Gesetz und Gnade
Mitschriften von Vorträgen über den Galaterbrief

Galater 4

„Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knecht, obwohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist. So auch wir: Als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt; als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen“ (Gal 4,1-5).

Nachdem Paulus diejenigen erwähnt hat, die „nach Verheißung Erben“ sind, stellt er diesen Zustand dem solcher gegenüber, die Erben unter Gesetz sind. Der Erbe unter Gesetz ist wie ein Kind unter Vormündern, bis es entweder nach im Land geltendem Gesetz oder entsprechend dem willkürlichen Dafürhalten seines Vaters ein Alter erreicht hat, in dem es mündig ist, selbst zu handeln. Während dieser ganzen Zeit unterscheidet es sich nicht von einem Knecht. Obwohl es dem Anspruch nach der Besitzer des ganzen Vermögens ist, kann es selbst mit seinem eigenen Besitz nicht ohne die Erlaubnis seiner Vormünder handeln. Dies, sagt der Apostel, stellt den Zustand der Erben unter Gesetz treffend dar. Die Elemente der Welt, ihre viel zur Schau gestellten Rituale und Vorgaben erfüllten für sie die gleiche Funktion wie der Vormund gegenüber dem Minderjährigen. Die Vorgaben des Gesetzes hielten die Erben Gottes in einem Zustand der Unmündigkeit und Gefangenschaft, bis Gottes festgesetzte Zeit gekommen war, um seinen Sohn zu senden, den verheißenen Samen der Frau, auf den das Auge des Glaubens bereits von dem Augenblick des Sündenfalls an gerichtet worden war.

Doch Er wurde „geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte“. „Die Fülle der Zeit“ ist ein bemerkenswerter Ausdruck. Viele vorbereitende Schritte waren nötig, um dem Menschen zu zeigen, dass er nur in der Erlösung gesegnet werden konnte. Erlösung war der ursprüngliche Gedanke Gottes, doch dieser Gedanke wurde erst zu Pfingsten zur völligen Erfüllung gebracht. Der Mensch stand nicht in Unschuld; der Mensch stand nicht unter Gesetz. Die, die unter dem Gesetz waren und durch den Geist erquickt worden waren, warteten auf die Erlösung. Schließlich kam der Zeitpunkt, zu dem Gott seinen Sohn sandte, unter Gesetz getan: Während Er das Gesetz durch seinen bedingungslosen Gehorsam verherrlichte, verherrlichte Er es noch mehr, als Er seinen Fluch auf sich nahm und so selbst die Erben von seiner Macht befreite. Dadurch konnten sie ihren rechtmäßigen Platz als Söhne einnehmen, was ihnen nicht möglich war, solange sie unter dem Gesetz waren. Denn das Gesetz hielt sie in der Stellung von Knechten, und sie konnten auch nur den Geist eines Knechtes haben.

„Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater! Also bist du nicht mehr Knecht, sondern Sohn; wenn aber Sohn, so auch Erbe durch Gott“ (Gal 4,6-7).

Der Apostel stellt hier die Stellung eines Gläubigen aus den Nationen, der in der völligen Freiheit des Evangeliums steht, der eines früheren Heiligen unter dem Gesetz gegenüber. Er macht also dem heidnischen Gläubigen die Torheit dessen deutlich, sich selbst wieder in den Zustand zu bringen, aus dem der alttestamentlich Gläubige das Werk Christi am Kreuz brauchte, um errettet zu werden und die Stellung und den Geist der Sohnschaft einzunehmen. Sie waren Söhne, nicht Knechte – Erben, die ihre Volljährigkeit erreicht und mit aller Zuversicht Freiheit zum Zutritt zum Vater hatten. Würden sie wieder zurück zur Stellung eines Kindes gehen, und wieder wie ein Kind denken und handeln? Das Argument ist sehr überzeugend; es besteht ein gewollter Gegensatz zwischen den Ausdrücken „damit wir die Sohnschaft empfangen“ und „weil ihr aber Söhne seid“. Der Geist der Sohnschaft war nicht das Teil alttestamentlich Gläubiger – es ist die glückselige Frucht der erwirkten Erlösung, für die selbst die Jünger des Herrn Jesus bis nach seiner Himmelfahrt warten mussten (siehe Apg 1,4-8). Der Heide war nie unter dem Gesetz gewesen, sondern war „versiegelt worden ... mit dem Heiligen Geist der Verheißung“, nachdem er dem Zeugnis geglaubt hatte zur Vergebung der Sünden durch den Namen Jesu (vgl. Apg 10,43.44; 11,15-17 mit Eph 1,13).

Der Geist der Sohnschaft mag von den heidnischen Christen wegen ihres Standes als Galater nicht richtig realisiert worden sein, doch wo immer er realisiert wird, bringt es den Gläubigen zu der Aussage: „Die Mess-Schnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern; ja, ein schönes Erbteil ist mit geworden“ (Ps 16,6). Und dies ist das Erbteil dessen, der den Vater kennt und den Geist der Sohnschaft hat. Kleine Sorgen, kleine Probleme, kleine Verlegenheiten bilden die Summe und den Inhalt unserer kleinen Leben. Um diesen zu begegnen, benötigen wir den Geist der Sohnschaft, denn wir brauchen die Fürsorge und das Herz eines Elternteils, und es „genügt uns“, wenn uns „der Vater“ gezeigt wird (vgl. Joh 14,8). Uns geht viel heilige Freude verloren, weil wir den Vater so wenig kennen. Wie würde der Gedanke, dass mein himmlischer Vater weiß, was ich brauche, uns von der Belastung vieler Dinge befreien. Selten finden wir Christen als Kinder zu ihrem Vater gehen und Ihm die kleinen Dinge sagen, die sie bemühen und bekümmern, in der Gewissheit, das Herz eines Vaters zu finden, auf den sie all ihre Sorgen werfen dürfen. Wir mögen gewissenhaft und vielbeschäftigt mit öffentlichen Handlungen der Anbetung sein; doch das stille Kämmerlein ist der Ort, an dem wir besonderen Kontakt zum Vater haben und Ihm im Stillen unsere persönlichen Bedürfnisses sagen.

