Kapitel 4

Jona unter dem Wunderbaum

„Berichtet es nicht zu Gat, verkündet die Botschaft nicht in den Straßen Askalons, dass sich nicht freuen die Töchter der Philister“. Wenn wir lesen, was uns im vierten Kapitel von Jona mitgeteilt wird, müssen wir unwillkürlich an dieses Wort aus 2. Samuel 1,20 denken.

Wie traurig offenbart sich hier wiederum der Prophet des Herrn! Nach der Mitteilung, dass Gott sich des Übels, wovon Er betreffs Ninive geredet hatte, gereuen ließ, wird uns berichtet: „Und es verdross Jona sehr“ (V. 1).

Was verdross Jona? Können wir unseren Ohren trauen? Er, der kurz zuvor als elender Sünder Gottes überwältigende Gnade geschmeckt hatte, offenbart sich nun als echter Pharisäer. Er schreibt dabei Gott noch die Schuld an seiner Flucht zu, ähnlich wie Adam Gott vorwarf, dass die Frau, die Er ihm gegeben, ihn zur Sünde verleitet habe. Statt anbetend niederzusinken und sich über Gottes reiche Gnade und sein unendliches Erbarmen zu freuen, betet Jona ein Gebet, in dem er diesen gnädigen Gott anklagt und sich selbst rechtfertigt. Wie deutlich erkennen wir doch hier die rechthaberische Natur des Menschen, die so völlig im Gegensatz zu Gottes unbeschreiblicher Barmherzigkeit steht. Dennoch lässt Gott sich in ein Zwiegespräch mit dem Ihn tadelnden Propheten ein. Geduldig, doch in ergreifender Weise, verteidigt Gott in Wort und Bild seine Liebe einer armen, sündigen Welt gegenüber, die Er mit seinen Retterarmen umschließen möchte, um sie für ewig sein Heil schmecken zu lassen.

Es ist Freude im Himmel vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. Aber hier sehen wir einen Knecht des Herrn, der unzufrieden und sogar zornig wird, weil Gott sich erbitten ließ, als eine ganze Stadt sich vor Ihm gebeugt und gedemütigt hat, ehe die Gnadenfrist von vierzig Tagen verstrichen war.

Das zeigt sich bei ihm so sehr, dass er seine böse Gesinnung nicht verbergen kann. Statt vor Freude über Gottes gnädiges Erbarmen zu jubeln, verdrießt es ihn unbeschreiblich, dass die Stadt Ninive von Gott verschont wird. Das selbstgerechte Israel, das sich hoch über alle Völker erhebt, spiegelt sich hier in Jona wider. Sicher hatte Israel herrliche Vorrechte. Aber waren ihm diese nicht allein durch Gnade zuteil geworden? Und kann von Israels Wiederherstellung gesprochen werden, es sei denn auf dem Boden der Gnade?

Hatte Jona noch nichts gelernt? Glaubte er denn, als er nach Ninive ging, Gott habe sich so sehr geändert, dass das Gericht in jedem Falle vollzogen werden müsste? Wie gut hatte er doch anfangs begriffen, dass Gott sich über die Stadt erbarmen würde, wenn nur ihre Einwohner voller Reue zu einem Bekenntnis ihrer Sünden kommen würden.

Aber Jona ist nicht der einzige, der im Lernen Mühe hat. Ging Lot nicht ein zweites Mal nach Sodom? Zeigte Hiskia nicht nach dem erlebten Wunder des Sonnenzeigers und nach der wunderbaren Heilung mit einem eitlen und stolzen Herzen den Gesandten Babels alle seine Schätze (Jes 38.39)? Und sind wir nicht selbst nach ernsten Zurechtweisungen später doch wieder in dieselbe Sünde verfallen? Lasst uns deshalb im Urteil vorsichtig sein. Lasst uns aber auch tief betrübt sein, dass unser Herz so verdorben ist, dass es immer wieder Dinge, die Gott so tief in unsere Herzen einprägen will, vergisst.

Jonas Prophezeiung ging nicht in Erfüllung. Werden jetzt die Unbeschnittenen lachen? Durch die Gnade wandte sich nun die Zuneigung Gottes den Heiden zu. Das konnte Jona nicht ertragen – er zürnte. Stand nicht seine Ehre als Prophet auf dem Spiel? Darum sagt er am Schluss seines seltsamen Gebets: „Und nun, HERR, nimm doch meine Seele von mir; denn es ist besser, dass ich sterbe, als dass ich lebe“ (V. 3).

