Betrachtung über den Propheten Hosea (Synopsis)
Kapitel 2-3
Kapitel 2
Kaum hat Gott so (in aller, Kürze, aber doch mit völliger Deutlichkeit) das Gericht, welches das Volk treffen sollte, ausgesprochen, so kündigt Er auch schon mit gleicher Klarheit seine unumschränkte Gnade ihm gegenüber an. „Doch“, so spricht Er durch den Mund des Propheten, „die Zahl der Kinder Israel wird sein wie der Sand des Meeres, der nicht gezählt werden kann.“ Diese Gnade öffnet indessen auch noch für andere die Tür, nicht nur für die Juden allein. „An dem Ort, wo zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk, wird zu ihnen gesagt werden: Kinder des lebendigen Gottes [1].“ Dass diese Stelle auf die Nationen anzuwenden ist, erklärt der Apostel in Röm 9, 24 – 26, wo er den Schluss des zweiten Kapitels unseres Propheten als Ausdruck der Gnade den Juden gegenüber, dagegen den vorliegenden Vers als solchen Ausdruck den Heiden gegenüber anführt, während Petrus in 1. Pet 2, 10, indem er nur zu bekehrten Juden redet, nur den Schluss von Kapitel 2 anführt. Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den letzten Tagen auch die Juden diesem Grundsatz gemäß werden angenommen werden; indessen drückt Sich hier – wie auch in einer Menge anderer, von dem Apostel angeführter Stellen – der Heilige Geist in einer solchen Weise aus, dass die Worte auch auf die Zulassung der Nationen ihre Anwendung finden können, wenn einmal die von Gott dafür vorausgesehene Zeit gekommen sein wird. Hier geht Gott aber noch weiter und kündigt an, dass sowohl die Kinder Juda als auch die zehn Stämme – dann wieder vereinigt und einem Haupt unterworfen – an dem großen Tag der Saat Gottes [2] zurückkehren würden. Wir lesen hier, dass sie „aus dem Land heraufziehen“ werden. Man hat gemeint, dies weise auf die Rückkehr des Volkes aus einem fremden Land hin, aber wie mir scheint, soll mehr dadurch ausgedrückt werden, dass alle als ein Volk zu ihren Festfeiern hinaufziehen werden.
Es wird also hier das Gericht über ein verderbtes und treuloses Volk und sodann die Gnade, wie sie zunächst den Nationen und später auch Israel als Volk gegenüber in Ausübung kommen soll, klar und deutlich angekündigt; allerdings geschieht dies nur mit kurzen Worten, jedoch enthalten dieselben die ganze Reihenfolge dessen, was Gott zu tun gedachte.
Im zweiten Kapitel werden uns noch einige neue Punkte vorgeführt, die unsere eingehendste Betrachtung verdienen; zugleich finden wir eine herrliche Offenbarung der Gnadenwege Gottes mit Israel. In den Anfangsworten scheint mir der Hinweis auf das Bestehen eines Überrestes zu liegen, den das Herz Gottes als ein Volk und einen Gegenstand seiner Gnade betrachtet, während die Nation als Ganzes vom Herrn verworfen ist. Der Gedanke an Israels Wiederherstellung, die in dem letzten Vers von Kapitel 1 angekündigt wurde, lässt jedoch erkennen, welchen Wert und welchen Platz der Überrest nach den Ratschlüssen Gottes hat. „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das Er zuvor erkannt hat.“ Dennoch sagt der HERR durch den Heiligen Geist nicht zu dem Propheten: „Ich habe mir deine Mutter zum Weib genommen und will mich von ihr lossagen“, sondern: „Sprecht zu euren Brüdern: Ammi (Mein Volk), und zu euren Schwestern: Ruchama (Begnadigte)“; das heißt also zu denjenigen, die, durch den Geist Gottes bearbeitet, die Gesinnung des Propheten teilen, – die jenen Charakter besitzen, der den Herrn Jesus zu dem Ausspruch veranlasste: „Dies sind meine Brüder und meine Schwestern.“ Das ist also die Stellung, die das Volk Gottes und seine Geliebten in den Augen des Propheten einnehmen. In diesem Sinn wendet auch Petrus Hos 2, 23 auf den Überrest an; derselbe Gedanke findet sich in Paulus Darlegung in Römer 9, und so ist es auch zu verstehen, wenn der Herr selbst Sich den Namen „der wahre Weinstock“ beilegt.