Gesetzlichkeit verdunkelt unseren Sinn für unsere Beziehung zu Gott als dem Vater. Es bringt uns dazu, an gesetzliche Sohnschaft zu denken anstatt an eine wirkliche Beziehung. Bei der gesetzlichen Sohnschaft gehen Bedürfnisse mit dem Geist der Knechtschaft einher. So war es bei Israel unter dem Gesetz, es war eine gesetzliche Sohnschaft, wenn sie auch weggetan wurde (Joh 8,25.36). Doch wenn der Sohn frei macht, dann sind wir wirklich frei. Es ist gut, in der vertrauten Nähe zu ruhen, in die uns die Gnade durch Jesus bringt. Wir haben durch Jesus durch einen Geist Zugang zu dem Vater (Eph 2,18). Gesetzlichkeit versperrt im Endeffekt diesen Zugang. Wir brauchen uns daher über die Stärke der Sprache des Apostels nicht zu wundern, wenn er sah, wie Gottes eigene Kinder sich selbst herabwürdigten. Genau das taten die Galater, indem sie sich wieder dem Gesetz unterwarfen.

„Aber damals freilich, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr denen, die von Natur nicht Götter sind; jetzt aber, da ihr Gott erkannt habt, vielmehr aber von Gott erkannt worden seid, wie wendet ihr euch wieder um zu den schwachen und armseligen Elementen, denen ihr wieder von neuem dienen wollt? Ihr beachtet Tage und Monate und Zeiten und Jahre. Ich fürchte um euch, dass ich etwa vergeblich an euch gearbeitet habe“ (Gal 4,8-11).

Die Galater waren vor ihrer Bekehrung Götzendiener gewesen und standen nun sehr in der Gefahr, wieder den Prinzipien den Götzendienstes zu verfallen, wenn nicht sogar einer noch größeren Art des Götzendienstes. Das vorausahnende Auge des Apostels – vorausahnend, weil er unter der Leitung des Geistes stand – sah in dem, was man als harmlos oder unwichtig angesehen haben mochte, etwas, das notwendigerweise zurück zum Götzendienst führen würde. Dies war und ist auch mit Sicherheit der Fall – daher seine sehr scharfe Sprache.

Was für eine schöne Wendung von der Erkenntnis Gottes zu Gottes Erkenntnis ihrer selbst stellt der Apostel vor – „vielmehr aber von Gott erkannt worden seid“. Unsere Erkenntnis ist bestenfalls unvollkommen, doch Er kennt uns durch und durch. Er, der unser Schlechtestes kennt, ist der Gott, der uns „umsonst gerechtfertigt [hat] durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (Röm 3,24). Wenn wir uns selbst als unter dem Gesetz stehend betrachten, steht die Allwissenheit gegen uns. Doch im Evangelium ist Gott für uns, und das Blut Christi reinigt uns nicht nur von all der Sünde, von der wir wissen, sondern von allem, was das Licht der Allwissenheit entdecken kann. Es ist gut, die Stärke der Sprache des Apostels ernstlich zur Kenntnis zu nehmen. Gottes eigene Gesetzesanweisungen werden hier als „schwache und armselige Elemente“ bezeichnet. Zu ihrer Zeit und an ihrem Platz waren sie schön und vortrefflich als Verschattungen wunderbarer zukünftiger Dinge. Doch nun schrumpfen sie vor Jesus Christus und Ihm als den Gekreuzigten (der einen großen Anweisung Gottes) in Schwachheit und Armseligkeit dahin. Sie sind nicht nur ohne Gewinn, sondern sie sind Hindernisse. Der Apostel sagt zu diesen verzauberten Galatern, dass sie wieder auf ihre alten götzendienerischen Wege zurückkehren, indem sie Tage und Monate und Zeiten und Jahre beachten und so mit dem lebendigen Gott umgehen wie mit ihren stummen Götzen. All seine Mühe in der Verkündigung des Evangeliums der Gnade Gottes scheint verworfen worden zu sein.

Wie schmerzlich passend ist dies für einen Großteil der Christenheit heute. Es sind Prinzipien am Werk, die ihrem Grundsatz nach götzendienerisch sind. Die Menschen denken immer noch, dass Gott sich mit menschlichen Händen dienen lässt, als ob Er irgendetwas benötigen würde. Sie kennen Gott nicht in seinem glückseligen Charakter als den Geber und kommen daher auch nicht als Empfänger zu Ihm. Es ist wirklich bedauerlich, solche zu sehen, die einst die Wahrheit des Evangeliums geliebt zu haben scheinen, sich nun aber einem System von Geboten unterwerfen, indem sie Tage und Monate beachten und dadurch sich selbst die Sicht auf den einen Gegenstand versperren, den Gott uns vorstellt, nämlich seinen gepriesenen Sohn, in der Herrlichkeit seiner Erniedrigung und der Herrlichkeit seiner Erhöhung.

„Seid wie ich, denn auch ich bin wie ihr, Brüder, ich bitte euch; ihr habt mir nichts zuleide getan. Ihr wisst aber, dass ich euch einst in Schwachheit des Fleisches das Evangelium verkündigt habe; und die Versuchung für euch, die in meinem Fleisch war, habt ihr nicht verachtet noch verabscheut, sondern wie einen Engel Gottes nahmt ihr mich auf, wie Christus Jesus. Wo ist nun eure Glückseligkeit? Denn ich gebe euch Zeugnis, dass ihr, wenn möglich, eure Augen ausgerissen und mir gegeben hättet. Bin ich also euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? Sie eifern um euch nicht gut, sondern sie wollen euch ausschließen, damit ihr um sie eifert. Es ist aber gut, allezeit im Guten zu eifern und nicht nur, wenn ich bei euch zugegen bin. Meine Kinder, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch Gestalt gewinnt; ich wünschte aber, jetzt bei euch zugegen zu sein und meine Stimme umzuwandeln, denn ich bin euretwegen in Verlegenheit“ (Gal 4,12-20).