Doch als Gott ihn dann fragt: „Ist es recht, dass du zürnst?“ (V. 4), gibt er keine Antwort, sondern flieht. Zwar flieht er diesmal nicht auf ein Schiff, aber er bekundet einen Geist, der für die Gnade keinen Raum lässt. Er geht zur Stadt hinaus, der Stadt, der er kein Erbarmen gönnt. Welch eine Herzenshärte!

Muss er nun wieder in den Bauch des Fisches? Oder muss er ins Meer geworfen werden, damit die Wogen ihn verschlingen ohne Rettung? Er hätte es sicherlich verdient.

Wie oft machen wir uns selbst den Weg so schwer! Warum blieb Lot nicht bei Abraham? Warum brachte David ein Schwert über sein Haus? Warum verurteilen wir uns nicht selbst, dass wir nicht von Gott gezüchtigt werden müssen.

Gottes Stimme hatte geredet. Es war die Stimme der Weisheit. Aber Jonas Ohr und Herz waren taub. Er lief von Gottes Angesicht hinweg, zur Stadt hinaus. Und nun erteilt ihm Gott in dem verdorrenden Wunderbaum eine neue Lehre. „Jona ... setzte sich östlich der Stadt nieder. Und er machte sich dort eine Hütte; und er saß darunter im Schatten, bis er sähe, was mit der Stadt geschehen würde“ (V. 5).

Er ist nicht nur lebensmüde und wünscht, wie Elia, in einer mutlosen Stunde zu sterben, nein, er schaut außerdem nach dem Gericht Gottes aus, das, nach seiner Meinung, die zu Gott umgekehrte Stadt treffen soll.

*

In diesem letzten Kapitel des prophetischen Buches wird uns am deutlichsten gezeigt, wie Gott in seiner unergründlichen Liebe und Güte handelt, aber auch was der Mensch in seiner maßlosen Eigenliebe und grenzenlosen Selbstgerechtigkeit ist. Gottes unendlicher Güte gegenüber zeigt sich erschreckend klar die Härte des Menschen.

Hier wird uns treffend geschildert, wie der Mensch nur an sich selbst denkt und sogar trotz seiner Frömmigkeit imstande ist, andere zur Seite zu setzen. Während Gott sich immer in Liebe erweist, klagt Ihn der Mensch der Ungerechtigkeit an. Fürwahr, Gott hat „kein Gefallen am Tod des Gottlosen, sondern dass der Gottlose von seinem Weg umkehre und lebe!“ (Hes 33,11). Gott „will, dass alle Menschen errettet werden“ (1. Tim 2,4). „so hat Gott die Welt geliebt, dass Er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“ (Joh 3,16).

Gibt es nicht auch jetzt noch Menschen, „Propheten“, die wie Jona zornig werden, wenn dieses Evangelium der freien Gnade Gottes verkündigt wird?

*

Unter Umständen kann es richtig sein, wenn unser Zorn erwacht. „Zürnt, und sündigt nicht“, sagt der Apostel zu uns (Eph 4,26). Es gibt Dinge, die unsere gerechte Entrüstung erwecken müssen. Der Herr Jesus blickte auf die verhärteten Juden mit Zorn (Mk 3,5). Doch darf bei uns über solchem Zorn die Sonne nicht untergehen. Wie leicht wird es sonst ein verkehrter Zorn. Spurgeon hat gesagt: „Unser heiliger Zorn geht so leicht mit uns durch“. Immerhin erkennen wir: Es gibt einen erlaubten, einen heiligen, gerechten Zorn.

Der Zorn jedoch, der sich bei Jona offenbarte, war nur ein tieftrauriges Zeichen seiner einseitigen Denkweise. Gott fragt Jona später zum zweiten Mal: „Ist es recht, dass du ... zürnst?“, und fügt hinzu: „wegen des Wunderbaumes“ (V. 9). Nun erkühnt sich Jona in seiner Verhärtung auszurufen: „Mit Recht zürne ich bis zum Tod!“ Sein Urteil galt dem schnellen Verdorren des Wunderbaumes. Er fand also seinen Zorn wegen dieses „Baumes einer Nacht“ gerechtfertigt.

