Gesetz und Gnade
Mitschriften von Vorträgen über den Galaterbrief
Galater 6
„Einer trage des anderen Lasten, und so erfüllt das Gesetz des Christus. Denn wenn jemand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst. Jeder aber prüfe sein eigenes Werk, und dann wird er an sich selbst allein und nicht an dem anderen Ruhm haben; denn jeder wird seine eigene Last tragen“ (Gal 6,2–5).
Christus selbst ist es, der die „Beladenen“ einlädt, zu Ihm zu kommen, um ihnen Ruhe zu geben. Und Er möchte, dass wir in dieser Hinsicht von Ihm lernen, indem wir die Lasten der anderen tragen. Der Herr der Herrlichkeit selbst, der keine eigene Last zu tragen hatte, hatte Gefallen daran, sich sogar unter unsere schwere Sündenlast zu beugen: „... der selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen hat, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch dessen Striemen ihr heil geworden seid“ (1. Pet 2,24).
Wie sollen wir dieses staunenswerte Beispiel der Liebe anders beantworten als mit seinem eigenen neuen Gebot, „dass ihr einander liebt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt“ (Joh 13,34)? Wir sollten vor Gott treten und die Sünden unserer Brüder im Bekenntnis zu unseren eigenen machen, so wie Daniel es tat, der sich mit der Sünde Israels einmachte, obwohl er persönlich nicht daran teilhatte. „Wir haben gesündigt und verkehrt und gottlos gehandelt“ (Dan 9,5). Auf diese Weise erhalten wir eine Vorstellung der wiederherstellenden Gnade des Herrn Jesus Christus. Gerade der Fall eines anderen, der uns natürlichweise dahinbringt, Gott zu danken, dass wir nicht so sind wie der andere, sollte uns vielmehr dahin führen, zu sehen, dass wir nur durch Glauben stehen, und dass wir fallen werden, sobald wir uns erheben. In dem Moment, in dem wir etwas von uns selbst halten, betrügen wir uns nur selbst. Wir vergessen, dass allein die Gnade uns anders dastehen lässt, und vertrauen wie Jerusalem auf unsere eigene Schönheit, anstatt die vollkommene Schönheit zu sehen, mit der Gott uns bekleidet hat (Hes 16,14.15). Wenn dies der Fall ist, geht uns das Verständnis der wahren Würde unseres Standes verloren, denn unsere Nichtigkeit und die Allgenügsamkeit Christi sind notwendigerweise miteinander verbunden. Wir können nicht das eine ohne das andere festhalten.
Es ist üblich und leicht, sich in Bezug auf andere zu rühmen, indem man sich mit anderen vergleicht. Doch das bedeutet, einen niedrigen Maßstab anzusetzen. Wir müssen das vollkommene Vorbild von Christus selbst anschauen, und das wird immer dazu führen, uns auf seine unfehlbare Gnade und sein vollbrachtes Werk zu werfen (siehe 1. Pet 2,21–25). Wir sind dazu aufgerufen, unser eigenes Werk zu prüfen, nicht das unseres Bruders, um Gott eine Beschreibung unserer selbst und nicht anderer zu geben. „Jeder wird seine eigene Last tragen“, daher „prüfe [jeder] sein eigenes Werk“.
„Wer in dem Wort unterwiesen wird, teile aber von allem Guten dem mit, der ihn unterweist“ (Gal 6,6).
Von alters her wurde gesagt: „Kaufe Wahrheit und verkaufe sie nicht“ (Spr 23,23). Doch auch schon immer haben nur wenige der Wahrheit viel Wert zugemessen. Der Herr selbst, „die Wahrheit“, wurde dreißig Silberstücke wertgeachtet. Ein stattlicher Preis – der Preis eines Sklaven. Daher müssen wir uns nicht wundern, wenn wir feststellen, dass dem unermesslichsten Schatz, dem „Wort der Erlösung“, nur ein geringer Preis zugemessen wird. Die Menschen der Welt zahlen hoch für ihre Vergnügungen und Belustigungen, und die Menschen werden auch für äußerliche Religion zahlen. Doch der „Wahrheit“, die von Gott kommt, um dem Menschen seinen wahren Zustand vor Gott und den Weg der Versöhnung mit Gott zu offenbaren, misst der Menschen keinen Wert zu. Der Apostel jedoch sah, dass selbst wahre Christen den Wert des Dienstes am Wort alles andere als angemessen beurteilten. Er ermahnt die Galater, zu zeigen, dass sie den Wert des Evangeliums schätzten und genauso viel Freude daran hatten wie die Menschen der Welt ihre Vergnügungen schätzen und genießen.
„Irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten! Denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleisch Verderben ernten; wer aber für den Geist sät, wird von dem Geist ewiges Leben ernten“ (Gal 6,7–8).
Dies ist ein sehr ernstes Wort an Christen. Es ist mit dem unmittelbar vorausgehenden Satz verbunden: „Gott lässt sich nicht spotten“. Er sieht unsere Ziele, unsere Interessen, unsere Vorlieben. Was findet Er? Ist es unser Ziel, nur so viel von Christus zu kennen, wie wir zu unserer Errettung für nötig halten, und dann in gesittete Weltlichkeit zu versinken, sodass der Weltmensch feststellt, dass wir genauso eifrig in dem Streben dieser Welt sind wie er selbst? Irren wir uns nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Und die Weisheit Gottes hat die Regel festgesetzt, dass da, wo unser Schatz ist, auch unser Herz sein wird. Das Fleisch in einem Christen, obgleich es sein Vorrecht sein mag, seine Verurteilung am Kreuz zu erkennen, wird seine Ansprüche hervorbringen und nach Befriedigung verlangen. Besonders zum Christen wird gesagt: „Wer für sein eigenes Fleisch sät.“ Es ist leicht zu sehen, dass die, die im Fleisch sind, nur für das Fleisch säen können. Doch im Christen gibt es ein anderes Prinzip: „den Geist“. Der Gegensatz ist nicht bedeutungslos: „sein eigenes Fleisch“ und „den Geist“.
Es gibt einen Weg, der scharfen Klinge des Worts Gottes – dem Schwert des Geistes – aus dem Weg zu gehen, indem man es gegen die Unbekehrten richtet, anstatt zuzulassen, dass es unsere eigenen Gewissen prüft. Daher, schreibt der Apostel, „irrt euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten“. Wenn der Christ für sein eigenes Fleisch sät, wird er ernten, was er sät, nämlich Verderben. Es erfordert keinen großen Erfahrungsschatz, um dem Christen zu zeigen, dass jedes Ergebnis des Säens für das Fleisch in Enttäuschung geendet hat, wenn nicht sogar in Abstumpfung der Seele oder direktem Verderben. Doch es gibt eine bestimmte Form des Fleisches, für die der Christ sich zu säen verpflichtet fühlt, nämlich das religiöse Fleisch, in welcher Form auch immer. In uns findet sich die gleiche Neigung wie bei den Galatern, sich abzuwenden von der wahren Lehre des Kreuzes hin zu Geboten, oder der Einbildung gefallen zu suchen, oder den Intellekt aufzublähen. Wo diese Art des Säens stattfindet, was für eine Ernte des Verderbens fahren Christen ein. Und was für eine Gnade ist es, so klug die Erziehung auch sein mag, dass die Werke der Galater nun allesamt verbrannt werden und sie, allem entlarvt, zum Kreuze Christi geführt werden, um durch dieses und nichts anderes gerettet zu werden.
Es gibt hier noch einen anderen Gegensatz in den jeweiligen Ernten, die eingebracht werden: „Verderben“ und „ewiges Leben“. Es gibt einen Ewigkeitswert in allem, was für den Geist gesät wird. Wenn der Herr von der Frucht spricht, die aus dem Bleiben in Ihm resultiert, dann ist dies eine bleibende Frucht. Wo das Evangelium angenommen wird, ist es in seinen Auswirkungen ewigwährend. Es wird im Himmel kein Vergessen dessen geben, wie wir dort hingekommen sind. Der Weg dorthin wird immer in Erinnerung gehalten werden, in dem nie verstummenden Lied: „Du bist würdig ... denn du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft, durch dein Blut“ (Off 5,9). Nichts, was in Bezug auf Christus, seine Interessen und sein Volk getan wurde, wird vergessen werden, sei es klein oder groß. Der Becher mit kaltem Wasser, der im Namen Christi gegeben wurde, wird einen Ewigkeitswert in sich tragen. Es ist gut für uns, diese unsere Zeit des Säens wahrzunehmen; denn unsere Ernte wird sein wie unsere Saat, ob nun für unser Fleisch oder für den Geist.
