Das Kommen des Herrn, Israel und die Gemeinde
Nicht von dieser Welt
Nachdem im Epheserbrief das Geheimnis der Versammlung offenbart wurde, heißt es weiter: „Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, mit der ihr berufen worden seid“ (Eph 4,1). Unter Gesetz hing die Stellung vom Lebenswandel ab; unter der Gnade bestimmt die Stellung den Lebenswandel. Sie versetzt uns in Christus in himmlische Örter und fordert eine Lebensführung, die dieser Stellung würdig ist. Das ist Gottes derzeitiger Weg, weit entfernt von Gesetzlichkeit auf der einen Seite und Antinomismus1 auf der anderen Seite. Man kann sich seine Annahme nicht durch gute Werke verdienen, wohl aber werden gute Werke als Folge der Annahme gefordert. Dabei wird nachdrücklich betont, dass keine Frucht hervorgebracht werden kann, wenn wir nicht am Weinstock bleiben, dass das Bleiben am Weinstock jedoch unweigerlich dazu führen wird, dass wir Frucht bringen.
In einer Armee ist jeder Soldat seinem General persönlich verantwortlich. Bei einer Meuterei, wo jedes Regiment einem anderen Führer unterstellt ist und seine eigenen Ziele verfolgt, kann man dem Auftrag des Generals nur nachkommen, wenn man die Befehle des Generals kennt und sich von allen trennt, die diese nicht gewissenhaft ausführen. Die Christenheit ist so eine gespaltene, aufbegehrende Armee. Aber was für einen Soldaten unmöglich sein mag, ist, Gott sei Dank dem möglich, der ein Leben im Gehorsam gegenüber Christus zu führen begehrt. Den widerstreitenden Stimmen der Menschen Gehör zu schenken, gleicht einem Sprung in einen Strudel der Verwirrung und des Widerspruchs. Gottes Wort unbeirrbar zu folgen, bedeutet garantierte Sicherheit auf unserer Reise durch die Welt.
Der Weg des einzelnen Christen muss seiner Berufung in Christus entsprechen. Als Glied seines Leibes muss er sich demgemäß verhalten. Wenn sein Leib nicht von dieser Welt ist, ist er auch nicht von dieser Welt; wenn sein Leib himmlisch ist, ist er auch himmlisch. So wie der ganze Leib seinen wahren Charakter widerspiegeln soll, sollten es auch die einzelnen Glieder tun. Jetzt ist die Kirche getrennt von der Welt, vereint mit Christus im Himmel, ein Leib mit Christus, eine Wohnung des Heiligen Geistes. Wenn der Gläubige gemäß seiner Berufung wandeln soll, so soll er diesen Charakter auch der Welt gegenüber zeigen. Unter diesem Aspekt betrachtet: welcher Lebenswandel passt denn zu einem Christen? Wenn er eine himmlische Berufung hat, wie kann er sich dann mit weltlichen Vergnügungen, Politik, Eitelkeit und weltlichen Zielen verbinden? Er meidet gesellschaftliche Anlässe, wie Bälle, Theater, Konzerte, nicht weil ihn sein natürliches Gewissen dazu auffordert, sondern weil es nicht zu seiner himmlischen Berufung passt. Sind Orte weltlicher Zerstreuung etwas für einen Christen, der mit Christus in Tod und Auferstehung verbunden ist, der zum Himmel gehört und die Wiederkehr seines Erlösers erwartet, damit Er Ihn dorthin bringe? Wie kann ich den Vergnügungen und Lastern einer Welt nachgehen, von der ich durch meine himmlische Berufung getrennt wurde – eine Welt, die mein himmlisches Haupt hasst und meine himmlische Hoffnung verachtet – eine Welt, die mit hoher Geschwindigkeit den Gerichten zueilt, die dem Tag des Herrn vorangehen werden? Würde er sich von Ehre, Anerkennung und hoher Stellung dieser verurteilten Welt angezogen fühlen? Würde er nicht Daniel zustimmen, der, als er sah, wie der Finger Gottes das Gericht über Babylon an die Wand schrieb, sagte: „Deine Gaben mögen dir verbleiben, und deine Geschenke gib einem anderen; jedoch werde ich dem König die Schrift lesen und ihm die Deutung kundtun“? (Dan 5,17) Was hätten Belsazar und seine Männer wohl über Daniels Deutung gedacht, wenn sie festgestellt hätten, dass er in einer Stadt, deren Untergang er voraussagte, an Macht und Ansehen festhielt? Und was wird die Welt denken, wenn sie sieht, wie Gläubige nach wertlosen Dingen trachten, auf denen bereits die Schatten des drohenden Gerichts liegen? Nein, vielmehr sollten solche, die diese Schrift lesen können, die Welt eindringlich warnen und nicht flüchtiger Ehre und wertloser Anerkennung nachjagen.
Es gibt zweifellos Gläubige, die aus großmütigen und philanthropischen Motiven heraus Anteil am Geschehen dieser Welt nehmen. Sie wollen einfach Gutes tun, Leiden verringern, Ungerechtigkeit eindämmen. Zweifellos haben sie gute Absichten und den aufrichtigen Wunsch, Gott einen Dienst zu erweisen – keine Frage. Aber die reinsten Motive werden einen Christen nicht den rechten Weg führen, wenn er seine himmlische Berufung nicht versteht und es bleibt die Frage, ob diese Gläubigen, so ernst und gut sie es auch meinen, verstanden haben, was Gott von ihnen möchte, dass sie tun sollen.