Aber diese seine zweite Antwort, ist ebenso ungeziemend wie sein Schweigen und Zürnen auf die erste Frage. Zornige Menschen wissen nicht, was sie tun und sagen. Sie sind manchmal sogar wütend auf ihre Wohltäter. Kurz zuvor hatte Gott Jonas Gebet so wunderbar erhört und nun wendet sich dieser gegen seinen Retter. „Bei dem HERRN ist die Rettung“ (2,10), war das Ende seines Gebetes im Bauch des Fisches, und schon ist er zornig, dass dieses Wort auch für Ninive gilt.

Wie klein war Jona im Bauch des Fisches, seinem Gebetskämmerlein, geworden! Doch wie überhebt er sich wieder, da er sich frei bewegen kann!

Möchten wir doch mehr für alle Diener des Herrn beten, da es, wie wir aus der Geschichte Jonas gesehen haben, möglich ist, dass sie leicht Gottes Werk vergessen und sich in solch traurigem Geist und solch verkehrter Gesinnung offenbaren können. Dass doch alle Brüder und Schwestern in Christus mehr und ernstlicher beten würden für alle, die in besonderer Weise zu seinem Dienst berufen worden sind! Es würde sich alsdann weniger fleischliche Gesinnung und dafür mehr Kraft des Geistes und vermehrter Segen zeigen.

Ich las vor einiger Zeit von einem Knecht des Herrn, der in einem Saal in London das Evangelium mit solch wunderbarem Segen, wie er ihn noch nie erfahren hatte, verkündigte. Er begriff die Ursache nicht, aber er dankte Gott. Nach einiger Zeit bekam er einen Brief von einer gläubigen Kranken, die kurz vor ihrem Heimgang stand. Darin schrieb sie: „Vor meinem Tod muss ich Ihnen etwas bekennen, das nicht zu meiner Ehre ist. Ich haderte mit Gott, war zornig auf Ihn. Ich konnte es nicht ertragen, dass ich krank war und es immer schlimmer mit mir wurde. Ich wollte gesund sein, um etwas für Ihn arbeiten zu können. Ich sagte: ‚Warum lässt Du, o Gott, dies zu? Ich gehöre Dir doch an und möchte Dir gerne dienen.' Aber Gott sprach mit mir, stellte mir ernste Fragen, bis ich antworten musste:,O mein Gott, mache mich nun zu einem brauchbaren Werkzeug für Dich, auch wenn ich hier auf dem Krankenbett liege!' Und Gott lehrte mich, für Sie zu beten. Ich hörte, dass Sie zur Verkündigung des Evangeliums hierher kamen. Da habe ich gebetet, dass Er Ihre Predigt reichlich segnen, Ihnen die rechten Gedanken und Worte schenken möge, um die Herzen der Menschen zu erreichen. Und das wollte ich Ihnen nun mitteilen, weil mein Ende nahe ist und ein anderer meine Arbeit übernimmt“.

Ach, dass so etwas doch mehr vorkäme! Wenn doch mehr zu Gott gerufen würde, dass Er das Wort, die Prediger, die Schriften usw. segnen möchte. Nötig ist, zu bitten, dass Er die rechte Gesinnung in den Herzen der Prediger und Schreiber bewirken möchte, dass sie ihre Arbeit allein für Gott tun, getrieben durch die Liebe Christi.

Doch wenn das Gebet für die Diener des Herrn so wünschenswert ist, die ja ohnehin ein gewisses Maß geistlichen Lebens besitzen, wie viel mehr haben dann alle Kinder Gottes solche Fürbitte nötig! Wie wenig Eifer und Hingabe ist oft für das Werk des Herrn zu sehen! Wie schnell lässt man sich durch das Fleisch leiten! Von Johannes auf Patmos lesen wir, dass er sogleich im Geiste war (Off 4,2). Doch von uns müsste es manchmal heißen, dass wir „sogleich“ wieder in unserer alten Natur waren.

Ich erinnere mich, wie ein ernster älterer Bruder einmal bei einem Beisammensein erzählte, dass er oft in ganz verschiedenen Häusern geweilt und in manchen von diesen schöne, passende Bibeltexte an den Wänden gesehen habe; aber nirgends habe er je den Spruch gesehen: „Ist es recht, dass du zürnst?“ Dabei gab er zum Ausdruck, dass dies ein recht praktischer Spruch sei für viele Häuser. Man könne sich, wenn der Zorn aufwalle, davor stellen und käme dadurch schneller wieder zum nötigen inneren Gleichgewicht.

