gebracht werden, d. i. die Frage der Sünde und der Schuld des Menschen.
Nun, die Verheißung, die bedingungslos Christus gegeben war, redete von der Frage der Gerechtigkeit nicht. Diese Frage musste aber notwendigerweise erhoben werden, und zwar zunächst dadurch, dass Gerechtigkeit von dem Menschen gefordert wurde. Der Mensch war verantwortlich, Gerechtigkeit hervorzubringen und vor Gott in ihr zu wandeln; er hätte vor Gott gerecht sein sollen. Aber da die Sünde schon da war, wurde das Gesetz in Wirklichkeit dazu eingeführt, die Sünde offenbar zu machen. Die Sünde war schon vorhanden, der Wille des Menschen befand sich in Auflehnung wider Gott; aber das Gesetz rief erst die ganze Kraft dieses bösen Willens wach, und dieser offenbarte seine völlige Verachtung Gottes darin, dass er die Schranke, die das Gebot Gottes zwischen ihm und seinen Lüsten errichtet hatte, einfach übersprang.
Das Gesetz wurde hinzugefügt, damit Übertretungen da sein möchten, nicht (wie wir bereits bei der Betrachtung des Römerbriefes gesehen haben, wo derselbe Gegenstand behandelt wird) damit Sünde, sondern Übertretungen da seien, durch welche die Gewissen der Menschen erreicht und das Urteil des Todes und der Verdammnis in ihren leichtfertigen und sorglosen Herzen recht fühlbar gemacht werden könnten. Das Gesetz wurde also zwischen die Verheißung und ihre Erfüllung eingeschoben, um den wirklichen sittlichen Zustand des Menschen offenbar zu machen. Die Umstände, unter denen es gegeben wurde, ließen nun völlig ans Licht treten, dass es keineswegs das Mittel zur Erfüllung der Verheißung war. Das Gesetz stellte im Gegenteil den Menschen auf einen ganz anderen Boden, auf dem er sich selbst kennen lernte, und der ihn zugleich verstehen ließ, dass er auf der Grundlage seiner eigenen Verantwortlichkeit unmöglich vor Gott bestehen konnte. Gott hatte dem Samen Abrahams eine bedingungslose Verheißung gegeben. Er wird sie unfehlbar erfüllen, denn Er ist Gott. Aber in der Mitteilung des Gesetzes kam nichts unmittelbar und geradewegs von Gott. Es wurde durch die Vermittlung von Engeln angeordnet. Es war nicht Gott, der sich, indem Er spricht, einfach durch sein Wort der Person verbindlich macht, zu deren Gunsten die Verheißung erfüllt werden soll. Die Engel der Herrlichkeit, die an den Verheißungen kein Teil hatten (denn es waren Engel, die in der Herrlichkeit des Sinai glänzten; siehe Ps 68), bekleideten nach dem Willen Gottes die Verordnung des Gesetzes mit der Herrlichkeit ihrer Würde. Aber der Gott der Engel und Israels stand abgesondert da, verborgen in seinem Heiligtum von Wolken und Feuer und dichter Finsternis. Er war mit Herrlichkeit umgeben, machte sich furchtbar in seiner Pracht; aber Er enthüllte sich nicht. Die Verheißung hatte Er persönlich gegeben, das Gesetz brachte ein Mittler. Nun, das Vorhandensein eines Mittlers setzt notwendig zwei Parteien voraus; Gott aber (und das ist die Grundlage der ganzen jüdischen Religion) war einer! Die Festigkeit des auf Sinai gemachten Bundes hing deshalb von einem anderen ab. Und in der Tat stieg Mose hinauf und hinab und überbrachte Israel die Worte des Herrn, und dem Herrn die Antwort Israels, das sich verpflichtete, alles das zu erfüllen, was der HERR ihm als Bedingung zum Genuss der Verwirklichung seiner Verheißung auferlegte.
Auf die Worte des HERRN: „Wenn ihr fleißig auf meine Stimme hören werdet“, hatte Israel durch Moses Vermittlung geantwortet: „Alles was der HERR geredet hat, wollen wir tun.“ Was waren die Folgen? Der Apostel beantwortet aus zarter Schonung, wie mir scheint diese Frage nicht; er zieht nicht die notwendigen Folgerungen aus seiner Behauptung. Sein Zweck war, den Unterschied zwischen der Verheißung und dem Gesetz zu zeigen, ohne das Herz eines Volkes, das er liebte, unnötigerweise zu verwunden. Im Gegenteil bemühte er sich sogleich, jedem Anstoß, den seine Worte hervorrufen konnten, vorzubeugen; zugleich fährt er fort, seinen Gegenstand weiter zu entwickeln.
War das Gesetz wider die Verheißungen Gottes? Keineswegs! Denn wenn ein Gesetz gegeben wäre, das Leben mitteilen konnte, so wäre wirklich Gerechtigkeit (denn das ist unser Gegenstand hier) durch das Gesetz. Der Mensch, im Besitz des göttlichen Lebens, würde gerecht gewesen sein in der Gerechtigkeit, die er selbst gewirkt hätte. Das Gesetz verhieß die Segnung Gottes unter der Bedingung des Gehorsams des Menschen. Hätte es zugleich Leben geben können, so wäre das der Beweis gewesen, dass dieser Gehorsam seitens des Menschen hätte geleistet werden können, und Gerechtigkeit wäre auf Grund des Gesetzes gewirkt worden. Die Empfänger der Verheißung würden kraft ihrer eigenen Gerechtigkeit in den Genuss derselben eingetreten sein. Doch das Gegenteil trat ein; denn schließlich ist jeder Mensch, ob Jude oder Heide, von Natur ein Sünder: ohne Gesetz ist er ein Sklave seiner zügellosen Leidenschaften, und unter Gesetz zeigt er deren Kraft dadurch, dass er das Gesetz bricht. So hat die Schrift alles unter die Sünde eingeschlossen, damit die Verheißung durch den Glauben an Jesus Christus zu Gunsten derer erfüllt würde, die da glauben.