Der Apostel argumentiert hier, wie auch am Anfang, von seinem eigenen Fall ausgehend. „Ich bin wie ihr.“ Ich stehe auf keinem höheren Boden als ihr, weil ich ein Israelit war und „was die Gerechtigkeit betrifft, die im Gesetz ist, für untadelig befunden“ (Phil 3,6). Nein, sondern ich begebe mich von dieser meiner Stellung nach dem Gesetz auf eure Ebene und nehme denselben Boden ein wie ein Sünder aus den Nationen. Der Apostel Petrus tut dasselbe: „Sondern wir [die Juden] glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene“ (Apg 15,11). „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes“ (Röm 3,23). Nicht die Heiden müssen den jüdischen Boden einnehmen, sondern die Juden müssen den Platz einnehmen, an dem „kein Unterschied“ ist. Der Apostel erinnert die Galater daran, dass er ihnen keinen anderen Anreiz entgegenhält als den des Kreuzes Christi für den wirklich erweckten Sünder (Joh 12,32). Sie hatten seine persönliche Schwachheit beim Empfangen der gesegneten Botschaft, die er überbrachte, übersehen; und als Überbringer einer solchen Nachricht hatten sie ihn als „Engel Gottes ... wie Jesus Christus“ aufgenommen. Doch was war der Segen, von dem sie sprachen und in dem sie sich rühmten? Machte es sie glücklich, von Paulus zu hören, wie er die Werke des Gesetzes als die Grundlage ihrer Annahme bei Gott oder ein System von Anordnungen als Grundlage ihrer Nähe zu Gott vorstellte? Sowohl er als auch sie wussten, dass wenn das der Inhalt seiner Verkündigung gewesen wäre, dies kein Segen für sie gewesen wäre. Stattdessen hatte er ihnen das Kreuz Christi vorgestellt, durch das der Tod abgeschafft, der Sünde ein Ende gesetzt, unendliche Gerechtigkeit gebracht worden ist, und das Gesetz somit nicht länger die Macht hatte, sie gefangen zu halten (siehe Röm 7,6). Und als gesegnete Folge kann eine solche Nähe zu Gott in der liebreichen Zuversicht eines Kindes gegenüber einem zärtlichen Elternteil kennengelernt werden.

War der Apostel nun ihr Feind, indem er diese Wahrheit, die er ihnen bereits früher verkündigt hatte, und durch welche sie freigemacht worden waren, wieder neu in ihre Herzen und Gewissen prägte? Falsche Lehrer versuchten, die Galater gegen den Apostel aufzubringen, als wäre er ein Feind ihres Segens, während diese Lehrer in Wirklichkeit eifrig versuchten, eben gerade das Grundgerüst ihres Segens zu untergraben. Und sie versuchten es nicht vergeblich, denn kaum hatte der Apostel sie verlassen, da verschwanden ihre Liebesbekundungen gegenüber dem Apostel und ihr Eifer für die von ihm gepredigte Wahrheit. Wie anders waren die Philipper: Sie hatten der Wahrheit gehorcht, nicht nur in seiner Gegenwart, sondern „jetzt vielmehr in meiner Abwesenheit“ (Phil 2,12). Doch bei den Galatern konnte nur die Anwesenheit des Apostels sie auf dem rechten Weg halten. Er hatte sich hingebungsvoll für sie im Geist abgemüht, und wünschte bei ihnen zu sein, damit er die harte Stimme des Tadels gegen eine milde Ermutigung zum Festhalten an der Wahrheit eintauschen konnte, denn er war in großer Bestürzung über ihren Zustand. Dieser fortwährende Druck – die Sorge um die Versammlungen – lastete schwerer auf dem Apostel als all seine äußerlichen Nöte.

Wir sollten – trotz der Traurigkeit dieser Tatsache – nicht überrascht darüber sein, dass wir in der Christenheit eine Rückkehr zu Gesetzen beobachten. Dies kann zurückgeführt werden auf die Gesetzlichkeit, die in unserer aller Herzen ist. Der Grund dafür, dass wahre Christen so wenig Freude kennen, ist dass sie gesetzlich sind. Und dabei machen sie andere so elend wie sich selbst, indem sie andere über oder unter ihrem Standard genauso beurteilen. Das einzige Gegenmittel gegen Gesetzlichkeit ist es, dass „Christus in euch Gestalt gewinnt“. Dies ist die besondere Aufgabe des Heiligen Geistes, dem Geist der Wahrheit, der Christus verherrlicht und uns weg vom Gesetz und hin zu dessen wahrem Ziel und Gegenstand bringt, der Gerechtigkeit. „Denn Christus ist des Gesetzes Ende, jedem Glaubenden zur Gerechtigkeit“ (Röm 10,4).

„Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht?“ (Gal 4,21).

Wenn man einmal verstanden hat, dass Gott einen Plan hat, und zudem einen ewigen Plan, den Er in Christus Jesus, unserem Herrn, bewirkt hat, dann finden wir diese großartigen Grundsätze, die Er zeigen möchte, bereits im vordersten Teil des Wortes Gottes. Unter diesen finden wir zwei solcher Grundsätze, die auf bemerkenswerte Weise miteinander verknüpft sind. Der eine Grundsatz ist der, dass in der Gegenwart Gottes kein Fleisch Verherrlichung findet. Der andere ist, dass der, der verherrlicht, nur im Herrn verherrlichen darf. Diese beiden Grundsätze werden in den Schriften des Alten Testamentes umfassend veranschaulicht. Gott wird sich selbst als Gott offenbaren, und es ist nicht nur notwendig zu zeigen, dass das Geschöpf nicht Gott ist, sondern auch, dass der einzig richtige Platz des Geschöpfes und die einzige Möglichkeit für sein Glück die Abhängigkeit von Gott ist.