In Epheser 4, wo wir ermahnt werden, nicht zu sündigen, falls wir mit Recht über Böses zürnen, steht auch gleichzeitig geschrieben: „Alle Bitterkeit und Wut und Zorn und Geschrei und Lästerung sei von euch weggetan, samt aller Bosheit“ (Vers 31). Es ist ein Beweis dafür, dass es zweierlei Zorn gibt, einen gerechten und einen, der Gott missfällt. Ein solcher Zorn, wie er bei Jona aufstieg, muss uns ferne sein.

Wie oft lassen wir nichts auf uns und unsere Meinungen kommen! Wie feurig verteidigen wir uns bis zum letzten Augenblick, wenn uns vermeintlich Unrecht geschieht! Wenn dagegen das Evangelium oder die Person des Herrn angegriffen werden, können wir ruhig schweigen. Bei Paulus war es umgekehrt. Wenn er persönlich angegriffen wurde, schwieg er am liebsten. Wenn man dagegen seinen Meister, sei es auch in noch so geringem Maß, angriff, nahm er es mit Feuer und Eifer für Ihn auf.

Wie steht es in dieser Hinsicht mit uns? Ist unser Zorn, wenn wir zürnen, gerecht? O, wie tief muss uns eine solche Frage treffen, wenn uns etwa gerade ein verkehrter Zorn beherrscht. Vielleicht hast du aber schon bei dir selbst erfahren, dass dann, so seltsam es klingt, eine solch eindringliche Frage keinen Eingang bei dir findet. War es nicht so bei Jona? Im Zorn hört man nicht leicht auf die wohlgemeinte Frage; man handelt ungeziemend und antwortet ungeziemend. Und doch sind solche Fragen sehr nötig. Unser Zustand wird dadurch offenbar. Wir sind oft so widerspenstig.

„Wo bist du?“ Das ist die erste Frage, die wir von Seiten Gottes in der Bibel finden (1. Mo 3,9). „Wo ist dein Bruder Abel?“ Das ist die zweite Frage (1. Mo 4,9). Woher kommst du? Wohin gehst du? Was machst du hier? Solche Fragen mögen auch an uns gerichtet werden. Wohl uns, wenn wir uns nicht verteidigen, wenn Gott mit solchen Fragen zu uns kommen muss, sondern auf Ihn hören und unsere Schuld bekennen. Denn, wenn wir nicht hören, hat Gott noch andere Wege und Mittel, um uns das verübte Unrecht deutlich zu zeigen. Aber dann dauert es länger und ist viel schmerzlicher.

*

Hast du den Unterschied zwischen den zwei Gebeten Jonas (Kap. 2 und 4) beachtet? Beim ersten Gebet steht: „Jona betete zu dem HERRN, seinem Gott“ (2,2). Beim zweiten: „Er betete zu dem HERRN“ (4,2). Das zweite Mal redet er also nicht zu „seinem Gott“. Er haderte mit dem Herrn, dem Allerhöchsten. Jona wollte nicht, dass Ninive gerettet werde. Er konnte es nicht ansehen, dass der schlechten Stadt Gnade widerfuhr. Lieber wollte er sterben.

Fragst du da nicht mit mir: Ist das nun ein Prophet, ein Gläubiger? Ich will nicht anstehen, das zu bejahen, wenngleich es tief betrübend ist, dass ein solcher Herzenszustand bei einem „Menschen Gottes“ gefunden werden kann. Siehe, gerade dies ist so wunderbar in der Heiligen Schrift, dass die Sünde niemals unter einem schönen Deckmantel verborgen wird; nein, auch die schlimmen Eigenschaften werden in den göttlichen Biographien nicht übersehen. Gott schont niemand.

Jona verhärtete sich in seiner Selbstgerechtigkeit. Wenn so etwas über jemand kommt, wenn das Bewusstsein der Gnade weicht und nur noch Sinn für das Verurteilen vorhanden ist, dann ist wenig Hoffnung für eine Wiederherstellung. Dann muss Gott durch eine harte Schule eingreifen, um den Ungeistlichen zur Einsicht zu bringen. In einem solchen Zustand wird alles verkehrt angesehen und beurteilt. Selbst Gott wird missverstanden, wenn wir auch denken mögen, dass Er unseren Gedanken schließlich doch zustimmen müsste, weil wir meinen, Recht zu haben.