„Lasst uns aber nicht müde werden, Gutes zu tun, denn zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten. Also nun, wie wir Gelegenheit haben, lasst uns das Gute wirken gegenüber allen, am meisten aber gegenüber den Hausgenossen des Glaubens“ (Gal 6,9–10).
Als die Galater das Evangelium zum ersten Mal gehört hatten (4,15), lag solch ein Segen darauf, dass keine Selbstaufgabe zu groß erschien, wodurch sie ihre Wertschätzung ihm gegenüber bezeugten. Doch als sie denen zuhörten, die das Evangelium verkehrten, und ihre Wahrnehmung seiner reichen Gnade verblasste, setzte Ermüdung ein. Sie wurden besorgt um Gebote und ihre eigene Errettung, und ermatteten so im Tun guter Werke. Sie hatten es nötig, die großartigen Lehren der Gnade aufs Neue vorgestellt zu bekommen, um ihren früheren Eifer wieder aufleben zu lassen. Die Schrift genauso wie die Erfahrung zeigen die Neigung des Gläubigen, seine „erste Liebe [zu] verlassen“ (Off 2,4). Wenn das Licht des Evangeliums erstmals seine Seele erleuchtet, dann ist dies so gesegnet, dass kaum etwas ihm als ein Opfer erscheint. Er kennt wenig von den tödlichen Einflüssen überall um ihn herum, oder von der Bosheit seines eigenen Herzens; und Ermüdung im Gutestun stellt sich ein. Unser Apostel zeigt uns an anderer Stelle die Notwendigkeit der wiederholten Anwendung der Lehren der Gnade auf Herz und Gewissen, um „gute Werke zu betreiben“ (Tit 3,4–8). Wir mögen in unseren Erwartungen für die Gegenwart enttäuscht werden, doch „zur bestimmten Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht ermatten“.
Selbst das Werk des Herrn selbst schien „umsonst“ zu sein (Jes 49,4) – doch es schein nur so. Er war nicht entmutigt, und jetzt, wo die „bestimmte Zeit“ gekommen ist – was für eine überreiche Ernte wird eingesammelt aus dem einen Weizenkorn, das in die Erde gefallen und gestorben ist (Joh 12,24). Der Dienst des Apostels Paulus schien in Misserfolg zu enden (2. Tim 1,15), doch wir sind heute Zeugen, dass seine Arbeit im Herrn nicht vergeblich war, denn wir erhalten Kraft, Trost und Erquickung aus seinen Schriften. „Lasst uns aber nicht müde werden, Gutes zu tun.“ Dies ist unsere Zeit der „Gelegenheit“. Im Himmel werden wir keine Kranken zu besuchen, keine Witwen und Waisen zu trösten und keine Gefallenen zurückzugewinnen haben. Unsere Herzen sollten sich allem menschlichen Leid zuwenden, denn unser himmlischer Vater „ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,35). Dennoch haben besonders die „Hausgenossen des Glaubens“ einen Anspruch auf unser innigstes Mitgefühl. Und wir wissen, dass die Hausgenossen des Glaubens zum großen Teil geprüft und versucht sind und viele Leiden zu tragen haben. Ach! Wenn wir zurückblicken, wie viele verlorene Gelegenheiten stehen dann vor uns!
„Seht, welch einen langen Brief ich euch geschrieben habe mit eigener Hand! So viele im Fleisch gut angesehen sein wollen, die nötigen euch, beschnitten zu werden, nur damit sie nicht um des Kreuzes des Christus willen verfolgt werden. Denn auch sie selbst, die beschnitten sind, befolgen das Gesetz nicht, sondern sie wollen, dass ihr beschnitten werdet, damit sie sich eures Fleisches rühmen“ (Gal 6,11–13).