Wenn Gott aktuell noch immer seine irdischen Ziele verfolgen würde und wenn es sein Wille wäre, die Welt zu segnen und zu verbessern, dann wäre eine solche Verhaltensweise für einen Gläubigen möglicherweise richtig. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Welt geht nicht Segen, sondern Gericht entgegen, und der Gläubige wird aufgefordert, sich von ihr abzusondern. Wenn er sein Leben ganz unter die Leitung des Wortes Gottes stellte, was würde er wohl dazu sagen, wenn man mit politischen oder sozialen Maßnahmen die Welt zu verbessern suchte? Würde er nicht sagen, dass Gott die Erde erst mit dem Kommen Christi segnen wird? Soll ich dann versuchen, dieses Ziel früher zu erreichen bzw. kann ich auf eigenen Wegen überhaupt irgendetwas Gutes bewirken? Bin ich mir des Bösen besser bewusst als Er bzw. kann ich ihm besser widerstehen? Wenn Er ganz klar sagt, dass diese Welt dem Gericht entgegengeht, weil sie Christus abgelehnt hat, wie kann ich dann das Gericht durch eigene Bemühungen aufhalten wollen oder mich von einem System vereinnahmen lassen, dem ein schreckliches Schicksal bevorsteht? Ich bin zur Nachfolge Christi berufen und wenn Christus derzeit eine wartende Haltung einnimmt, sollte ich als sein Miterbe dann nicht mit Ihm warten? Wenn Gott jetzt ein Volk aus der Welt herausruft, ist mein Platz dann nicht außerhalb dieser Welt, anstatt mich in ihren Angelegenheiten zu verstricken und auf Segen zu hoffen, obwohl Gott das Gericht für sie vorgesehen hat? Wenn ich in weltlichen Bereichen Verantwortung übernehme, kann ich damit nicht das Schicksal von der Welt abwenden. Kein Mensch würde ein Haus streichen oder verschönern, dessen Fundamente völlig baufällig sind. Der bloße Versuch, die Welt zu verbessern, zeigt, dass ich nicht ihr Gericht erwarte. Damit nähre ich den Irrglauben, dass Frieden und Sicherheit bevorstehen und nicht die in Gottes Wort angekündigte Zerstörung. Wenn ich es wirklich gut meine, warne ich solche, die unmittelbar vor dem drohenden Abgrund stehen, anstatt sie durch meine Unterstützung bei ihren Verbesserungsmaßnahmen in falscher Sicherheit zu wiegen.
Man könnte jetzt meinen, das Ganze erschließe sich lediglich aus der Tatsache, dass die Kirche himmlischen Charakter hat. Gehen wir einmal der Frage nach, ob diese Schlussfolgerung durch das Wort gestützt wird, indem wir untersuchen, was sie über den Lebenswandel des Gläubigen sagt. Die ersten Jünger wurden ganz klar aufgefordert, die Ablehnung ihres Herrn zu teilen. „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf und folge mir nach“, sagt der Herr (Mt 16,24). Er selbst gab die Stellung irdischer Macht auf und nahm den Platz irdischer Verwerfung ein. Solange dies seine Haltung gegenüber der Welt ist, d. h. bis zur Errichtung seines Reiches in Herrlichkeit, besteht unsere Nachfolge darin, diesen Platz mit Ihm zu teilen, so wie Er seine Jünger dazu aufgefordert hat. Es handelt sich also nicht um eine bloße Vermutung, sondern um eine direkte und ausdrückliche Aufforderung. Das Kreuz war die Bestrafung für Schwerverbrecher und Sklaven – nicht nur ein grausamer, sondern auch schmachvoller Tod. Das Kreuz auf sich zu nehmen, bedeutete, einen Platz außerhalb der Welt einzunehmen, für die Welt ein Gegenstand von Hass und Verachtung zu sein. Dazu ruft der Herr seine Jünger auf. Das hörte mit seinem Tod auch nicht auf. Er sagt: „Wenn die Welt euch hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wenn ihr von der Welt wäret, würde die Welt das Ihre lieb haben; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum hasst euch die Welt. Erinnert euch an das Wort, das ich euch gesagt habe: Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort gehalten haben, werden sie auch das eure halten“ (Joh 15,18–20).
Das zeigt uns, was die ersten Jünger zu erwarten hatten. Heißt es irgendwo, dass sich die Welt geändert hat? Dass die Ausbreitung des Christentums solche Worte hinfällig gemacht hat? In den zuerst zitierten Versen verbindet sich der Herr mit seinen Nachfolgern in ihrer Verwerfung. Für wie lange? Es wird kein Zeitraum genannt, aber da Er beim Ausspruch dieser Worte seinen kirchlichen Charakter annimmt und den messianischen Charakter ablegt, ist es klar, dass die Zeit der Ablehnung seiner Nachfolger so lange dauern wird wie die Epoche der Versammlung. Als Messias wird Er erhöht werden und seine Nachfolger mit Ihm. Das ergibt sich aus dem anderen zitierten Abschnitt, wo zwei unterschiedliche Gruppen gegenüberstellt werden: die Welt und die, die „nicht von der Welt“ sind. Letzteren wird gesagt, dass sie von der Welt gehasst werden, wobei es hier um eine Grundhaltung, ein Prinzip geht, ohne Angabe darüber, wie lange dieser Zustand dauert. Es wird allgemein festgestellt, dass Gläubige „nicht von der Welt“ und deshalb Gegenstand des Hasses der Welt sind.
Ich gebe zu, dass die äußerlichen Zeichen dieser Feindschaft weitestgehend ausgelöscht sind. Religion ist weltlich geworden und die Welt ist religiös geworden. Christen haben ihre himmlische Berufung vergessen, lassen sich mit der Welt ein, werben um ihre Gunst, begehren ihre Stellungen, haben Teil an ihren Vergnügungen, verfolgen die gleichen Ziele. Die Welt hat sie unter ihre Fittiche genommen und belohnt sie. Aber ändert das etwas an dem Wort Gottes, wo es heißt, dass der Gläubige „nicht von der Welt“ ist? Dass die Welt hasst, was nicht von der Welt ist? Leider messen wir die Wahrheit Gottes an unserem eigenen Versagen! Da die Welt ein weltliches Christentum toleriert, denken wir, dass eine Versöhnung zwischen Christus und der Welt stattgefunden habe. Das ist jedoch nicht der Fall. Wenn es auch keine offene Gewalt zwischen der Welt und den Nachfolgern Christi gibt, beweist das keine Veränderung der Welt Ihm gegenüber, sondern nur die Lauheit derer, die seinen Namen bekennen. Die Schrift lehrt nicht, dass mit der Verbreitung des christlichen Bekenntnisses der Gegensatz zwischen wahren Gläubigen und der Welt abgeschwächt worden sei, sondern klagt die bekennende Kirche aufs Schärfste an, Hurerei mit den Königen der Erde getrieben zu haben. Der Handel zwischen der Kirche und der Welt ist Untreue Gott gegenüber. Die Freundschaft zwischen ihnen ist nicht etwa ein Zeichen dafür, dass sich die Welt dem Christentum zugewandt hat, sondern dass sich die Christen der Welt angepasst haben.