„Ich wusste, dass du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langsam zum Zorn und groß an Güte, und der sich des Übels gereuen lässt“ (V. 2). Das war der letzte Teil des zweiten Gebetes des Propheten. Enthielt es nicht köstliche Wahrheiten? Wären diese jedoch in seinem Herzen lebendig gewesen und hätten nicht Hochmut und Eigenliebe ihn hingerissen, so hätte er den ersten Teil dieses Gebetes nicht gesprochen. Dann wäre er nicht zornig geworden. Er hätte dann vielmehr gedankt und Gott gelobt, dass Er sich über die große Stadt erbarmt und ihn, den unwürdigen Diener, zu diesem Werk gebraucht hatte. beseelt

Wisst ihr, wie das alles kam? Jona ging nicht mit einem gnadenvollen Herzen nach Ninive, um göttliches Erbarmen anzubieten, sondern mit überheblichem Herzen, das Gericht zu verkündigen.Für ihn bedeutete es eine Genugtuung, im Namen Gottes die Strafe anzukündigen, die diese bösen Menschen reichlich verdient hatten.

Aber er selbst? Dachte er nicht mehr daran, wie er selbst gewesen war? Hatte er kein Mitleid mit den anderen, die bald umkommen sollten, so wie er beinahe umgekommen wäre?

Beim Ausüben der Zucht muss die Rechtlichkeit einer Sache stets dem göttlichen Grundsatz, dass alles zum Heil dienen soll, unterstellt sein. Und alle, die Zucht ausüben, sollten nie vergessen, was sie selbst sind, und sollten eine gnädige Gesinnung bekunden.

Es mag manchmal so eintreffen, dass Gott bei Menschen wirkt und eingreift, von denen wir nicht zu glauben wagten, dass sie hören würden. Und wenn dann eine Veränderung eintritt, sei es die Bekehrung eines Ungläubigen oder Umkehr und Wiederherstellung eines abgewichenen Gläubigen, dürfen wir nicht zurückhaltend sein, sondern sollen entgegenkommen und ihnen die Hand reichen. Dann werden wir auch sehen, was Gottes erbarmende Liebe gewirkt hat.

*

Hatte Jona nichts gelernt? Gewiss, er hatte insoweit etwas gelernt, dass er auf den zweiten Befehl des Herrn hin gehorsam nach Ninive ging und die Botschaft Gottes ausrichtete. Er hatte zwar einen anderen als den von Gott für ihn bestimmten Weg gehen wollen. Das hatte er verurteilt und vor Gott bekannt. Aber weiter war er nicht gekommen. Er hätte die Wurzel des Übels erkennen müssen und sich fragen sollen: „Wie kam es doch nur, dass ich in diesen traurigen Ungehorsam fallen konnte?“ Dann hätte er die traurige Gesinnung seines Herzens gesehen und alles vor dem Angesicht des Herrn rückhaltlos aufgedeckt.

Wir haben allen Grund, anzunehmen, dass Jona doch noch zu einer völligen Selbstverurteilung gekommen ist. Wir können es daraus schließen, dass Jona Gott in seinem Buch das letzte Wort lässt. Es ist, als ob er, überwältigt durch die Offenbarung der Gedanken Gottes und seiner großen Liebe zu uns strauchelnden Geschöpfen, beschämt den Rückzug angetreten habe. Wir könnten an den Schluss des Buches setzen: „Die Worte Jonas sind zu Ende“.

O, wie wird er vor Gott klein geworden sein und seine üble Gesinnung verurteilt haben. Allerdings ging das nicht so schnell. Erst über den weiten Weg, wie wir ihn oben betrachtet haben, musste er sein böses Herz kennen lernen.