Diese großartige Wahrheit zeigt sich zuallererst in der Erlösung, die in Christus Jesus ist. Gott und sein geschaffener Mensch werden dabei in die richtige Beziehung zueinander gebracht: Gott als Geber, der Mensch als Empfänger – Gott (nicht der Mensch) als Handelnder – das Geschöpf erlöst und überreich gesegnet, weil Gott verherrlicht wird. Das ist Gottes ewige Absicht. Doch wie viele Vorschattungen gibt es hierauf, noch bevor es weder vollständig offenbart noch vollständig erfüllt worden war. Das erste Buch Mose (welches zudem die älteste erhaltene historische Aufzeichnung ist) hat diese tiefe Bedeutung – es ist ein Buch der großen Grundsätze. Dieses Buch ist es, auf das sich der Herr und seine Apostel so häufig beziehen, um ihre Lehren zu veranschaulichen. Der Herr selbst bezieht sich auf Gottes ursprüngliche Schöpfung von Mann und Frau, um die Unantastbarkeit der Eheschließung in den Augen Gottes zu zeigen. Er weist auf Abel als den leidenden Gerechten hin. Er bezieht sich auf die Tage Noahs und Lots als Bilder für die mangelnde Bereitschaft der Menschen für den Tag des Sohnes des Menschen. Er bezieht sich auf Abraham, der sich darüber freute, seinen Tag zu sehen, wobei Er gleichzeitig seine eigene wesensmäßige Gottheit durch die denkwürdigen Worte zur Geltung brachte: „Ehe Abraham war, bin ich“ (Joh 8,58).

Wir sollten daher nicht überrascht darüber sein, dass der Apostel, geleitet durch den Geist (denn Gott wusste alle seine Werke von Anbeginn der Welt an [vgl. Apg 15,18]), „das Gesetz“ bereits in den frühen Kapiteln des ersten Buches Mose entdeckt, 400 Jahre bevor es am Berg Sinai überhaupt gegeben wurde. „Sagt mir, die ihr unter Gesetz sein wollt, hört ihr das Gesetz nicht?“ Der Apostel findet das Gesetz in der Geschichte des Vaters aller Glaubenden. Er hatte bereits zuvor durch Abraham und seinen Glauben an Gott, seinen festen Grund, gezeigt, dass Segen von Gott nur auf dem Weg des Glaubens erlangt werden kann. Jetzt zeigt er durch das Versagen Abrahams, wie heimtückisch der Grundsatz des Gesetzes Eingang gefunden hatte, um den Segen des Vaters aller Glaubenden selbst zu beschädigen und so den Frieden der Familie des Glaubens zu stören, sodass es für Abraham und seine Familie keine Ruhe gab, bis das Gesetz vertrieben worden war. Wie wichtig ist es für uns, die Schriften in dem Licht zu sehen, in dem Gott sie hervorgebracht hat, nämlich als eine Offenbarung seiner selbst, seiner Gedanken und seiner Ratschlüsse und Absichten. Was für einen gewaltigen Unterschied macht dies zwischen zwei Menschen in Bezug auf den Stellenwert, den die Bibel in ihrer jeweiligen Beurteilung einnimmt! Der eine betrachtet die Schriften als eine Ansammlung altertümlicher Aufzeichnungen, aus denen er sich so viel Licht zusammensammelt, wie er eben kann – als ob der Mensch, und nicht Gott, der Anfang und das Ende dieser vielfältigen Schriften wäre. Der geistliche Mensch, der durch das Blut Jesu erlöst ist, wird in die Ratschlüsse und Gedanken Gottes eingeführt (Eph 1,7-9) und ist dadurch in der Lage, durch das wunderbare Buch hindurch den Ratschluss und den Plan Gottes zu finden. Den Hauptpunkt, den der Apostel in diesem Brief diskutiert, findet er so in der Geschichte Abrahams veranschaulicht.

„Denn es steht geschrieben, dass Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd und einen von der Freien; aber der von der Magd war nach dem Fleisch geboren, der aber von der Freien durch Verheißung“ (Gal 4,22-23).

In 1. Mose 15 erhält Abraham in einer Vision das Wort des Herrn; und zum ersten Mal wird von einem sündigen Menschen das himmlische Wort vernommen: „Fürchte dich nicht, Abram“ – und wie stark war der Grund, der für die Hinwegnahme aller Furcht gegeben wurde: „Ich bin dein Schild, dein sehr großer Lohn“ (1. Mo 15,1). Alles, was Abraham nachfolgend kundgetan wird, ist in diese allumfassende Segnung eingebettet. Doch wie kann eine solche Segnung zu Abraham kommen, wenn man sich die Umstände ansieht, in denen er war? „Siehe“, spricht er, „mir hast du keinen Nachkommen gegeben, und siehe, der Sohn unseres Hauses wird mich beerben. Und siehe, das Wort des HERRN erging an ihn, indem er sprach: Nicht dieser wird dich beerben, sondern der aus deinem Leib hervorgehen wird, der wird dich beerben. Und er führte ihn hinaus und sprach: Blicke doch zum Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So wird dein Same sein! Und er glaubte dem HERRN; und er rechnete es ihm zur Gerechtigkeit“ (1. Mo 15,3-6). Abraham glaubte, dass Gott das tun konnte, was er selbst nicht tun konnte. Das ist es, was das Evangelium uns vorstellt: „Was bei den Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott“ (Lk 18,27). Es ist Gott möglich, einen Sünder vollkommen gerecht zu machen, und die Art und Weise, auf die Er das tut, und die Grundlage dessen ist der Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus Christus. Somit kann kein Zweifel den Sinn des Gläubigen in Bezug auf seine vollständige Errettung beunruhigen.