Wenn wir sehen, wie die Welt im Neuen Testament an allen Stellen beschrieben wird, erhalten wir eine eindeutige Sicht der Dinge. Wie wird sie denn dort geschildert? Sie wird unter zwei unterschiedlichen, dennoch miteinander verwandten Gesichtspunkten betrachtet:
- als der Platz, der Christus verworfen hat
- als ein organisiertes System mit Satan als Oberhaupt
Jeder wird wohl zugeben, dass Christus verworfen wurde, aber dass die Schuld dieser Verwerfung der Welt nach wie vor anhaftet und sie auch charakterisiert, ist eine Wahrheit, die meist völlig übersehen wird. Wir sind so daran gewöhnt, den Tod Christi von der Seite der Gnade Gottes zu betrachten, dass wir vergessen, ihn unter dem Aspekt seiner Regierungswege zu sehen. Wir sehen das Kreuz oft nur als Mittel, das die Sünde weggetan hat, und wenn ein Sünder Christus ablehnt, wird darin nur dessen persönliche Ablehnung des Errettungsangebots gesehen. Der Herr wird in der Schrift jedoch sowohl als Urheber der Errettung als auch als Gottes gesalbter Herrscher vorgestellt. In jedem dieser Charaktere bedeutet seine Ablehnung weitaus mehr als den Verlust persönlichen Segens. Es gibt einen positiven und einen negativen, einen kollektiven und einen individuellen Aspekt. Die Welt ist vor Gott schuldig geworden und kommt unter sein gerechtes Gericht. „Dies aber ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen haben die Finsternis mehr geliebt als das Licht, denn ihre Werke waren böse“ (Joh 3,19). Das sind die Worte unseres Herrn bezüglich des Gerichts, das die Welt über sich gebracht hat, indem sie Ihn verworfen hat. Nachher sagt Er in direktem Zusammenhang mit seinem Tod: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt“ (Joh 12,31). Sein Tod bringt den einen Errettung, den anderen Gericht, und zwar nicht nur Einzelpersonen, sondern der Welt als Ganzes. So sagt der Herr von dem Sachwalter: „Und wenn er gekommen ist, wird er die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht. Von Sünde, weil sie nicht an mich glauben; von Gerechtigkeit aber, weil ich zum Vater hingehe und ihr mich nicht mehr seht“ (Joh 16,8–10). Dabei geht es nicht um das Werk des Heiligen Geistes zur Umkehr eines Sünders, wie es oft verstanden wird. Die Gegenwart des Heiligen Geistes auf der Erde ist einerseits eine Überführung (Beweis) der Sünde für die Welt, weil sie Ihn verworfen hat, andererseits ist sie auch ein Zeugnis der Gerechtigkeit Gottes, indem Er Ihn zu seiner Rechten gesetzt hat, wo Er von dem fleischlichen Auge nicht mehr gesehen wird.
Die Welt hat das Gericht jedoch nicht nur aufgrund der Ablehnung Christi auf sich gezogen. Gott hatte seinen Sohn als seinen Gesalbten in diese Welt gesandt als gerechten Herrscher, und die Welt hat Ihn verworfen. Kann Gott dem gleichgültig gegenüberstehen? Im Gegenteil, es ist ein für Ihn überaus tiefgehender Moment. Gott sieht diese Welt als einen Ort, der schuldig geworden ist, indem sie seinen Sohn als rechtmäßigen Herrn abgelehnt haben. Diese Sichtweise erwartet Er auch von den Gläubigen. An Pfingsten verkündete Petrus Jesus als den Sohn Davids, dem „Gott ... mit einem Eid geschworen hatte, von der Frucht seiner Lenden auf seinen Thron zu setzen“. Die Juden hatten den Gesalbten Gottes „durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht“. Er schließt mit den Worten: „Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, dass Gott ihn sowohl zum Herrn als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (Apg 2,22–36). Der Vorwurf, der den Juden hier gemacht wird, ist nicht die Ablehnung des Erretters – zu ihrem persönlichen Verlust –, sondern sie werden angeklagt, Gottes Gesalbten verworfen zu haben, was das Gericht über sie als Nation bringt. Diese Schuld beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Juden. In einem der folgenden Kapitel gebraucht der Heilige Geist Worte aus Psalm 2, wo die Mächtigen der Erde „beraten miteinander gegen den HERRN und gegen seinen Gesalbten“. Diese Worte gelten sowohl für die Juden als auch für die Nationen, die Jesus verurteilten: „Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels“ (Apg 4,26.27). In beiden Abschnitten gründet sich die Anklage nicht auf die Ablehnung des Erretters, der als Licht in diese Welt kam, sondern auf die Verwerfung des Gesalbten Gottes. Kann man das denn auf die heutige Welt noch übertragen? Ganz gewiss kann man das, denn obwohl der Name Christi heutzutage von Millionen sogenannter Namenschristen beansprucht wird, wird Er jedoch nur von den wahren Gläubigen wirklich anerkannt. Seine Herrschaft wird seit jeher von der Welt praktisch geleugnet; mit anderen Worten, die Welt ist heutzutage in gleichem Maß der Ablehnung Christi schuldig, wie an dem Tag, wo sich Juden und Nationen zusammentaten, um Ihn zu kreuzigen.
Was ist demnach die Stellung eines Christen? Er untersteht dem, der von Gott zum rechtmäßigen Herrscher der Welt gesalbt wurde, dem die Welt jedoch nur Hass und Verachtung entgegengebracht hat. Kann der Christ gemeinsam mit der Welt dieses Erbteil regieren, das seinem Herrn zusteht, der hier jedoch außen vor gelassen wird? „Gehen wohl zwei miteinander, außer, wenn sie übereingekommen sind?“ (Amos 3,3) Können sie die Welt in Übereinstimmung miteinander regieren, wenn eine Seite die Rechte Christi anerkennt, die andere jedoch nicht? Lasst uns die Sache einmal anhand eines Gleichnisses betrachten, das die derzeitige Beziehung zwischen Christus und den Gläubigen auf der einen Seite und Christus und der Welt auf der anderen Seite sehr präzise darstellt. Der Herr Jesus ist der hochgeborene Mann, der „in ein fernes Land [zog], um ein Reich für sich zu empfangen und wiederzukommen“. Er hatte seine Interessen hier auf der Erde seinen Knechten anvertraut und ihnen gesagt: „Handelt, bis ich komme“. Seine Bürger und rechtmäßigen Untertanen (die Welt) aber „hassten ihn und schickten eine Gesandtschaft hinter ihm her und ließen sagen: Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Lk 19,12–14). Welcher Zustand charakterisiert demzufolge diese Bürger? Sie lehnen sich auf und haben deshalb das Gericht verdient. Wie lautete der Auftrag der Knechte? Sie sollten handeln, bis der Herr zurückkäme. Damit ist sicherlich nicht gemeint, dass sie sich mit den Bürgern zur Regierung der Stadt zusammentun sollten, dass sie Ämter und Befugnisse annehmen sollten an einem Platz, wo der Eine verworfen wurde und sie hiergelassen sind, seine Rechte zu bewahren.