Bevor nun der Glaube kam (der christliche Glaube nämlich, als Grundsatz der Beziehungen zu Gott), bevor das Dasein der wirklichen Gegenstände des Glaubens in der Person, dem Werk und der Herrlichkeit Christi, als Mensch, das Mittel geworden war, den Glauben des Evangeliums aufzurichten, waren die Juden unter dem Gesetz verwahrt gewesen, eingeschlossen mit der Aussicht auf den Genuss jenes kommenden Vorrechts. So war das Gesetz den Juden wie der Vormund eines unmündigen Kindes, wie ein Zuchtmeister auf Christus hin, gewesen, damit sie auf dem Grundsatz des Glaubens gerechtfertigt würden. Inzwischen waren sie nicht ohne Zaum und Zügel; sie waren von den Nationen abgesondert, obgleich nicht weniger schuld als diese, abgesondert für eine Rechtfertigung, deren Notwendigkeit noch deutlicher hervorgetreten war durch das Gesetz, das sie nicht erfüllten, das aber Gerechtigkeit von dem Menschen forderte und somit zeigte, dass Gott diese Gerechtigkeit verlangte. Sobald aber der Glaube gekommen war, standen die, die bis dahin dem Gesetz unterworfen gewesen waren, nicht mehr unter der Vormundschaft dieses Gesetzes; dasselbe band sie nur so lange, bis der Glaube gekommen war. Denn dieser Glaube stellte den Menschen unmittelbar in die Gegenwart Gottes und machte den Gläubigen zu einem Sohn des Vaters der Herrlichkeit und ließ so keinen Raum mehr für die Leitung des Zuchtmeisters. Eine solche konnte nur Verwendung finden, so lange die Unmündigkeit dessen dauerte, der jetzt in Freiheit gesetzt und in unmittelbare Beziehung zu dem Vater gebracht war.
Der Gläubige ist also ein Sohn in unmittelbarer Verbindung mit seinem Vater, mit Gott, indem Gott selbst nunmehr offenbart ist. Er ist ein Sohn; denn alle, die getauft worden sind, um an den Vorrechten, die es in Christus gibt, teilzuhaben, haben Christus angezogen. Sie stehen nicht vor Gott als Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, Mann oder Frau, sondern gemäß ihrer Stellung in Christus. Sie sind alle einer in Ihm, weil Christus für alle der gemeinsame und einzige Maßstab ihrer Beziehung zu Gott ist. Aber dieser Christus war, wie wir gesehen haben, der eine Same Abrahams; und wenn die aus den Nationen in Christus waren, so traten sie folgerichtig auch in diese bevorzugte Stellung ein. Sie waren in Christus der Same Abrahams und Erben nach der Verheißung, die diesem Samen gegeben war.
Fußnoten
- 1 Wir müssen lesen: „Dem Abraham waren die Verheißungen zugesagt, und seinem Samen“; nicht: „dem Abraham und seinem Samen waren die Verheißungen zugesagt.“ Die auf die irdischen Segnungen Israels bezüglichen Verheißungen wurden dem Abraham und seinem Samen gegeben, mit der Hinzufügung, dass dieser Same sein würde wie die Sterne des Himmels an Menge. Aber hier spricht Paulus nicht von den Juden gegebenen Verheißungen, sondern von der Segnung, die den Nationen verliehen war. Die Segensverheißung für die Nationen wurde dem Abraham allein gegeben, sein Same wird dabei nicht erwähnt (1. Mo 12,3), und sie wurde, wie der Apostel hier sagt, seinem Samen bestätigt, hier wird Abraham nicht genannt (1. Mo 22,18) und zwar in der alleinigen Person des Isaak, dem Vorbild des Herrn Jesus, der zum Schlachtopfer dargebracht und aus den Toten auferweckt worden ist, wie es vorbildlich bei Isaak der Fall war. Also wurde die Verheißung nicht in Christus, sondern Christus dem wahren Samen Abrahams, bestätigt. Auf diese Tatsache, dass die Verheißungen Christi bestätigt oder zugesichert waren, stützt sich die ganze Beweisführung des Apostels. Die Wichtigkeit der vorbildlichen Tatsache, dass nach der bildlichen Opferung und Auferstehung Isaaks diesem die Verheißung bestätigt wurde, ist augenscheinlich. Ohne Zweifel sicherte das, was dieses Vorbild verwirklichte, auf diesem Weg die Verheißung dem David; aber zugleich wurde die Zwischenwand abgebrochen, die Segnung konnte den Nationen zufließen und, fügen wir hinzu, auch den Juden, kraft der durch Christus vollbrachten Versöhnung. Der Gläubige, der in Ihm Gottes Gerechtigkeit geworden ist, kann mit dem verheißenen Heiligen Geiste versiegelt werden. Wenn man einmal die Wichtigkeit von 1. Mose 12 und 22 bezüglich der den Nationen gegebenen Segensverheißungen verstanden hat, erkennt man auch sehr deutlich die Grundlage, auf der die Beweisführung des Apostels ruht.