Doch es gibt eine Art Erbkrankheit in der Familie des Glaubens, und zwar die Krankheit des Unglaubens. In der Geschichte Abrahams sehen wir eine frühe Ausprägung davon. Glaube und Geduld sind notwendigerweise miteinander verbunden; doch Unglaube ist ruhelos und ungeduldig und nimmt Dinge aus Gottes Hand in seine eigene. Abraham hatte auf Gottes Ruf hin sein Land und seine Verwandtschaft verlassen. Dieser Akt des Glaubens wird von dem Apostel an anderer Stelle angeführt: „Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen sollte; und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme“ (Heb 11,8). Wir erhalten tiefe Belehrungen, nicht nur aus dem Glauben, sondern sogar aus den Fehlern des Vaters aller Glaubenden. Nach einem solch entschiedenen Akt des Glaubens bei Abraham, wobei er sogar alles für den Ruf Gottes aufgegeben hat, erwarten wir kaum ein solches Versagen. Doch so war es.

Das Versagen des Gläubigen zeigt sich in der Regel bei einer Gelegenheit, in der es leichter scheint, Gott zu vertrauen, als bei Gelegenheiten, bei denen wir Ihm früher vertraut haben. Doch gewohnheitsmäßige Abhängigkeit von Gott ist immer der Natur entgegengesetzt. Abraham und Sarah wurden ungeduldig, und dachten, dass sie durch ihre eigene Weisheit und Kraft die Segnung erlangen könnten, die Gott ihnen durch seine Macht und Gnade verheißen hatte. Daher kam es dazu, dass Sara Abraham Hagar gab (1. Mo 16). Dies war in Wirklichkeit ein Versuch, die verheißene Segnung durch das Gesetz zu erlangen; und es endete in eklatantem und leidensvollem Versagen. Das unmittelbare Ergebnis war, dass Sarah von Hagar „verachtet“ wurde. Die Pharisäer verachteten in ihrem Stolz über ihre eigene Gerechtigkeit den, durch den die Gnade und die Wahrheit gekommen waren. So ist es auch in Bezug auf uns: Wenn wir gesetzlich werden, dann wird die Gnade in unseren Augen verachtenswert. Hagar gebar einen Sohn, doch er wurde nach dem Fleisch geboren. Das Wort „Fleisch“ wird hier gebraucht, um die Kraft des Menschen zu markieren. Wenn man die menschliche Kraft hineinbringt und versucht, sie der Kraft Gottes hinzuzufügen, dann gibt es Verwirrung und Schwierigkeiten. Die menschliche Kraft wird hier der Verheißung gegenübergestellt – der Verheißung, die Gott selbst zu erfüllen versprochen hatte. Fleisch und Verheißung können nicht nebeneinander stehen. Die Rettung muss entweder durch die Kraft Gottes oder durch die des Menschen erzielt werden; und wenn wir sie der Kraft Gottes überlassen, dann dürfen wir nicht die menschliche Kraft hineinbringen, um sie zu erlangen. Gott wird sich als der Allmächtige erweisen – als der allgenügsame Gott –, um seine eigenen Verheißungen in der ganzen Familie des Glaubens zu bewirken, so wie Er es beim Vater aller Glaubenden tat (1. Mo 17,1).

„Was einen bildlichen Sinn hat; denn diese sind zwei Bündnisse: eins vom Berg Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist. Denn Hagar ist der Berg Sinai in Arabien, entspricht aber dem jetzigen Jerusalem, denn sie ist mit ihren Kindern in Knechtschaft; das Jerusalem droben aber ist frei, welches unsere Mutter ist. Denn es steht geschrieben: „Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und rufe laut, die du keine Geburtswehen hast! Denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als die Kinder derjenigen, die den Mann hat““ (Gal 4,24-27).

Der Apostel lehrt uns hier, dass diese Begebenheiten in der Geschichte Abrahams dazu gedacht sind, uns eine große moralische Lektion zu lehren. Der Herr selbst hat festgelegt, dass „die Schrift ... nicht aufgelöst werden“ kann (Joh 10,35). Dabei meint Er die Schriften des Alten Testamentes und sagt, dass diese Schriften von Ihm zeugen (Joh 5,39). An anderer Stelle stellt der Apostel den generellen Grundsatz vor: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung“ (2. Tim 3,16). Welch tiefe geistliche Wahrheiten verbergen sich oft in geschichtlichen Begebenheiten, die auf sehr einfache Weise erzählt werden. Wenn wir zurück zum Garten Eden schauen, finden wir die tiefste Wahrheit vorgeschattet (die erst durch das Kommen des Heiligen Geistes wirklich klar zum Vorschein gebracht wurde), als Adam sagte: „Diese ist einmal Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch“ (1. Mo 2,23). „Wir sind Glieder seines Leibes, von seinem Fleisch und von seinen Gebeinen“ (Eph 5,30). Somit finden wir auch in diesem Abschnitt der Geschichte Abrahams eine tiefe geistliche Belehrung.