Die Schrift zeigt uns jedoch noch einen anderen Aspekt der Welt. Sie hat nicht nur ihren rechtmäßigen Herrscher abgelehnt, sondern das Wort Gottes stellt sie uns als ein organisiertes System vor, mit Satan als Oberhaupt. Als der Teufel den Herrn Jesus auf einen hohen Berg führte, heißt es, er „zeigte ihm in einem Augenblick alle Reiche des Erdkreises“ und machte dann folgendes Angebot: „Dir will ich diese ganze Gewalt und ihre Herrlichkeit geben; denn mir ist sie übergeben, und wem irgend ich will, gebe ich sie“ (Lk 4,6). Natürlich erkennt der Sohn Gottes sein Herrschaftsrecht nicht an. Die Tatsache, dass Satan der Herrscher der Welt ist, stellt Er jedoch nicht in Abrede. Im Gegenteil, sie wird von Ihm an anderer Stelle bestätigt. Als Er von seinem Tod spricht, sagt Er: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt; jetzt wird der Fürst dieser Welt hinausgeworfen werden“ (Joh 12,31). Er sagt das im Blick auf die Resultate seines Todes, die als unmittelbare Folge betrachtet werden, in Wirklichkeit aber noch nicht vollständig erfüllt wurden. Wer ist der „Fürst dieser Welt“? Er selbst kann es nicht sein, denn kurz darauf sagt Er: „der Fürst der Welt kommt und hat nichts in mir“ (Joh 14,30). Er spricht auch von dem Heiligen Geist, der die Welt „von Gericht“ überführt, „weil der Fürst dieser Welt gerichtet ist“ (Joh 16,11). Der Fürst dieser Welt, von dem hier die Rede ist, ist nicht Christus, sondern jemand, der kein Teil mit Christus hat und von Ihm gerichtet und hinausgeworfen wird. Das kann nur Satan sein, der zuvor in der Gegenwart Christi seinen Anspruch auf diese Welt geltend gemacht hatte, ohne dass ihm widersprochen wurde.
Das Werk am Kreuz hat Satan nicht unmittelbar seinen Herrschaftsbereich entzogen; es hat auch nicht das sofortige Gericht über diese Welt gebracht oder alle Menschen zu Christus geführt. Auch nach dem Tod Christi hat Satan immer noch Macht. So schreibt Paulus, dass „der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat“ (2. Kor 4,4). Im Brief an die Epheser heißt es: „in denen ihr einst wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams“ (Eph 2,2) und etwas später: „Denn unser Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Fürstentümer, gegen die Gewalten, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern“ (Eph 6,12). Was ist denn die Finsternis dieser Welt? Christus ist das Licht und wer Christus ablehnt, ist von dem „Gott dieser Welt“ verblendet – das bedeutet Dunkelheit. Die Welt unterscheidet sich demnach von den Gläubigen, die „nicht von dieser Welt“ sind, mit Satan als ihrem Herrscher. Im Kolosserbrief sagt der Apostel, dass Gott „uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt hat in das Reich des Sohnes seiner Liebe“ (Kol 1,13). Wer die „Gewalt der Finsternis“ ist, haben wir in dem zuvor zitierten Vers gesehen. Die Gnade hat uns aus diesem Machtbereich gerettet, während die Welt, die nicht gerettet ist, immer noch Satans Macht untersteht. Johannes drückt es ähnlich aus: „Wir wissen, dass wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen“ (1. Joh 5,19). Das ist sehr ernst, denn es zeigt uns, dass Satan nicht nur große Macht in der Welt hat, sondern dass die Welt an sich aus Sicht der Schrift ein teuflisches System ist, mit Satan als ihrem Oberhaupt, Fürsten und Gott.
Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass diese Macht nicht absolut ist. Sie verhindert auch nicht Gottes Wirken gemäß seiner Vorsehung bzw. die Umsetzung seiner wunderbaren Regierungsabsichten. Bis zu welchem Grad Satan Macht ausüben kann, lässt sich vermutlich nur schwer sagen und ist auch hier nicht Gegenstand der Betrachtung. Zwei Dinge sind jedoch anzumerken:
- Seine Macht auf der Erde ist momentan durch die Gegenwart des Heiligen Geistes beschränkt, „nur ist jetzt der da, der zurückhält, bis er aus dem Weg ist“ (2. Thes 2,7).
- Sobald dieser Puffer nicht mehr da ist, wird seine ganze Boshaftigkeit hervortreten. Er wird unkontrolliert über die Erde herrschen können, die nun ganz unter seiner Herrschaft steht, denn er gibt dem Tier „seine Macht und seinen Thron und große Gewalt“ (Off 13,2).
