Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 137
Der Dichter beschreibt seine Empfindungen als Heimatloser. Mit vielen anderen Juden, den vom „Schwert Übriggebliebenen“ (2. Chr 36,20), war er aus seiner Heimat vertrieben worden. Besiegt und aus ihrem Land in die babylonische Gefangenschaft weggeführt, hatten die Juden als Volk und Staat aufgehört zu existieren. Fortan mussten sie mit ungewisser Zukunft „auf fremder Erde“ leben (Vers 4). Sie empfanden es als besonders schmerzlich, dass Jerusalem und der Tempel zerstört waren. Obgleich das Leben an den Flüssen Babels durchaus manche Annehmlichkeiten bot, die Jerusalem und seine Umgebung nicht aufzuweisen hatte, wollten die heimatvertriebenen Juden zumindest die Erinnerung an ihr angestammtes Land mit Jerusalem und Zion bewahren. Wenn sie an den Gewässern Babels saßen, um von harten Pflichten Abstand zu gewinnen, wanderten ihre Gedanken zurück nach ihrer Heimat Judäa. Äußerlich zur Ruhe gekommen, wurde ihnen ihr Schicksal bewusst. Der Aufenthalt in der Fremde war ihnen aufgezwungen, und es bestand keine Hoffnung auf Rückkehr. Mit Wehmut erinnerten sie sich des Guten, das sie mit ihrer Heimat verloren hatten. Von Trauer übermannt, weinten sie. Niemals würden sie in Babel heimisch werden. Mit den Bewohnern Babylons fühlten sie sich nicht verbunden. Noch weniger wollten sie sich mit ihnen vermischen oder mit ihnen verwechselt werden. Nie würden sie dort wirkliches Verständnis finden für ihre Bundesbeziehung zu dem HERRN, dem allein wahren Gott, und ebenso wenig für ihre Liebe zu Zion, dem Ort des nun zerstörten Tempels mit der Gegenwart des HERRN. Vergleichbar Gutes für die Seele besaß Babylon mit seinem ausgeprägten Götzendienst nicht im Entferntesten. Die Babylonier dachten, redeten, empfanden anders und verfolgten andere Ziele als sie.
Doch offensichtlich gab es Gelegenheit zur Rückbesinnung für die geplagten Gefangenen (Vers 1; Klgl 3,48ff; Hes 1,3). Bei gedrückter Stimmung sind Musikinstrumente und Gesang kaum hilfreich, da sie die Gefühle nur noch mehr erregen, die Wehmut vertiefen und das Leid verschlimmern. Geistliche Kraft ist daraus nicht zu schöpfen, die Seele bleibt leer. Es ist gut zu verstehen, dass die Weggeführten ihre Lauten an die Weiden hängten und sich ihrer Trauer hingaben (Vers 2; Spr 25,20). Ein Trauernder reagiert besonders empfindlich, wenn er beiseitegelegte Gegenstände, wie hier die Laute, wieder zur Hand nimmt, die ihn an bessere Tage in der Vergangenheit erinnern und von verlorenem Glück und Frieden sprechen. Für solch schwere Stunden empfiehlt Jak 5,13: „Leidet jemand unter euch Trübsal? Er bete“. Der Herr ist „bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15). Unter vielen Entbehrungen in fremdem Land wurde den Juden bewusst, welche unersetzlichen Werte sie mit Zion als geistlichem Zentrum der gemeinsamen Gottesdienste verloren hatten, und beklagten den Verlust. Unter der züchtigenden Hand Gottes hatten sie Einsicht gewonnen. Nun durften sie im Glauben darauf rechnen, dass Er Sich ihrer erbarmte (Jes 14,1–6; 40,1.2).
Ihre Niedergeschlagenheit wurde noch dadurch verstärkt, dass ihre Unterdrücker und Peiniger sie aufforderten: „Singt uns eins von Zions Liedern!“ (Vers 3). Für die Juden war das eine Zumutung, die sie beinahe als eine Verhöhnung empfinden mussten. Es widerstrebte ihnen, zur Belustigung der Gottlosen „ein Lied des HERRN“ vorzutragen (Vers 4). Dieses Ansinnen kam einer Herabsetzung gleich, es war eine Vorführung ihrer Ohnmacht. Die Aufforderung der Sieger musste ihnen auch als eine Verunglimpfung des HERRN erscheinen, der in der Einbildung der Babylonier ihren heidnischen Gottheiten unterlegen war. Denn nach der Auffassung der babylonischen Machthaber hatte der Gott der Juden seinem Volk nicht zum Sieg verhelfen können. Der darin liegende Hohn führte ihnen ihre desolate Lage auf schmerzliche Art vor Augen. Die Babylonier mochten den musikalischen Genuss als eine kulturelle Darbietung seitens der Juden gelten lassen und sogar schätzen, wie auch in heutiger Zeit Kirchenmusik von Ungläubigen als Kulturgut eingestuft wird. Eine gute Darbietung christlicher Musik eignet sich zum Vorzeigen, aber an der inneren Beziehung zu dem Vorgetragenen mangelt es oft. Zugleich handelte es sich hier um einen Missbrauch göttlicher Dinge und des Namens Gottes. Eine bittere Kränkung war es für fromme Juden auch deshalb, weil sie „auf fremder Erde“ (Vers 4) durch den gesungenen Text die Liebe und die Allmacht des HERRN, ihres Bundesgottes, der das Volk und Land Israel erwählt hatte, zum Ausdruck gebracht hätten. Darum weigerten sich die Unterjochten, der Siegerlaune der über sie Herrschenden zu entsprechen (Vers 4).