Hagar stellt den Berg Sinai und seinen Bund dar, unter dem Jerusalem zur Zeit der Schrift des Apostels stand, und aus der es sich weigerte, durch das Evangelium der Gnade befreit zu werden. Zu diesem Bund der Knechtschaft wurden die Galater erneut hingelenkt – sie waren solche, „die unter Gesetz sein wollt[en]“ (4,21). Hagar konnte in der Gegenwart Saras nie vergessen, dass sie eine Leibeigene war. Und der Geist des Gesetzes führt immer in die Knechtschaft. Wie Petrus sagt, war es „ein Joch, ... das weder wir noch unsere Väter zu tragen vermochten“ (Apg 15,10). Die Galater waren versucht, das „leichte Joch“ des Herrn Jesus gegen das schwere Joch des Gesetzes einzutauschen. Wie merkwürdig, und doch wie wahr ist es, dass wir die geistliche Knechtschaft der geistlichen Freiheit vorziehen. Doch der Grund dafür liegt auf der Hand: Wenn wir befreit sind, so kann dies nur durch die Gnade Gottes geschehen – und unsere stolzen Herzen weigern sich, dies anzuerkennen. Ja, die Menschen weigern sich, als durch und durch verlorene und verdorbene Sünder durch die Gnade Gottes gerettet zu werden, durch das kostbare Blut Christi. Sie haben sich „der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen“ (Röm 10,3) und wollen dies auch nicht. Doch wie Jerusalem in diesem Abschnitt binden sie ihre Ketten noch fester um sich. Und damit nicht genug, sie versuchen auch, andere mit sich in Knechtschaft zu bringen.

Wenn Christen ihren Sinn für ihre himmlische und unweltliche Berufung verloren haben (was das wachsame Auge des Apostels bei den Galatern zu beginnen sah), dann schauen sie auf Hagar und nicht auf Sara. Die Galater nahmen sich das „jetzige Jerusalem“ zum Vorbild, „das mit ihren Kindern in Knechtschaft“ ist. Das Ergebnis würde ein religiöses System sein (und das ist es auch), das genauso Knechtschaft bedeutet wie das Judentum selbst. Christus ist nicht in die Welt gekommen, um eine Religion zu gründen, sondern um Sünder zu retten, damit Er sie so „herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt“ (1,4), um sie zu Bürgern eines himmlischen Jerusalem zu machen – dem Jerusalem, das droben ist und das frei ist. Und wo finden wir Freiheit, wenn nicht durch die Einführung in die Gegenwart des Vaters durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist? Die weltlichen Religionen verwehren den freimütigen Zugang durch den Glauben an Jesus zum Vater. Das Gesetz – das jetzige Jerusalem – könnte niemanden dazu bringen, „Abba, Vater“ zu rufen. Dies ist das Ergebnis einer vollbrachten Erlösung, und eine der reichsten Gaben, die von oben herabkommt – aus dem Jerusalem, das droben ist, und zwar frei. Sicher, wir nehmen jetzt unseren Platz als Diener ein, doch wir tun dies trotzdem als Söhne, ebenso wie der Sohn Gottes hier seinen Platz als Diener einnahm, und doch ist ebendieser Dienst Freiheit. Das gesamte jüdische System war notwendigerweise ein System der Knechtschaft: das jetzige Jerusalem – das Jerusalem, das keine Erlösung kennt. Doch durch den Glauben sind wir „gekommen zum Berg Zion und ... zum himmlischen Jerusalem“ (Heb 12,22) und dadurch haben wir „ein Ruhmesgewand statt eines verzagten Geistes“. (Jes 61,3).

Um darzulegen, dass das Jerusalem droben die glückliche Mutter von in Freiheit geborenen Kindern ist, zitiert der Apostel Jesaja 54,1. Hagar schmähte nach ihrer Empfängnis ihre Herrin, doch ein gottgegebenes Lachen war mit ihrem Sohn nicht verbunden, sondern mit Isaak, dem Sohn Saras. „Sei fröhlich, du Unfruchtbare [Sara, nicht Hagar], die du nicht gebierst; brich in Jubel aus und rufe laut, die du keine Geburtswehen hast! Denn die Kinder der Einsamen sind zahlreicher als die Kinder derjenigen, die den Mann hat.“ Wie wunderbar trifft dies auf alle Einzelheiten des im vorherigen Kapitel des Propheten beschriebenen Christus zu, der für uns gelitten hat. Wir sollten diese Kapitel gemeinsam lesen, um genau diese gegenwärtige Herrlichkeit zu sehen, die auf diese Leiden folgt und bewirkt, dass „die Unfruchtbare des Hauses ... als eine fröhliche Mutter von Söhnen“ wohnt (Psalm 113,9). Dies ist eine wahre Erscheinung der Gnade. Das Gesetz kannte nichts von Lobpreis. Hagars Sohn war nach dem Fleisch geboren. Saras Kind war das Kind der Gnade und Macht Gottes. So war es auch mit Hanna. Die Unfruchtbare, die gebiert, kann nur in Lobpreis einen Ausdruck finden. Äußerliche Größe und Herrlichkeit mögen mit der Knechtschaft verbunden sein; denn die Menschen sind, bis sie die Erlösung kennengelernt haben, entweder Sklaven der Sünde, des Gesetzes, oder der Welt. Ismael war in der Gegenwart seiner Brüder groß, während Isaak im Verborgenen war. So war es auch mit Esau, während Jakob diente. Genauso mögen heute bekennende Christen groß und herrlich sein, weil sie sich selbst lieben. Doch sie kennen nicht die Freiheit durch die Wahrheit. Sie kennen nicht die Gnade, und Lobpreis kann nicht hervorbrechen. Als das Werk Christi am Kreuz vollendet war und als Gegenstand des Glaubens vorgestellt wurde, blieb für die, die es sahen und daran glaubten, nichts als Lobpreis. „Sei fröhlich, du Unfruchtbare, die du nicht gebierst.“ „Freut euch in dem Herrn allezeit, und wiederum will ich sagen: freut euch“ (Phil 4,4). „Als Traurige, aber allezeit uns freuend“ (2. Kor 6,19).