Das wird nur eine kurze Zeit dauern und mit seiner Niederlage und Festnahme enden. Bis zu dieser Zeit wird die Macht Satans zwar eingeschränkt, die Schrift bezeichnet ihn jedoch als Gott und Fürst dieser Welt. Er ist es, der die Menschen antreibt, nach dem sich die Pläne der Menschen ausrichten und die nach seinen Gedanken handeln. Das kann er natürlich nur, weil es geduldet wird. Von wem? – von Gott! Ist es nicht eine zutiefst ernste und bedeutsame Tatsache, dass Gott die Herrschaft seines Sohnes über diese Erde zurückhält und zulässt, dass Satan diese einnimmt? Sollte das nicht eine eindringliche Warnung für jeden Gläubigen sein, sich auf die Dinge der Welt nicht einzulassen und nicht nach ihrer Gunst oder Zustimmung zu suchen? Was setzt Gott der Macht Satans entgegen? Die Gegenwart seines Geistes als Zeuge Christi. Können Christen etwa meinen, es besser zu wissen? Kann ein Christ glauben, er könne den Charakter der Welt durch eine Kursänderung, Verbesserungsstrategien oder durch Teilnahme an ihren Wahlen ändern? Sie von der Herrschaft Satans, der sie Gott überlassen hat, erlösen? Was ist weiser und ehrfürchtiger: sich um etwas zu bemühen, woran Gott keinen Anteil hat, von dem Er in seinem Wort sagt, dass es nur in schrecklichem Verderben enden kann, oder in Gemeinschaft mit Ihm zu leben, sich von der Welt und ihren Angelegenheiten fernzuhalten und in der Kraft des Geistes Christus zu verkünden, der als Einziger von der Welt und ihrem drohenden Gericht retten kann? Sollten wir nicht vielmehr ein Volk sammeln für Ihn, den Gott zu seiner Rechten gesetzt hat in Herrlichkeit und der zu seiner Zeit die Welt in Recht und Gerechtigkeit regieren und das Werk des Segens für die Welt vollkommen erfüllen wird?
Aber ging nicht unser Herr selbst aus, Gutes zu tun?, könnte man fragen. Und könnte man mit politischer Macht und Einflussnahme nicht viel Gutes in der Welt bewirken? So könnte man als Mensch argumentieren. Als Gläubige haben wir jedoch nicht die Aufgabe, zu argumentieren, sondern zu gehorchen. Wenn wir das Ganze etwas umfassender im Licht Gottes betrachten, stellen wir fest, dass ein Christ durch politisches Handeln nichts Gutes tun kann, denn das Ende, auf das alles hinausläuft, wird uns in der Schrift ganz klar vorgestellt. Es ist ein schreckliches Ende und kein gutes! Verlassen wir die Diskussionsebene und gehen zurück zur Schrift. Was lehrt uns denn das Wort dazu? Es besteht kein Zweifel daran, dass der Herr ausging, um Gutes zu tun, und es wird auch gesagt, dass Gläubige aus dem gleichen Grund in die Welt gesetzt sind, wozu Er gekommen war: „Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,18). Wie tat denn der Herr Jesus Gutes? Tat Er es, indem Er politischen Einfluss nahm? Oder mittels weltlicher Verbindungen und Vereine? Indem Er öffentliche Unterstützung suchte? Er, der als Einziger das Recht zu herrschen hatte, dessen Herrschaft Segen bringen konnte, lehnte weltliche Macht ganz und gar ab. Als der Teufel Ihm diese anbot, wurde er von Ihm als Verführer überführt und verurteilt. Ein anderes Mal wurde Er gefragt, eine Vermittlerstellung einzunehmen, woraufhin Er antwortete: „Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbteiler über euch gesetzt?“ (Lk 12,14). Als Er merkte, dass die Menschen „kommen und ihn ergreifen wollten, um ihn um König zu machen, zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein“ (Joh 6,15). Keiner hat so viel Gutes im Verborgenen getan wie Er. Die Zeit war jedoch noch nicht gekommen, wo die Erde öffentlich und planmäßig gesegnet werden würde. Er hatte den Herrscherstab noch nicht von dem empfangen, der allein berechtigt war, diesen zu verleihen, und würde ihn von keinem anderen annehmen. Wenn Ihm das Zepter nicht von seinem Vater gegeben werden würde, hätte Er es entweder von dem „Gott dieser Welt“ oder von dem Menschen annehmen müssen – von keinem der beiden, würde Er es jedoch annehmen. Kann deshalb ein Christ Macht von jemandem empfangen, von dem Christus sie abgelehnt hat? Oder wird Gott den Miterben Macht verleihen, während Er sie von Ihm, den Er zum Erben aller Dinge gesetzt hat, zurückhält?
Ist nicht alle Macht von Gott gegeben? Das ist ohne Frage der Fall. Die Regierung auf der Erde ist eine direkte Gabe Gottes. Jeder, der Regierungsgewalt ausübt, ist Gott für die Art und Weise, wie er das tut, verantwortlich. Der Erhalt von Frieden und Ordnung ist eine Einrichtung Gottes. Deshalb sollten Christen nicht nur der Regierung gehorchen, sondern sie auch respektieren und für die beten, die hohe Positionen einnehmen. Obwohl sie von Gott eingesetzt ist, ist ihre Verwaltung dem Menschen (der Welt) übergeben, einer Welt, die vom Bösen beherrscht wird. Die Zeit ist noch nicht gekommen, wo die Welt gemäß der Pläne Gottes regiert werden kann und Gottes Segensabsichten mit der Erde ausgeführt werden können. Das wird erst dann sein, wenn der Thron Christi in Zion errichtet wurde. Unter menschlicher Leitung wird diese Einrichtung jedoch dazu gebraucht, den schrecklichen Zustand, der den Gerichten Christi vorausgeht, herbeizuführen. Ganz gewiss wird ein wahrer Gläubiger keinen Anteil an der Beschleunigung dieser furchtbaren Katastrophe haben wollen.
Im Neuen Testament finden wir zwar viele Hinweise und Grundsätze über das Verhalten des Ehemanns gegenüber der Ehefrau und der Ehefrau gegenüber dem Ehemann, der Kinder gegenüber den Eltern und der Eltern gegenüber den Kindern, des Knechtes gegenüber seinem Herrn und des Herrn gegenüber seinem Knecht sowie über das richtige Verhalten gegenüber Autoritäten; es ist jedoch kein Hinweis auf das Ausüben politischer Macht zu finden. Das ist überaus wichtig! Ein Christ, der einer Autorität untergeordnet ist, erhält Anweisungen, wie er sich verhalten soll. Ein Christ, der politische Macht ausübt, bekommt hingegen keinerlei Verhaltensregeln mitgeteilt. Warum finden wir dazu nichts? Es stimmt, dass Christen zu der Zeit als das Neue Testament geschrieben wurde, nicht den Status hatten, politische Macht auszuüben. Aber wenn es Gottes Gedanke gewesen wäre, dass sie einmal verantwortungsvolle Positionen einnehmen sollten, hätte Er dann nicht auch entsprechende Belehrungen in Bezug auf die Ausführung dieses Amtes gegeben? Könnte es sein, dass dazu nichts gesagt wird, weil Er eine derartige Situation nicht bedacht hat, diese jedoch seine Zustimmung finden würde? Oder hat Er absichtlich alle diesbezüglichen Belehrungen weggelassen, da Er eine solche Stellung niemals gutheißen würde? Die Tatsache, dass Gläubige „nicht von der Welt“ sind, mit dem „Ausharren“ Christi in Verbindung gebracht werden, seine Miterben sind, denen Gott das Erbteil noch nicht zum Besitz gegeben hat, ist die einzige und vollkommene Erklärung für diese Auslassung. Es wäre in der Tat merkwürdig, wenn Er die Miterben Christi dazu ermächtigt und angewiesen hätte, den Zustand herbeizuführen, den sie in Kürze zusammen mit Christus richten und umstürzen werden!