Der Prophet sollte also (und er allein konnte es tun) seine Brüder und Schwestern als in Beziehung zu Gott stehend anerkennen, und zwar in dem vollen Maß, wie es der Verheißung gemäß der Fall sein würde, obwohl diese noch nicht erfüllt war. Gott hatte aber, was seine tatsächlichen Handlungen anbelangte, mit der Mutter, d. h. mit Israel als Ganzes betrachtet, zu rechten. Er konnte dieselbe nicht als ehelich mit sich verbunden betrachten und wollte daher nicht ihr Mann sein. Wollte sie nun dem Strafgericht entgehen und nicht vor der Welt nackt hingestellt werden, so musste sie Buße tun. Auch ihrer Kinder wollte der HERR sich nicht erbarmen, denn dieselben wurden geboren, während sie falschen Göttern nachging. Israel, die Mutter, schrieb alle Segnungen, die der HERR über sie ausgegossen hatte, der Gunst falscher Götter zu. Daher hatte Er sie auf ihrem Pfad durch seine Macht zur Umkehr gezwungen. Und da sie nicht erkannt hatte, dass es der HERR war, der ihr all jene Fülle zuströmen ließ, so wollte Er ihr dieselbe entziehen, sie ohne Bedeckung und ohne Hilfe lassen und an ihr all „die Tage der Baalim“ heimsuchen, während der sie jenen gedient und den HERRN vergessen hatte. Wenn Er jedoch dieses untreue Weib in die Wüste gebracht haben würde, wo sie es innewerden musste, dass jene falschen Götter ihr keine Reichtümer verschaffen konnten, dann wollte der HERR selbst, der sie dahin gelockt hatte, in Gnaden zu ihrem Herzen reden. Wenn sie eingesehen haben würde, wohin ihre Sünde sie gebracht hatte, und sie mit dem HERRN in der Wüste, wohin Er sie gelockt, allein wäre, so wollte Er sie trösten und durch seine Gnade in die volle Kraft der Segnungen, die Er allein austeilen konnte, einführen.
Der besondere Umstand, den Gott bei dieser Rückkehr zur Gnade erwähnt, ist von tief zu Herzen gehender Bedeutung. Das Tal Achor soll nämlich für Israel die Tür der Hoffnung werden. Dort, wo das untreue Volk nach seinem Einzug in das Land Kanaan zum erstenmal von dem Gericht Gottes getroffen wurde, wo Gott entsprechend der Verantwortlichkeit des Volkes gehandelt hatte, dort will Er zeigen, dass die Gnade überströmender ist als alle Sünde des Volkes. Israel wird wieder dieselbe Freude empfinden wie zur Zeit seiner erstmaligen Befreiung und Erlösung. Seine Geschichte soll unter der Gnade neu beginnen, nur wird dann die Segnung sicher und unumstößlich sein. Das Verhältnis Israels zu dem HERRN soll auf einer neuen Grundlage errichtet werden. Er will ihm nicht mehr wie ein Herr (Baal) sein, dem das Volk verantwortlich ist, sondern wie ein Ehemann, der sich Israel zum Weib genommen hat. Die Baalim werden alsdann gänzlich vergessen sein. Der HERR wird alle Arten von Feinden, ob wilde Tiere oder böse Menschen, aus dem Land hinwegtun und sich Israel verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, in Güte, in Barmherzigkeit und in Treue. Israel aber wird erkennen, dass es der HERR ist. Und ist es einmal in dieser Weise dem HERRN in Treue verlobt, und sein Verhältnis zu ihm ein derartig auf gesicherter Grundlage beruhendes geworden, dann sollen, durch nichts mehr gehindert, Ströme des Segens ununterbrochen sich von dem HERRN auf sein Volk auf Erden ergießen. Der HERR wird mit dem Himmel und dieser mit der Erde in Verbindung stehen, und letztere wird ihre Früchte in so reichem Maß hervorbringen, dass Israel, die Saat Gottes, alle seine Bedürfnisse voll und ganz befriedigt sehen wird. Gott will sich Israel in dem Land säen, und ihr Name soll Ruchama (d. h. Begnadigte), Ammi (d. h. Mein Volk) heißen, und Israel wird sagen: „Mein Gott.“ Mit einem Wort: der Segen wird dann in vollständiger Weise zurückgekehrt sein, und zwar auf dem Boden der Gnade und der Treue Gottes.
Kapitel 3
Es wird noch ein besonderer Umstand der Geschichte des Volkes während der Zeit seiner Verwerfung mitgeteilt, einer Verwerfung, auf der seine Rückkehr zu Gott folgen soll. Israel wird lange Zeit für sich bleiben, um auf seinen Gott zu warten; es wird weder den wahren noch einen falschen Gott, weder König noch Priester noch Schlachtopfer haben. Danach wird es aber umkehren und den HERRN, seinen Gott, und David, seinen König, suchen. Das will sagen: ganz Israel wird das wahre, ursprünglich von Gott verliehene Königtum, das sich in Christus erfüllt findet, suchen. Ihre Herzen werden sich vor dem HERRN und seiner Güte am Ende der Tage demütigen.