Der Galaterbrief scheint der einzige zu sein, den der Apostel eigenhändig schrieb. Tertius schrieb den Römerbrief, und der Apostel schloss ihn mit seinem Segenswunsch und seiner Unterschrift. Der Geist des Apostels war erregt, denn die Wahrheit des Evangeliums stand auf dem Spiel, daher die Dringlichkeit des Falls. Er schrieb ihnen mit eigener Hand. In den Tagen des Apostels ging es um die Beschneidung, weil es das Zeichen der Wahrung dessen war, was etabliert und äußerlich war. Es diente zur Anerkennung des Fleisches, und nciht gefällt dem Fleisch mehr als sich mit all den Vorrechten der Versammlung Gottes zu bekleiden und gleichzeitig jedoch das Ärgernis des Kreuzes zu vermeiden. Wie leicht wurde dem durch ein System von Ordnungen der Weg geöffnet. Den Menschen wurde gesagt, dass sie nicht durch Glaube an das vollbrachte Werk Christi am Kreuz Christen wurden, sodass sie mit einem gereinigten Gewissen zum Dienst für den lebendigen Gott gebracht worden wären, sondern durch die Unterwerfung unter ein Gesetz. Und als dieser Boden einmal betreten war, wurde ein Gebot nach dem anderen verordnet, sodass Friede mit Gott unmöglich gemacht wurde. Frieden kann nur auf eine einzige Weise erreicht werden, auf die göttliche Weise. „Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“ (Röm 5,1). Das Festhalten dieser Wahrheit hat zu allen Zeiten Widerstand, wenn nicht gar Verfolgung hervorgerufen von dem, was gefestigt und geboten ist, und wo der Mensch und seine Werke anstelle von Christus und seinem Werk gerühmt werden.
Es ging hier nicht um wahre praktische Gottesfurcht. Diejenigen, die auf die Beschneidung bestanden, hielten das Gesetz selbst nicht, doch sie erlegten es anderen auf, damit andere eine Autorität anerkannten, die nicht von Gott ist. Wenn die Seele einmal Christus, und Ihn als Gekreuzigten, nach dem Zeugnis Gottes erfasst hat, dann wagt sie es nicht, zuzulassen, dass irgendeine andere Autorität zwischen sie und Gott kommt. Es gibt viele Bemühungen, die Lehre des Kreuzes zu verdrängen oder zu überdecken. In unseren Tagen wird eine starke Bemühung in soziale Verbesserung dazu genutzt, die Herrlichkeit des Evangeliums als die einzige Kraft zu verbergen, die den Menschen in eine gute und glückliche Beziehung zu Gott bringen kann.
„Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt. Denn weder Beschneidung noch Unbeschnittensein ist etwas, sondern eine neue Schöpfung. Und so viele nach dieser Richtschnur wandeln werden – Friede über sie und Barmherzigkeit, und über den Israel Gottes!
Fortan mache mir keiner Mühe, denn ich trage die Malzeichen des Herrn Jesus an meinem Leib.
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist, Brüder! Amen“ (Gal 6,14–18).
Andere mögen sich in fleischlichen Unterscheidungen zu rühmen suchen, doch der Apostel wollte sich nur in dem Kreuze Christi rühmen, dem großen Gleichmacher aller fleischlichen Unterscheidungen. Was war es, das den Apostel von seiner geglaubten Überlegenheit über seine Altersgenossen herunterholte (1,14)? Die Lehre des Kreuzes. Was hatte ihn gelehrt, den Platz des größten Sünders einzunehmen und zu erkennen, dass er es als eine religiöse Pflicht angesehen hatte, „gegen den Namen Jesu, des Nazaräers, viel Widriges tun zu müssen“ (Apg 26,9)? Es war das sehen der Herrlichkeit, die Gott dem gegeben hatte, den Menschen, religiöse Menschen, verworfen und gekreuzigt hatten. Was hatte den Apostel den Grundsatz gelehrt, auf dem er vor anderen so beharrte: Wo die Sünde überströmend geworden ist, die Gnade überreichlicher geworden? Das Kreuz Christi. Was hatte den Apostel von dem aufreibenden Joch der Gebote befreit? Das Kreuz Christi (siehe Kol 2,14.15). Doch das Kreuz Christi hatte noch mehr für ihn getan. Es hatte ihm die Welt in ihrem wahren Charakter gezeigt, die die Gegenwart Gottes in sich nicht ertragen konnte. Es hatte bewiesen, dass die weltliche Kultur und Religion Gott gleichermaßen entgegengesetzt waren – denn alle führenden Autoritäten in der Welt, ob politische Mächte oder religiöse Führer, oder die führenden Denker der Zeit, haben sich in der Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit miteinander verschworen (1. Kor 2,8).
