Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 141
Im Gleichklang mit anderen Psalmen sucht der Betende Zuflucht bei dem HERRN und bittet dringend um Gehör. Dabei ist ihm sehr wichtig, dass seine innere und äußere Haltung Gott angenehm ist, damit die flehenden Worte Sein Wohlgefallen finden und als geistliches Räucherwerk und Abendopfer gelten können (Verse 1 und 2; Ps 19,15; 104,34; 2. Mo 29,38ff; 30,7; Spr 15,8; 1. Pet 2,5; Off 5,8; 8,3). Er möchte in ständiger Gemeinschaft mit Gott leben. Er will nicht, dass etwas Störendes zwischen ihn und Gott tritt. Offenbar kennt er seine persönlichen Schwächen und bittet den HERRN, dass Er ihn vor unangemessenen oder gar unwahren Worten bewahren möge (Vers 3; Ps 39,2; Jak 3,8). Bedingungslos unterwirft er sich dem göttlichen Urteil, auch wenn es einen erheblich strengeren Maßstab anlegt als das Rechtsempfinden der Menschen. Damit der Dichter diese Vorsätze verwirklichen konnte, musste Gottes Gnade ihm zu Hilfe kommen. Gott erwartet, dass der Beter im Glauben vor Ihn hintritt und seine Bitten in geistlicher Weise vorbringt und dass er dabei in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen ist (Pred 5,1–6).
Im Unterschied zu anderen Psalmen haben die hier vorgebrachten Bitten nicht Abwehr von Feinden oder körperliches Leiden zum Gegenstand. Im Blickfeld stehen Schäden, die einer bedrückten Seele drohen, wenn vielerlei Widerwärtigkeiten auf sie einstürmen. Dann werden innere Anfechtungen leicht zu einer größeren Gefahr als die äußeren. In solcher Lage ist man gereizt und neigt dazu, unwillig und unbeherrscht zu reagieren und eine überzogene Ausdrucksweise zu gebrauchen. (1. Pet 3,9f). Der Psalmdichter weiß um verkehrte Neigungen in seinem Innern, die ihn sogar zu Gottlosigkeiten verleiten können. Wenn er sich, von schwierigen Umständen bedrängt, unter schlechten Einfluss begäbe, könnte er unversehens in eine böse Sache verstrickt werden (Vers 4; Spr 4,23). Von drückenden Sorgen belastet, könnte er sich falscher Mittel oder Personen bedienen, mit denen er als Gottesfürchtiger nicht verbunden sein darf (Ps 16,4). Unter starker Anspannung leidet auch die Achtsamkeit; es mangelt daran, in Ruhe zu „prüfen, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist“ (Röm 12,2). Wir sollen, „die weltlichen Begierden verleugnend, besonnen und gerecht und gottselig leben in dem jetzigen Zeitlauf“ (Tit 2,12). Dann wird man nicht den Weg wählen, der am schnellsten zu dem begehrten Erfolg führt, und erst recht nicht, wenn diese Unternehmung durch Männer von üblem Ruf empfohlen wurde (Vers 4a). Um des Herrn willen lehnt man es ab, sich solcher Leute zu bedienen und sich ihre „Leckerbissen“ zu verschaffen (Vers 4b; Ps 28,3). Ein wachsamer Gottesfürchtiger zieht es vor, eher Schaden zu erleiden, als mit gottlosen Leuten gemeinsame Sache zu machen. Die Heilige Schrift berichtet von vorbildlichen Gläubigen, die trotz vielversprechender Aussichten die Abhängigkeit von Gott und die Gemeinschaft mit Ihm einem falschen Weg vorgezogen haben (Hiskia in Jes 37,15–20; Daniel in Dan 1,8; Heb 11,24–38). So litt ihr Gewissen keinen Schaden, ihr Zeugnis als Gläubige blieb eindeutig und ihr Vertrauen galt dem Herrn allein (Vers 8; Ps 25,15, 123,1.2). Davon berichtet auch die Geschichte des Christentums. Im Glaubensgehorsam entschieden sich die ersten Christen dazu, nicht den leichtesten Weg vorzuziehen, sondern schweres Leiden zu durchstehen. Sie waren überzeugt, dass die Belohnung ihres Glaubens von unvergleichlich höherer Art und weit wertvoller sein werde als alles, was auf der Erde zu erreichen ist (Heb 11,13–16).