„Ihr aber, Brüder, seid wie Isaak Kinder der Verheißung. Aber so wie damals der nach dem Fleisch Geborene den nach dem Geist Geborenen verfolgte, so auch jetzt. Aber was sagt die Schrift? „Stoße die Magd und ihren Sohn hinaus, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien““ (Gal 4,28-30).

Wie oft werden wir daran erinnert, dass jeder Fehler bis zu seinem Abweichen von einem sehr fundamentalen Grundsatz zurückverfolgt werden muss. Was war der Fehler der Galater? Was ist das Christentum heute anderes als die praktische Leugnung dessen, dass der Mensch von neuem geboren werden muss? War Isaak das Kind einer natürlichen oder einer übernatürlichen Kraft? Wir alle antworten, dass Gott, nachdem Er sowohl Abrahams als auch Saras Leib hatte ersterben lassen (siehe Röm 4,19) – was jede Erwartung, noch ein Kind zu empfangen, zerstörte – ihnen dann nach seiner Verheißung und Macht Isaak schenkte.

„Ihr aber, Brüder“, schreibt der Apostel, „seid, wie Isaak, Kinder der Verheißung“; „aus dem Geist geboren“ (Joh 3,6); „wiedergeboren ... durch das lebendige und bleibende Wort Gottes“ (1. Pet 1,23); „...nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt“ (Jak 1,18); „aus Gott geboren“ (1. Joh 5,1). Und wenn Glaube in unseren Herzen ist, dann ist dies das Ergebnis der gewaltigen Macht Gottes, in der Er gewirkt hat in dem Christus, als Er Ihn aus den Toten auferweckte (Eph 1,19). An ebendieser Kraft, die der Mensch braucht, um befähigt zu werden, das Reich Gottes zu sehen und hineinzugelangen, um dem Gott der Gnade und Erlösung zu begegnen, nimmt der Mensch Anstoß und verachtet sie. Und der bekennende Leib ignoriert auf diese oder jene Weise, dass wir „von neuem geboren“ werden müssen (Joh 3,7).

Ismael und Isaak können nicht in demselben Haus leben oder in Frieden miteinander gehen. Als Isaak, der Sohn Saras, entwöhnt wurde und Abraham zu diesem Anlass ein großes Fest machte, „spottete“ Ismael, Hagars Sohn (vgl. 1. Mo 21,9). Er blickte verachtend und gleichgültig auf Isaak und machte sich lustig über das hohe Alter Saras, verglichen mit der Lebenskraft und dem Anmut Hagars. „So auch jetzt“ – es gibt nichts, was dem Menschen so instinktiv missfällt wie die Gnade. Er kann den Gedanken nicht ertragen, dass Gott Unterschiede zwischen den Menschen macht, und dass der Unterschied nicht durch den Menschen selbst gemacht wird (that God should make one to differ from another, and that the difference is not made by man himself). Der Mensch fürchtet sich von Natur aus mehr vor der Gnade als vor der Heiligkeit Gottes. Er geht davon aus, dass er durch das ein oder andere selbst erdachte Mittel der Heiligkeit Gottes entsprechen könnte. Doch Gnade ist Gottes Fähigkeit, den Menschen in seiner höchsten Bedürftigkeit zu begegnen und ihn unaussprechlich zu segnen. Die oft wiederholte Geschichte der religiösen Verfolgung ist nichts als die Geschichte von Ismael, die hier durch den Apostel aufgezeigt wird. Und die besondere Form des Widerstandes Ismaels gegen Isaak, selbst das Spotten, ist sehr charakteristisch für die Tage, in denen wir leben; denn je mehr der Mensch dahin kommt, sich in der Größe seiner eigenen Kräfte zu rühmen, desto größer wird sein Widerstand gegen „das Evangelium der Gnade Gottes“ sein.

Abraham erhält das unerbittliche Wort: „Stoße die Magd und ihren Sohn hinaus, denn der Sohn der Magd soll nicht erben mit dem Sohn der Freien.“ Es war sicherlich schmerzhaft für Abraham, sie hinauszustoßen. Dies zu tun, ging gegen seine Empfindungen und Zuneigungen, doch es war für Abraham nicht schmerzhafter, dies zu tun, als es für uns ist, das Gesetz fortzutreiben. Es haftet uns so schnell an. Es erscheint uns so schmerzlich, die Werke unserer eigenen Hände aufzugeben und das loszulassen, worauf wir uns am meisten eingebildet haben. Doch bis Hagar fort ist, kann es im Haus Abrahams keinen Frieden geben. Bis das Gesetz und jede Erwartung davon gänzlich losgelassen ist, gibt es für die Seele keinen Frieden. „Da wir nun gerechtfertigt sind aus Glauben, so haben wir Frieden“ (Röm 5,1).