Ihr wisst, dass im 5. Buch Mose gesagt wird, dass der Herr sein Volk hungern und dürsten ließ, um die Gesinnung ihrer Herzen offenbar zu machen (5. Mo 8,2–3). Gott tut nichts Verkehrtes, bewirkt auch nichts Verkehrtes, im Gegenteil, Er lässt allerlei Schwierigkeiten über uns kommen, damit wir erkennen, was nicht gut ist bei uns. Wir dachten vielleicht, sanftmütig zu sein, doch als wir auf die Probe gestellt wurden, kam die entgegengesetzte Gesinnung zum Vorschein. Wir dachten wohl, fromm zu sein, doch durch die Prüfungen mussten wir erkennen, dass wir uns selbst mehr liebten als Gott.

Die Wurzel muss gefunden werden. Nicht nur der Zorn, nein, auch die Ursache des Zorns muss bloßgelegt werden; nicht nur die Selbstgerechtigkeit, sondern auch der Grund unseres Eigendünkels muss aufgedeckt werden. Jona hatte dies, soweit wir von ihm lesen können, nicht beachtet. Er war nicht weitergekommen als bis zum Verurteilen seines Ungehorsams. Nun lässt Gott ihn sehen, wie dieser Ungehorsam entstanden war, und lässt Jona selbst das Messer an die kranke Stelle setzen.

Ja, Jona, du wirst es sehen und später mit Freude erkennen, dass Gott ein gnädiger und barmherziger Gott ist, ein Gott, der sich des Übels gereuen lässt.

*

Jona setzte sich, östlich der Stadt, auf einen Berg. Dort hatte er eine gute Aussicht. Doch auch die schönste Aussicht kann man nicht genießen, wenn das Herz nicht glücklich ist. Jona machte sich dort eine Laube, um etwas Schatten zu haben. Sie scheint jedoch nicht genügend Schutz vor den sengenden Sonnenstrahlen gegeben zu haben. Gott wusste es und schickte etwas Besseres. In wenigen Stunden schoss ein Wunderbaum auf, der auf Jonas Haupt seinen erquickenden Schatten warf.

Im Hebräischen steht für Wunderbaum „Kikajon“, zu Deutsch wohl eine Rizinusstaude, eine in Palästina häufig vorkommende Pflanze. Das Wunder bestand darin, dass der Schöpfer, dessen Schöpfung selbst ein solch großes Wunder ist, seine Schöpfungskraft von neuem zeigte und diese Pflanze mit einem Dach von Blättern hier emporschießen ließ. Der Wunderbaum sollte seinem Knecht dienen und ihn von seinem Missmut befreien.

Haben wir wohl bemerkt, dass Gott nicht daran denkt, Jona zu bestrafen? Wir denken, wie Hiobs Freunde, immer zuerst an Züchtigung. Darum sind wir oft so leidige Tröster. Wir lesen hier, dass Gott Jona von seinem Missmut befreien wollte.

Jona freute sich denn auch sehr über den Wunderbaum. Nicht weil Gott so gnädig war, sondern weil er es so gut hatte. Auch wir stehen in Gefahr, nur an unsere Bequemlichkeit und an unseren eigenen Segen zu denken, anstatt vielmehr auf das Wohlsein anderer und auf das, was Gottes Herz erfreut, bedacht zu sein.

Jona freute sich sehr. Doch war seine Freude nur von kurzer Dauer. Denn derselbe Gott, der ihn erquickte, wusste auch, dass es gut und nötig war, ihm diese Erquickung wieder zu nehmen, um ihm dadurch innerlich zurechtzuhelfen. Er, der schon so oft wunderbar in Jonas Leben eingegriffen hatte, bestellte am folgenden Tag einen Wurm, der den Wunderbaum stach, so dass er verdorrte. Und als Gott zudem noch einen sengenden Ostwind schickte und die Sonne Jona aufs Haupt stach, sank er ermattet nieder.

Anbetend sehen wir hier aufs Neue Gottes Wundermacht und stehen bewundernd still vor seinem Tun.

Doch Jona erzürnte von neuem. War Gott ihm denn immer entgegen? Gönnte er ihm nicht einmal ein wenig Schatten, während Er Ninive, das friedlich zu den Füßen der Berge lag, vom Verderben verschonte?

Wieder möchte er sterben. Doch beachten wir wohl, Jona nimmt sich nicht das Leben, so wenig wie beim ersten Mal. Er ist ein Gläubiger. Und doch möchte er, dass sein Leben ein Ende nehme, nicht um in die Herrlichkeit einzugehen, sondern weil ihn die Tatsache, dass ihm alles entgegen ist, verzweifeln lässt.