Das ist alles umso bemerkenswerter, wenn man es der Lehre des Alten Testaments gegenüberstellt. Dort spricht Gott zu einem Volk, das nicht außerhalb der Welt ist, sondern dem in der Welt ausdrücklich die höchste Stellung und überreicher Segen verheißen werden. Sie erhalten umfassende Belehrungen über politische und rechtliche Verhaltensweisen, wie z. B. der Umgang mit besetzten Städten, Ausnahmen beim Militärdienst, erforderliche Anzahl der Zeugen in einem Strafprozess, Einrichtung und Zuständigkeit von Gerichtsbarkeiten für verschiedene Streitfragen, Bestrafung bestimmter Vergehen usw. All das wird präzise geregelt und dargelegt und passt somit zu dem weltlichen Charakter, zu dem es in Bezug steht. Wie zu erwarten, ist die Devise bei einer auf Gerechtigkeit fokussierten Regulierung der Gesellschaft die strikte Einhaltung des Rechts. Der Spruch „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ beschreibt diese Haltung sehr gut. In der Tat sollte dies der Verhaltenskodex für jede gerechte Regierung des Menschen auf der Erde sein.
Aber ist das die Verhaltensregel, die ein Christ befolgen sollte? Nein, denn der Gläubige ist „nicht von dieser Welt“ und die Belehrungen, die er bezüglich seines Verhaltens erhält, entsprechen seinem himmlischen Charakter und seiner Verbindung zu dem „Ausharren“ des Christus. Er folgt dem nach, der war „wie ein Lamm, das zur Schlachtung geführt wird“, „der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet“. Wie soll sich also der Gläubige verhalten? Genauso wie Er. „Wenn ihr ausharrt, indem ihr Gutes tut und leidet, das ist wohlgefällig bei Gott. Denn hierzu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten, euch ein Beispiel hinterlassend, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolgt“ (1. Pet 2,20–23). So lauten die Anweisungen des Herrn. Anstatt wie die Israeliten nach dem Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu handeln, sagt Er: „Widersteht nicht dem Bösen, sondern wer dich auf deine rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin; und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Untergewand nehmen will, dem lass auch das Oberkleid. Und wer dich zwingen will, eine Meile mitzugehen, mit dem geh zwei“ (Mt 5,39–41).
Starke Worte, die dennoch nicht symbolisch gemeint sind. Als sei der bloße Gedanke daran bereits erschreckend, ruft Paulus aus: „Darf jemand unter euch, der eine Sache gegen den anderen hat, vor den Ungerechten rechten und nicht vor den Heiligen?“ Es ist beschämend: „Es rechtet Bruder mit Bruder, und das vor Ungläubigen! Es ist nun schon überhaupt ein Fehler an euch, dass ihr Rechtshändel miteinander habt. Warum lasst ihr euch nicht lieber unrecht tun? Warum lasst ihr euch nicht lieber übervorteilen?“ (1. Kor 6,1–7). Stellen wir uns vor, das würde einem Juden gesagt! Es ist genau das Gegenteil des Prinzips, auf das die Regierungsinstitutionen seines Landes gegründet waren. Es wäre der Untergang jeglicher Vorstellung von einer gerechten Regierung. Warum wird es hier dennoch als beinahe selbsterklärendes Verhaltensprinzip für einen Gläubigen vorgestellt? Weil der Gläubige nicht von dieser Welt ist. Er gehört zu Christus. Sicher, er wird die Welt und Engel richten, aber das wird er mit Christus tun, und wenn Christus auf diesen Moment wartet, so muss auch der Gläubige warten. Er kann seine Rechte nicht jetzt wahrnehmen, sondern ist aufgefordert, Unrecht in Geduld zu ertragen, wie Christus es tat. Er soll nicht „Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort“ vergelten, sich nicht selbst rächen, sondern „Raum dem Zorn“ geben (1. Pet 3,9; Röm 12,19). Ist es nicht traurig, wenn ein Gläubiger seine erhabene Stellung und himmlische Verbindung, in die er berufen ist, verlässt, um die Angelegenheiten einer Welt zu regeln, in der Christus keinen Platz hat und deren Gott und Fürst Satan ist? Der Apostel sagt: „Denn unser Bürgertum“, d. h. Gemeinwesen, Bürgerrecht, „ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten“ (Phil 3,20).
In der Nacht, in der die Israeliten aus Ägypten befreit werden sollten, wurde ihnen geboten, das Passah unter dem Schutz des Blutes am Türrahmen einzunehmen. „Und so sollt ihr es essen: eure Lenden gegürtet, eure Schuhe an euren Füßen und euren Stab in eurer Hand. Und ihr sollt es essen in Eile. Es ist das Passah des HERRN“ (2. Mo 12,11). Konnte ein Volk, das auf den Aufruf wartete, diesen Ort zu verlassen, den Angelegenheiten Ägyptens noch ihre Zeit und Aufmerksamkeit widmen? Hatten sie nicht gehört, dass das Gericht kommen würde? Glaubten sie nicht den Worten des Herrn: „Und ich werde in dieser Nacht durch das Land Ägypten gehen und alle Erstgeburt im Land Ägypten schlagen vom Menschen bis zum Vieh, und ich werde Gericht üben an allen Göttern Ägyptens, ich, der HERR“ (Vers12)? Ist unsere Stellung weniger beachtenswert und weniger wichtig? Sind die Gebote an uns weniger bindend? Ist das Gericht, das über der Welt droht, weniger real, weniger schrecklich oder weniger sicher eintreffend? Die Gebote lauten gleich. Den treuen Dienern sagt Er: „Eure Lenden seien umgürtet und die Lampen brennend; und ihr, seid Menschen gleich, die auf ihren Herrn warten“ (Lk 12,35.36). Das drohende Gericht über die Untreuen und die Welt ist ebenfalls identisch: „Wenn du nun nicht wachst, so werde ich kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich über dich kommen werde“ (Off 3,3). Wenn es für einen Israeliten vollkommen unnatürlich gewesen wäre, sich in dieser verheerenden Nacht mit den Belangen des Landes zu beschäftigen, über dem bereits der Arm des Gerichts drohend erhoben war, ist es dann weniger unnatürlich, wenn wir unseren wahren Platz verlassen? Ist es nicht genauso unvereinbar mit unserer himmlischen Bestimmung, wenn wir uns mit den Angelegenheiten einer Welt beschäftigen, in der wir lediglich Fremde bzw. Gäste sind – einer Welt, aus der wir jeden Moment herausgerufen werden können und über der bereits die dunklen Wolken des herannahenden Gerichts hängen?