Durch das Kreuz war die Welt dem Apostel gekreuzigt. Er konnte sie nicht mit Wohlbehagen ansehen, denn er sah ihre wahre Feindschaft gegen das Gute selbst in der Person des Sohnes Gottes. Sehen wir die Welt durch dieselbe Brille, nämlich das Kreuz Christi? „Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit“ (Heb 13,8). Prüfe die führenden Autoritäten dieser Zeit mit diesem unveränderlichen Test, und es ist immer noch dieselbe Welt – die Welt, die den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt hat. Doch der Apostel kannte das Kreuz nicht getrennt von der Auferstehung des Herrn Jesus Christus; und daher konnte er in Verbindung mit Ihm als dem Auferstandenen auf die Welt als das niederblicken, von dem er befreit worden war. Wir müssen die Kraft der Auferstehung Christi kennen, um ein richtiges Urteil über die Welt zu fällen (1. Joh 5,19). Und was war der Apostel in den Augen der Welt? „Eine Pest“ (Apg 24,5), ein „Schwätzer“ (Apg 17,18), gegen den die weisen Männer der damaligen Zeit ihren Spott erhoben (Apg 17,32). Er war in der Tat gekreuzigt – jemand, auf den die Welt leicht verzichten konnte und sogar froh darüber gewesen wäre, ihn los zu sein. Paulus hatte die Welt und ihre Bestrebungen und Interessen hinter sich gelassen und war ihr gekreuzigt.
Die wahre Kraft der Lehre des Kreuzes ist es, die Welt in ihrem wahren Licht als verurteilte Welt zu offenbaren, aus der der Gläubige nach der wunderbaren Gnade Gottes errettet worden ist (1,4). Daher muss er, wenn er dieser Lehre treu bleiben will, der Welt gekreuzigt sein – nicht nur wie jemand, der ihre Interessen und Ziele nicht mehr mitverfolgt, sondern als jemand, der ihren Interessen und Zielen im Weg steht. Es könnte jemand einwenden: „So sind die Christen nicht; die Welt nimmt doch sowohl ihre Hilfe an und hilft ihnen auch im Gegenzug.“ Und warum? Weil Christen dem Kreuz Christi nicht treu sind. Die blicken die Welt nicht durch das Mittel des Kreuzes an. Sie sehen sie, und alles was in ihr ist, als „nicht von dem Vater“ (1. Joh 2,16) und folglich Jesus genauso entgegenstehend an wie Judas, der Ihn mit einem Kuss verriet. Lasst uns ehrlich sein und uns selbst prüfen. Ist uns die Welt gekreuzigt, weil wir uns im Kreuz Christi rühmen, und durch das Kreuz in eine Herrlichkeit blicken, die alle Herrlichkeit dieser Welt in den Schatten stellt?
Eine neue Schöpfung tut sich uns auf, wenn wir unseren Platz durch das Kreuz einnehmen und darin das Gericht Gottes über die alte Schöpfung sehen. Er, der am Kreuz hing, sagte: „Es ist vollbracht“ (Joh 19,30). Und dieselbe gesegnete Person ruft vom Thron aus: „Siehe, ich mache alles neu“ (Off 21,5). „Diese Worte sind gewiss und wahrhaftig“ (Off 22,6). „Es ist geschehen“ (Off 21,6). Die alte Schöpfung ist vergangen und eine neue eingeführt, in der „der Tod wird nicht mehr sein [wird], noch Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen“ (Off 21,4). Dies ist die neue Schöpfung, die uns erwartet; und wir sollen schon jetzt nach ihren Regeln leben. Nur diejenigen, die das Ende der alten Schöpfung im Kreuz und Jesus als das Haupt der neuen Schöpfung in der Auferstehung sehen, können den Platz als das Israel Gottes einnehmen. Sie haben Kraft mit Gott und Menschen, weil das Fleisch vergangen und beiseitegesetzt sein wird. Und sie haben Leben im Geist, das ihre Bedürfnisse stillt aus der Fülle, die in Christus Jesus ist. Sie wandeln „im Geist“ (5,16). Friede und Barmherzigkeit sei mit ihnen.
Die falschen Lehrer bestanden sehr auf das äußere Zeichen der Beschneidung; doch der Apostel sagt, dass er die Zeichen Christi an seinem Leib trug. Geißelungen, Verhaftungen, Kälte und Blöße – Leiden durch die Verkündigung des Evangeliums der Gnade Gottes gegenüber Sünden – hatten ihre Spuren am Leib des Apostels hinterlassen. Mit diesen Zeichen des Leidens für Christus und für das Evangelium war es geradezu eine Dreistigkeit, ihn mit Fragen bezüglich der Beschneidung oder anderen ebenso in sich bedeutungslosen Dingen zu bemühen.
Der Apostel kannte ein Gegenmittel für ihren Fall, eine Antwort auf alle ihre Fragen, und dies drückt er in seinem ernsten Gebet für sie aus: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist, Brüder! Amen.“