Jetzt aber tritt der Herr zu ihm und gibt ihm in seiner wunderbaren Güte und voller Sanftmut die tiefste und lieblichste Zurechtweisung und Unterweisung. Jona hatte sein Kämmerlein vergessen. Gott hatte es ihm im Bauch des Fisches bereitet, und nun war er wieder mit Ihm allein neben dem verdorrten Wunderbaum.

Nathanael fand sein Kämmerlein unter dem Feigenbaum. Dort bat er für sein Volk; er hatte ein „geöffnetes Fenster“ nach Jerusalem. Bald würde es sich zeigen, dass der Meister ihn dort gesehen hatte und ihn zu sich rief, um sich ihm in herrlicher Weise zu offenbaren.

Doch unter dem Wunderbaum wie unter dem Ginsterstrauch sitzt eine unzufriedene, mutlose Seele. Jona und Elia müssen beide von Gott belehrt werden.

Gott hatte Jona gefragt, ob er mit Recht wegen des Wunderbaumes zornig sei. Nun tritt Gott näher und sagt zum murrenden Propheten: „Du erbarmst dich über den Wunderbaum, um den du dich nicht gemüht und den du nicht großgezogen hast, der als Sohn einer Nacht entstand und als Sohn einer Nacht zugrunde ging; und ich sollte mich über Ninive, die große Stadt, nicht erbarmen, in der mehr als 120000 Menschen sind, die nicht zu unterscheiden wissen zwischen ihrer Rechten und ihrer Linken, und einer Menge Vieh?“ (V. 10.11).

Auf diese Worte hat der Prophet keine Antwort. War nicht die Freude des Propheten über den Wunderbaum ein schwaches Bild der Freude des Herrn über die Werke seiner Hände, mögen sie sich nun in Ninive, Jerusalem oder sonst wo befinden. Jona wird durch seinen eigenen Mund verurteilt, da er doch selbst den Schatten des Wunderbaumes genossen hatte.

Ein köstliches, ein bedeutungsvolles Wort des Herrn ist es, mit dem das Buch Jona schließt. Oft muss ein „Wunderbaum“ verdorren, um jemand seine Selbstzufriedenheit zu nehmen. Oft muss jemand dazu gebracht werden, aufzuhören sich seiner Vorrechte zu rühmen, die doch nicht sein Verdienst, sondern Beweise der Gnade Gottes sind.

Jona hatte im Bauch des Fisches Gottes Gnade erfahren. Nun offenbarte Gott sich ihm in anderer Weise. Im Innern des Fisches hatte er die Rettung des Herrn geschaut, die er selbst so nötig hatte. Er sah eine Rettung, die sich ausstreckte von der höchsten Höhe des Himmels bis in die tiefsten Abgründe der See und dem Gefangenen, der sich unter Gottes gerechtem Urteil befand, seine Freiheit wiedergibt. Der verdorrte Wunderbaum lehrte ihn, ähnlich wie die Gleichnisse in Lukas 15, dass der Schöpfer der ganzen Erde, dem das Vieh auf 1000 Bergen gehört, sowohl in Assyrien wie in Judäa, seine Freude daran hat, zu retten, was sonst dem Verderben anheimfallen müsste. Wie gern erbarmt Er sich, wenn Er sieht, dass Buße und Umkehr vorhanden sind. Überall ist Ihm der angenehm, der Ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt.

Er, der mehr ist als Jona, hat, als Er einst auf der Erde wandelte, dies in vollkommener Weise verkündigt und gezeigt. Fürwahr, Er ist der Heiland der Welt.

Es ist das ewige Erbarmen,
das alles Denken übersteigt,
des, der mit off'nen Liebesarmen
sich nieder zu den Sündern neigt;
der uns vom Fluche hat befreit,
uns führt zu Jesu Herrlichkeit.

Wir sollten nicht verloren werden,
vielmehr von Zorn errettet sein,
deswegen kam der Sohn auf Erden
und nahm hernach den Himmel ein;
so kommt uns nun vom Gnadenthron
der Gnade Fülle durch den Sohn.

O Gnade, welche alle Sünden
durch Christi Blut jetzt tilgen kann
und lässt nun allerorts verkünden
Vergebung, Frieden, jedermann.
Das ew'ge Heil ist jetzt bereit;
O wunderbare Gnadenzeit!

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