Kein Wunder, dass der Apostel seine praktischen Ermahnungen an die Römer mit den Worten beginnen lassen sollte: „Seid nicht gleichförmig dieser Welt“ (Röm 12,2). Das Wort „Welt“ meint eigentlich „Zeitlauf/Zeitalter“ und bezeichnet die Welt in ihrem derzeitigen Zustand, im Gegensatz zu dem „kommenden Zeitalter“ des Segens Christi. Während es wichtig ist, zwischen der „Vollendung des Zeitalters“ und dem „Ende der Welt“ – zwei völlig unterschiedliche Epochen – zu unterscheiden, müssen die Begriffe „Welt“ und „Zeitalter“ nicht unterschieden werden, sofern sie gebraucht werden, um den Zustand zu beschreiben, in dem wir momentan leben. In diesem Zusammenhang ist das Wort „kosmos“, das man generell bei Johannes findet, praktisch synonym zu dem Wort „aion“, das der Apostel Paulus in seinen Briefen verwendet. Warum soll der Gläubige nicht gleichförmig mit der Welt sein? Dafür gibt es zwei Gründe:
- Die Welt ist böse und der Herr Jesus ist gestorben, um uns zu befreien: „Der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters“ (Gal 1,4).
- Indem wir mit Christus in Tod und Auferstehung verbunden sind, sind unsere Beziehungen zu der Welt abgebrochen. Wir rühmen uns nun „nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14).
Welchen Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart gab es im Leben der Gläubigen aus Ephesus? „In denen ihr einst wandeltet nach dem Zeitlauf dieser Welt, nach dem Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams“ (Eph 2,2). Es liegt eine ernste Belehrung für uns darin, dass hier Gleichförmigkeit mit der Welt gleichgesetzt wird mit Gleichförmigkeit mit dem Willen Satans. Genauso ernst und tiefgründig ist die Beschreibung derer, „deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische sinnen“ (Phil 3,19). Der Gläubige ist mit Christus auferstanden und wird daher ermahnt: „Sinnt auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist“ (Kol 3,2).
Das ist also das Wesen der Welt, wie es Paulus in seinen Briefen beschreibt. Die Welt ist ein Gegenstand, mit dem wir nicht konform sein sollten. Christus hat uns durch seinen Tod von ihr erlöst, wir sind der Welt gekreuzigt und sie ist uns gekreuzigt. Gottlose wandeln in den Wegen der Welt und die ihr Beachtung schenken, werden beschrieben als solche, „deren Ende Verderben“ ist. Wir sollten unsere Zuneigung von der Welt abwenden und auf himmlische Dinge richten. Dem Apostel Paulus war es in besonderer Weise gegeben, die Wahrheit über die Kirche vorzustellen, diese Belehrung ist daher besonders charakteristisch. Es ist jedoch nicht nur Paulus, der uns die Inkompatibilität zwischen der Welt und dem Gläubigen vorstellt. „Ihr Ehebrecherinnen“, fragt Jakobus „wisst ihr nicht, dass die Freundschaft der Welt Feindschaft gegen Gott ist? Wer nun irgend ein Freund der Welt sein will, erweist sich als Feind Gottes“ (Jak 4,4). Und was machen Christen stattdessen? Sie werben um die Gunst der Menschen, den Beifall der Massen, wollen Freunde der Welt sein, die für ihren Herrn nur das Kreuz bereithielt. „Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm; denn alles, was in der Welt ist, die Lust des Fleisches und die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens, ist nicht von dem Vater, sondern ist von der Welt“ (1. Joh 2,15.16). Was für eine traurige Entgegnung auf diese göttliche Lektion, wenn man sieht, wie sich Christen mit größtem Eifer in die Konflikte weltlicher Parteien einmischen, wie sie nach Reichtum und Vergnügen, Glanz und Prunk, Macht und Anerkennung einer sündigen Welt streben, die von Satan regiert wird und dem Untergang geweiht ist. Einer Welt, von der sie sich unbefleckt erhalten und deren Freundschaft sie nicht suchen sollten!
Warum ist das so? Weil Christen das Bewusstsein ihrer himmlischen Berufung abhandengekommen ist. Im Glauben, dass Gott die Welt verbessern wird, denken sie, es sei ihre Aufgabe, die Welt zu verbessern, anstatt sich von ihr abzusondern. Sie meinen, sie könnten es besser machen, indem sie sich mit ihr vermischen und sehen nicht, dass nur darin Segen liegt, sich von der Welt zu trennen und sie vor dem kommenden Zorn zu warnen. Sie begeben sich in ein ungleiches Joch mit Ungläubigen, machen mit beim Wetteifern um modernen Fortschritt, dem „Gott“ unserer Tage. Dabei vergessen sie, dass die Welt, mit der sie an einem Strang ziehen, im Bösen liegt und stellen sich nie die Frage: „Welche Genossenschaft haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial?“ (2. Kor 6,14.15). Wüssten sie doch nur, dass der Fortschritt der Moderne zu den ganzen Schrecken und Gerichten führen wird, die bereits jetzt jederzeit wie ein gewaltiges Unwetter über die Welt hereinbrechen können. Sie interpretieren z. B. diese Bitte des Herrn „Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt wegnehmest, sondern dass du sie bewahrest vor dem Bösen“ (Joh 17,15) als Erlaubnis dafür, sich mit der Welt einzulassen, vorausgesetzt sie meiden offensichtlich Böses. Dabei lassen sie außer Acht, dass der nächste Vers ganz deutlich sagt, dass sie „nicht von dieser Welt“ sind, dass das Neue Testament durchweg zeigt, wie böse die Welt ist und wie feindlich sie Christus gegenübersteht. Sie bedenken nicht, dass es mehr als offensichtlich ist, dass ein Volk, das nicht zu dieser Welt gehört, aber in ihr zurückgelassen wird, am sichersten vor dem Bösen dieser Welt bewahrt wird, wenn es die Verbindung mit ihr meidet, von ihren Zielen Abstand nimmt und ihre Freundschaft ablehnt.