Wie wenig verstehen selbst wahre Christen ihre gegenwärtige Würde, „nicht Kinder der Magd, sondern der Freien“ zu sein. Und so lange sie dem Gesetz anhangen, ist es ihnen unmöglich, ihren Anspruch auf ein „unverwesliches und unbeflecktes und unverwelkliches Erbteil, das in den Himmel aufbewahrt ist“ zu erkennen (1. Pet 1,4). Die Erkenntnis dieses Anspruchs bringt unweigerlich die, die sie haben, in die Stellung von Pilgern und Fremdlingen hier. Ein Erbe all dessen zu sein, was Gott gibt, kann niemals durch irgendetwas vom Menschen Getanes verdient werden. Das Gesetz machte diejenigen, die darunter standen, zu Knechten, nicht zu Söhnen; und um ein Erbe zu sein, muss man ein Sohn sein, man muss sogar zu dem Erbe geboren sein. Bis wir Gottes Gedanken darüber verstehen, warum Er uns die Schriften gegeben hat, ist es unmöglich, in dem, was offenbar nichts als die heißblütige Aussage einer wütenden Frau war, eine tiefgründige geistliche Wahrheit zu lesen. „Denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohn, mit Isaak!“ (1. Mo 21,10). Und so passierte es damals auch. „Und Abraham gab Isaak alles, was er hatte. Und den Söhnen der Nebenfrauen, die Abraham hatte, gab Abraham keine Geschenke; und ließ sie, während er noch lebte, von seinem Sohn Isaak wegziehen“ (1. Mo 25,5.6). Isaak war nach der Verheißung Gottes der Erbe (1. Mo 25,4). Andere mögen Gaben haben und gedeihen; doch Sara konnte nichts zufriedenstellen als die Erbschaft ihres Sohnes. So ist es auch heute. Die Menschen geben sich mit einer äußerlichen Erkenntnis Gottes und den vielen Gaben, die sie dabei erhalten, zufrieden. Doch sie stehen völlig abseits von den wahren Erben Gottes. Sie sind aus Ihm geboren und daher können sie mit nichts anderem zufriedengestellt werden als mit dem, was Gott gerne gibt. Und wenn Er ihnen nun die unaussprechliche Gabe des Christus gegeben hat, und sie Ihn im Glauben angenommen haben, wie wird Gott ihnen mit Christus nicht auch alles schenken (vgl. Röm 8,32)?.

Die Kinder der Nebenfrauen erhalten ihre Gaben und gehen ihrer Wege. Genauso ist es heute – alle, die mit der falschen Kirche verbunden sind, erhalten ihre Gaben und denken nicht an das Erbe, ja verachten dieses sogar. Die Gegenwart nimmt ihre Gedanken ein; und der Zeitgeist richtet sich stark auf gegenwärtige Segnungen durch die Entwicklung menschlicher Kräfte. So verachten sie, wie Esau, das Erstgeburtsrecht – denn wozu nützt es? Sie mögen tatsächlich nach dem Erbe verlangen, wenn sie aus der gegenwärtigen Welt fortzugehen in Begriff stehen. Doch Gott hat das Erstgeburtsrecht und das Erbe untrennbar miteinander verbunden; und die, die das Erstgeburtsrecht verachten, werden niemals Erben werden. Die Menschen verachten es, aus Gott geboren zu sein. Sie richten ihre Bosheit und ihren Geist gegen die, die das Erstgeburtsrecht schätzen. Indem sie so, wie Esau, das Erstgeburtsrecht verachten, können sie nie das Erbe besitzen.

„Deshalb, Brüder, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien.

Für die Freiheit hat Christus uns frei gemacht; steht nun fest und lasst euch nicht wieder unter einem Joch der Knechtschaft halten“ (Gal 4,31 - 5,1).

Wenn wir aus Gott geboren sind, sind wir nicht Kinder Hagars, sondern Saras – frei geborene Kinder der freien Frau, freigemacht durch den Sohn selbst, und daher wirklich frei. Christus hat uns in die Freiheit von Söhnen gebracht. Obwohl die Freiheit der Söhne in Herrlichkeit die sein mag, auf die wir warten, ja, sogar die Erscheinung mit Christus, dem Sohn, in Herrlichkeit; so ist es doch auch heute schon eine herrliche Freiheit, Zugang zum Vater zu haben mit Freimütigkeit durch den Geist der Sohnschaft, anstatt das Joch der Knechtschaft auf uns gelegt zu haben durch solche, die Gott versuchen, indem sie uns das Gesetz aufzwingen (vgl. Apg 15). Der einzige, der frei von Gesetz ist, ist der, der es in seiner verdammenden Kraft anschauen kann und dennoch die Befreiung davon durch das Kreuz Christi kennt (Röm 7,4-6). Nur der, der davon befreit ist, betrachtet das Gesetz in all seiner Vollkommenheit als „heilig, gerecht und gut“. Was für eine wunderbare Freiheit ist es, mit der Christus uns frei gemacht hat. Es ist die Freiheit der Wahrheit (Joh 8,32). Wir wagen es, die Dinge so zu betrachten, wie sie wirklich sind: Unseren eigenen schlimmen Zustand zu betrachten, unsere Schuld und Hilflosigkeit als Sünder ganz zu sehen, und so entsetzlich dies ist, so wird dem doch umfassend Genüge getan in dem Sehen der Gnade Gottes in Wahrheit, und der Realität des versöhnenden Werkes Christi am Kreuz. Und was für eine gesegnete Wahrheit ist es, dass Christus uns Gerechtigkeit geworden ist (vgl. 1. Kor 1,30).

Was für eine Freiheit ist es, davon befreit zu sein, irgendeine Grundlage der Zuversicht in uns selbst gegenüber Gott finden zu müssen! Was für eine Freiheit, nicht mit sich selbst beschäftigt zu sein, sondern mit dem Wert des getöteten Lammes. Der Befehl des Apostels lautet: „In der Freiheit nun ... steht fest“ (5,1; siehe Fußnote). Und wie nötig ist dieses Wort; denn es gibt viele Verirrungen, für die wir verantwortlich sind, und durch die wir die Freiheit des Christus gegen ein Joch der Knechtschaft eintauschen. Eine der naheliegendsten Verirrungen ist ein System von Ordnungen: dies war die Gefahr der Galater. Doch wir haben unsere besondere Gefahr der Verirrung durch die traditionelle Religion, von der wir umgeben sind. Das Joch traditioneller Religionen knechtet auf entsetzliche Weise das Gewissen vieler wahrer Christen. Wir alle brauchen das Wort: „In der Freiheit nun, für die Christus uns frei gemacht hat, steht fest!“ - Freiheit von aller Verdammnis, Freiheit der Nähe Gottes, Freiheit der Heiligkeit, Freiheit zum Dienst. Bring das Gesetz hinein, und die Freiheit ist verschwunden, und an seiner Stelle wird uns ein schweres Joch auferlegt.

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