Von einem Gerechten durfte der Psalmdichter ein zutreffendes Urteil und gerechtes Handeln erwarten (Vers 5). Eine angebrachte Rüge und die Schläge eines Gerechten wollte David daher ohne Klage über sich ergehen lassen; einer angemessenen Züchtigung wollte er sich nicht entziehen. Daraus konnte ihm kein Schaden entstehen; es konnte zu seiner Erziehung sogar nützlich sein (Spr 9,8f, 25,12). Zu einer Auseinandersetzung mit dem, der ihn schlug, wollte er es nicht kommen lassen. Was ihm zugefügt wurde, durch wen und in welcher Weise dies auch geschah, stellte er im Gebet Gott anheim und nahm es als eine Fügung an, die ihm dienlich war (Vers 5b; Mt 5,44; 1. Kor 4,12). Wenn aber solche, die gegen ihn auftraten, gegen Gottes Willen in boshafter Weise handelten, dann würde Gott ihr Richter sein. Wenn Gott sie mit Unglück und Tod bestrafte, dann wollte er dies nicht als die verdiente Folge begrüßen, noch sich triumphierend darüber freuen (Vers 6). Er war gewohnt, solche Dinge Gott ganz zu überlassen. „Mein Recht ist bei dem HERRN und mein Lohn bei meinem Gott“ (Jes 49,4b). Er war bereit anzuerkennen, dass die Not, die sie ihm bereitet hatten, seiner inneren Förderung nützlich gewesen war. Ergebenheit in Gottes Wege, Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit kennzeichneten seine Haltung. „Denn du hast mich emporgehoben und hast mich hingeworfen“ (Ps 102,11). „Rette mich nach deiner Güte, damit sie wissen, dass dies deine Hand ist, dass du, HERR es getan hast“ (Ps 109,26f). Bei allem blieb Davids Reden maßvoll und sein Handeln besonnen und demütig. Das entspricht der Aufforderung des Neuen Testaments: „Habt Acht auf euch selbst!“ (Lk 17,3). In lauterer Gesinnung hielt er an den guten Grundsätzen fest, obwohl die Umstände, in die er gekommen war, äußerst hart waren. Er hatte sich und die Seinen schon als Todgeweihte betrachtet; sie hatten am Rande des Todes gestanden und wurden beinahe ins Grab hinabgestoßen (Vers 7). Doch ihre Seelen, ihr Leben, war in Gottes Hand. Unter Gebet blieben sie nahe bei Gott, und im Aufblick zu Ihm bekamen sie die Kraft zum Ausharren (Vers 8; Jes 26,9.19).
Das Vertrauen des Dichters auf die Hilfsbereitschaft Gottes war nicht leicht zu erschüttern; unbeirrt bat er um Bewahrung vor dem Zugriff der Verfolger (Vers 9; 119,110; 140,6.9; 142,4). In der Gerichtszeit, die in der Zukunft über diese Erde kommt, wird vor aller Augen offenbar werden, dass die Treuen, die im Glauben ausgeharrt haben, den Schlingen der Feinde und der Todesgefahr entkommen werden, wobei man natürlich beachten muss, dass auch viele Gerechte getötet werden. Sie werden dann aber als Auferstandene an der Herrlichkeit des Reiches teilnehmen. Diese Geretteten sind es, die fortan in ewiger Freiheit und Glückseligkeit in der Gegenwart des HERRN sein werden. Ihre wunderbare Rettung und ihre herrlichen Segnungen sind ein offenkundiger Beweis der Gerechtigkeit und Treue Gottes, und ihr Überleben bzw. Auferstehen bestätigt die Wahrheit der göttlichen Verheißungen. Für die Gottlosen dagegen gibt es kein Entrinnen aus den Fängen des Teufels. In dessen Netze hatten sie sich bedenkenlos hineinbegeben. Sie erwartet eine ewige Strafe. Aber die Gottesfürchtigen leben als Gerettete in ewigem Frieden. Ihre bleibende Freude ist es, die Herrlichkeit des HERRN zu schauen. Dies genießen sie als Fortsetzung der Freude an Ihm, die sie in der Gemeinschaft mit Ihm bereits auf der Erde kennengelernt haben. Mit Dankbarkeit dem Herrn gegenüber blicken sie auf die hinter ihnen liegende Not und Gefahr zurück (Vers 10; Hiob 11,16; Ps 7,10f; 2. Kor 4,17). Die Hand Gottes hat sie erlöst und bewahrt und Seine Liebe hat sie zu sich gezogen. Ihre ewige Segnung gibt ihnen viel Höheres und Besseres als das, was ihnen in diesem Zeitlauf gemangelt hat.