Lasst uns einmal den Text im Zusammenhang betrachten und den gesamten Abschnitt lesen. „Jetzt aber“, sagt unser Herr, „komme ich zu dir; und dieses rede ich in der Welt, damit sie meine Freude völlig in sich haben. Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt wegnehmest, sondern dass du sie bewahrest vor dem Bösen. Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt“ (Joh 17,13–18). Wir haben die gleiche Beziehung zu der Welt, wie Christus sie derzeit hat. Wir sind genauso dem Wesen nach von ihr getrennt, wie Er es ist. Wir leben zwar noch in dieser Welt, so wie Er in ihr gelebt hat, aber da Er nicht versuchte, sie durch menschliche Anstrengung, politische Organisationen, philanthropische Vereine oder irgendwelche anderen fleischlichen bzw. weltlichen Mittel zu verbessern, ist das auch nicht unsere Aufgabe. Er kam, um vom Vater zu zeugen, den Vater zu offenbaren und Zeugnis von dem zu geben, der Ihn gesandt hatte. Er hat verkündet, dass das Fleisch hoffnungslos verdorben ist und hätte niemals fleischliche Mittel zur Verbesserung fleischlicher Dinge benutzt. Der Versuch, genau das zu tun, zeigt nichts anderes als die Missachtung der Wahrheit und des Wirkens Gottes. Es beweist, dass wir noch nicht verstanden haben, wie der Mensch ist und dass in uns, d. h. in unserem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Sicher können wir die Welt angenehmer machen, wir haben vielleicht auch unsere „Jubals“, „die mit der Laute und der Flöte umgehen“, oder unsere „Tubalkains“, „Hämmerer von allerlei Schneidewerkzeug aus Kupfer und Eisen“ (1. Mo 4,21.22); wir mögen essen und trinken, kaufen und verkaufen, pflanzen und bauen, aber was ist das Ende von alldem? Plötzliche Vernichtung! Sind das also die Dinge, die das Herz eines Christen beschäftigen sollten, wo er doch das Kommen des Herrn erwarten sollte? Liegt nicht eine unsagbare Tragik in den Geschichten von Verurteilten, die von Kopf bis Fuß nach der neusten Mode gekleidet zur Hinrichtung gingen? Und ist es nicht ungleich furchtbarer und schrecklicher zu sehen, wie diese Welt sich selbst betrügt mit ihrem raffinierten, modernen Gedankengut, intellektuellen Ideen und Verbesserungen, mit ihren hochtrabenden Zielen und Absichten, womit sie sich einen Namen machen wollen? Einen Turm wollen sie bauen, der bis zum Himmel reicht, während das Gericht Gottes jeden Augenblick wie ein Blitz auf sie herniederfahren kann, das die Welt in Schutt und Asche legt.
Warum haben wir so ausführlich betrachtet, was die Schrift zu diesem Punkt lehrt? Einfach um zu zeigen, dass die Kirche nicht bildlich, sondern wörtlich etwas ist, das getrennt von der Welt ist. Die Belehrungen, die dem einzelnen Gläubigen gegeben werden, entsprechen in jeder Hinsicht dem, was wir in den vergangenen Kapiteln über das Wesen der Kirche festgestellt haben. Sie malen ein deutliches Bild von dem himmlischen Charakter unserer derzeitigen Berufung. Diesen himmlischen Charakter sollten wir in der Welt und gegenüber der Welt zeigen. Dazu fordert Gott uns auf und das entspricht auch dem würdigen Wandel gemäß der Berufung, mit der wir berufen wurden. Was aber wird die Folge davon sein, wenn wir das zeigen und uns am Beispiel Christi orientieren? Da diese Tugenden „nicht von der Welt sind“, wird die Welt uns hassen. Der Unterschied zwischen der Langmut, Freundlichkeit, Liebe, Barmherzigkeit und Selbstlosigkeit Christi und dem (mühevollen) Streben danach, die Menschheit zu verbessern und ihren Wohlstand zu fördern, könnte nicht größer sein. Der eine zieht den Hass der Welt auf sich, der andere erntet ihren Beifall. Der eine bringt den Menschen wahren Segen, indem er ihnen Christus vorstellt, der andere bläht den Menschen mit seinen Gedanken der Selbstverbesserung nur auf. Er ist geblendet und erkennt seinen wahren Zustand aus der Sicht Gottes nicht. Der eine verherrlicht Gott, indem er Ihn als alleinigen Gegenstand vor die Herzen stellt, der andere handelt entgegen den Gedanken Gottes, indem er sich zum Ziel gesetzt hat, Wohlstand für die Menschen zu bewirken. Dies tut er jedoch zu einer Zeit, in der Christus, die einzige Quelle des Segens, von der Welt getrennt ist und ein Volk herausgerufen hat, das mit Ihm diese Absonderung teilt. Der eine braucht das Gericht nicht zu fürchten und weist die Menschen auf die einzige Zuflucht vor dem Sturm des Gerichts hin; der andere verschließt Augen und Ohren vor den Zeichen der Zeit und dem Grollen des herannahenden Sturms. Er ermutigt die Menschen, eigene Pläne zu verfolgen, eigene Verbesserungen durchzusetzen, eigene Erfindungen voranzubringen als sei der kommende Zorn nichts als bloßes Märchenerzählen.
Fußnoten
- 1 (Theologie) Lehre, die die Bindung an das [besonders alttestamentliche] Sittengesetz leugnet und die menschliche Glaubensfreiheit und die göttliche Gnade betont.