Die gottlosen Heiden konnten sich keine Vorstellung davon machen, was der jüdische Gottesdienst und die Stadt Jerusalem für die Gefangenen bedeuteten. Doch ihr beleidigendes Ansinnen wurde den Juden zu einem Ansporn, das Verlorengegangene um keinen Preis aus dem Auge zu verlieren. Offenbar hatten die Einsichtigen unter ihnen inzwischen erkannt, dass sie wegen der Geringschätzung ihrer Vorrechte und des wahren Gottesdienstes nach Babel weggeführt worden waren. Denn dies hatte ihnen die Heilige Schrift als Folge ihrer Gleichgültigkeit und Uneinsichtigkeit vorausgesagt. Wenn sie nun den gleichen Fehler wiederholt hätten, indem sie weiterhin die Gnadengaben des HERRN und ihre Vorrechte als Sein Bundesvolk verachtet hätten, dann hätten sie noch härtere Zuchtmaßnahmen zu erwarten gehabt. Würde jetzt wieder eine Neigung zur Gleichgültigkeit aufkommen, dann sollten ihre Hand und ihre Zunge ihnen den Dienst versagen. In der Tat hatten sie nun eine echte innere Kehrtwendung vollzogen; dies bestätigen die Verse 5 und 6 (Jer 51,50). Nichts in ihrem Leben sollte eine höhere Rangstufe haben als das dem HERRN wohlgefällige treue Gedenken an Jerusalem, selbst dann, wenn es zerstört daniederlag. Ihre Worte in Vers 6 beweisen die wieder aufgelebte Wertschätzung und ihren Glauben an die Zusagen des HERRN. Nicht lange danach wurde ihre innere Erneuerung belohnt, als entsprechend den Vorhersagen der Propheten Babel besiegt und zerstört wurde. Jerusalem dagegen wurde wieder aufgebaut. Es erwies sich, dass die Orte des Götzendienstes und der weltlichen Freude keinen Bestand haben. Im Unterschied zu ihnen ist Zion und Jerusalem, der Stadt des wahren Gottesdienstes, der ewige Bestand zugesichert (Ps 48,9; 102,14; Dan 9). An dem Erleben und an der Haltung jener Frommen wird deutlich, wie der Glaube durch die Widerstände in feindlicher Umgebung auf die Probe gestellt wird und auflebt. Durch die Auseinandersetzung mit dem überall anzutreffenden Unglauben geübt und angespornt, konzentriert sich der Glaube auf das Unsichtbare und besinnt sich auf den Wert des Heiligen, das Gott gemäß ist. Er bewährt sich in der Gegensätzlichkeit gegenüber der Nichtigkeit des vergänglichen Weltlichen. Keinesfalls wollten sich die frommen Juden der sie umgebenden Welt anpassen. Sie wollten das Heilige nicht den Hunden geben (Mt 7,6).
Die Verse 7 bis 9 kündigen den Edomitern und den Bewohnern Babels Strafgerichte an. Schon Mose hatte vorausgesagt, dass der HERR nach einer echten Umkehr Israels die Flüche, die zunächst zu Recht über sie gekommen waren, auf ihre Feinde und ihre Hasser legen würde, um sie für ihre gräulichen Untaten an Seinem Volk zu bestrafen (5. Mo 30,7). Die Verbrechen an den Juden und anderen Völkern geraten nicht in Vergessenheit, sondern erhalten am Gerichtstag die gerechte Strafe von Gott, der gesagt hat: „Mein ist die Rache und die Vergeltung“ (5. Mo 32,35; Jer 50,17f.28f; 51,24). Angesichts des Furchtbaren, das die weggeführten Juden erlitten hatten, ist zu verstehen, dass der Psalmdichter hier die Empfindungen der gefangenen Juden ebenso unverblümt und ohne Scheu mitteilt, wie er zu Anfang ihr schreckliches Leiden beklagt hatte (Vers 9; Jes 13,16). Es geht dem Dichter darum, dass die Überhebung der Feinde Gottes und ihre Gräueltaten bestraft werden und dass sich die Macht des allein wahren Gottes offenbart.
Mit Schadenfreude hatten die Edomiter die völlige Niederwerfung der Juden und Jerusalems verfolgt. Zudem hatten sie diese Gelegenheit zu Plünderungen benutzt. Sie hatten wehrlose Flüchtlinge ermordet oder der Versklavung ausgeliefert (Ps 83,5–9; Klgl 4,21f; Hes 25,12–14; 35,1–15; Obad 1; 10–15). Mit Grausamkeit waren die Heere aus Chaldäa und Babel über das jüdische Reich hergefallen und hatten sich wie Edom den Zorn des HERRN zugezogen. Durch die Propheten Jesaja und Jeremia war Gottes Vergeltung für die Übeltaten Babels und seines Machtbereichs bis ins Einzelne gehend prophezeit worden (Jes 47; Jer 50 und 51). Wenn Gott auch Babel und sein Heer zur Züchtigung Judas benutzt hatte, so hieß dies nicht, dass Er ihre Mordlust und Machtgier, ihren Hochmut und Götzendienst übersehen hätte. Der Vollzug des von Gott festgelegten Strafgerichts an Babel und Chaldäa geschieht in Seinem Sinne; es entspricht Seiner Gerechtigkeit und der Größe ihrer Schuld (Vers 8).