Vorträge zum Matthäusevangelium
Kapitel 20
Das letzte Kapitel endete mit der bedeutsamen Lehre, daß der Herr im Königreich sich jedes Leidens und jedes Dienstes um Seines Namens willen erinnert. Das ist eine feststehende Wahrheit in der Bibel, auf die auch in den Briefen des Apostel Paulus und anderswo im Neuen Testament hingewiesen wird. Sie wird jedoch leicht vom Menschenherzen zur Förderung der Selbstgerechtigkeit mißbraucht. Ein Mensch mag schnell vergessen, daß alles ausschließlich aus Gnaden ist, und dazu neigen, ein Anrecht vor Gott geltend zu machen für das, wozu Gott ihm die Kraft gegeben hat. Daher wird ein Gleichnis hinzugefügt, das einen vollkommen anderen Gesichtspunkt einführt und als vorherrschenden Gedanken die Unumschränktheit Gottes zeigt. Damit will der Herr, wie ich denke, ausdrücklich solchen ungeistlichen Erwägungen entgegentreten. Gott ist keineswegs ungerecht und wird unsere Bemühungen der Liebe, die wir gegen Seinen Namen erwiesen haben, und unsere Arbeit nicht vergessen. Es besteht die Gefahr, daß wir zu viel daran denken. Wenn Gott nicht vergessen will, was Sein Volk für Ihn getan hat, folgt daraus nicht, daß wir selbst uns daran erinnern sollen. An einen einzigen Gegenstand sollten wir denken und ihn vor unsere Seelen stellen, nämlich Christus, wie der Apostel Paulus schreibt: „Vergessend, was dahinten, und mich ausstreckend nach dem, was vorn ist, jage ich ...“ (Philipper 3, 14). Wir sollten eher unsere Fortschritte vergessen, als das, was wir falsch gemacht haben. So wird es in der Herrlichkeit sein. Wenn dort jede Spur von Erniedrigung vorbei ist, werden wir ein lebendigeres Gefühl von unseren verschiedenen Fehlern haben als jemals zuvor. Sie verursachen dann allerdings weder Zweifel noch Furcht noch Trauer. Solche Gedanken würden der Gegenwart Gottes widersprechen. Auch hienieden ist es gut für einen Gläubigen, seine ganze Segnung festzuhalten und trotzdem daran zu denken, wer er ist, und sich Tag für Tag vor Gott zu demütigen. Dabei sollten wir stets beachten, daß das Bewußtsein unseres Kindschaftsverhältnisses zu Gott die Grundlage jeder wahren Demütigung ist. Falls wir meinen, wir seien noch in unseren Sünden, und annehmen, daß wir immer und immer wieder neu beginnen müßten, können wir nie eine richtige christliche Erfahrung oder irgendeinen Fortschritt machen. Der Ausgangspunkt und die Quelle unseres geistlichen Lebens sind dann noch unbekannt.
Es besteht ein großer Unterschied in der Niedriggesinntheit eines Sünders und der eines Heiligen, welcher neben seiner eigenen bösen Natur außerdem eine neue in Christus besitzt. Demut ist immer richtig. Doch wenn wir als Anbeter zu Gott nahen, ist es kein Beweis von Demut, wenn wir von uns als armen Sündern sprechen. Wir kommen zusammen, um uns an Christus zu erfreuen und zum Ausdruck zu bringen, was Gott ist. Kann es einen Zweifel geben, daß dies die tiefste und echteste Niedriggesinntheit anzeigt, auch wenn wir uns durchaus unserer Nichtigkeit bewußt sind? Ein Mensch, der bei der Königin irgendein Amt ausübt und wahre Ehrfurcht vor ihr hat, denkt nur an sie und nicht an sich. Wieviel mehr gilt das, wenn wir in der Gegenwart Gottes sind! Dies sollte unsere Seelen bei der Anbetung des Herrn mit Freude erfüllen. Den Heiligen geziemt nicht, sich ständig auf die eine oder andere Weise in den Vordergrund zu stellen. Gott hat daran kein Gefallen, obwohl es in einem gewissen Maß in unsere Gebetskammer passen mag. Denn das große und letzte Ziel Gottes mit Seinen Kindern richtet sich darauf, daß Er gepriesen wird für das, was Er ist, und zwar vor allem in der Erkenntnis Seines Sohnes und Seines Werkes.
Das stellt die Seele auf die Probe. Wenn wir uns einer gewohnheitsmäßigen Nachlässigkeit und eines Mangels an Abhängigkeit mit ihren traurigen Folgen bewußt sind, ist das Herz nicht auf Anbetung vorbereitet. In solchen Umständen weckt der Heilige Geist das Gewissen, anstatt die Ausflüsse des Herzens hervorströmen zu lassen. Darf der Herr nicht alles beanspruchen? Wenn wir uns aufmachen, um Ihn zu preisen und in Seinem Namen das Brot zu brechen, dann bestimmt nicht deshalb, weil wir irgendwo anders als bei Ihm Trost gefunden haben. Das wird unser Selbstgericht keineswegs hemmen, sondern eher stärken. Wozu besitzen wir das Wort Gottes und den Heiligen Geist? Nicht dazu, daß wir in allen Dingen zu Christus hin wachsen? In Verbindung mit dem Tisch des Herrn sollte mich ein Gedanke erfüllen: Ich gehe dorthin, um Ihn zu treffen und Ihn zusammen mit Seinen Heiligen zu preisen. Das hält unseren Geist unter Kontrolle und stellt uns vor die Blicke, wie groß es ist, Christus zu begegnen und in Seiner Gegenwart zu sein. Anbetung bedeutet, daß sich die Seele im Geist in der Gegenwart Gottes befindet. Bald werden wir die vollkommene Anbetung im Himmel genießen. Jetzt ist sie genauso Stückwerk wie unsere Erkenntnis. Denn im Grunde genommen ist die Anbetung des Gläubigen eine himmlische Tätigkeit, selbst wenn sie auf der Erde erfolgt. In Übereinstimmung damit werden auch wir schon jetzt als „Himmlische“ bezeichnet. (1. Korinther 15, 48).
Sicherlich dürfen wir unser Zukurzkommen nicht vergessen oder gleichgültig und leichtfertig darüber hinweggehen. Deshalb soll ein jeder sich selbst untersuchen, bzw. prüfen. Gott hat uns dieses innere Erforschen der Seele anbefohlen. (1. Korinther 11, 28). Und was dann? „Also esse er!“ Das heißt: Auch wenn ein Christ sich bewußt ist, den Herrn während der Woche vergessen zu haben, darf er Ihm doch weiter vertrauen. Was soll er tun? Soll er zum Tisch des Herrn gehen, als sei sein Versagen bedeutungslos? Das wäre Sünde! Soll er demnach wegbleiben? Weder das eine, noch das andere! Was kann er tun? Er soll sich richten, seine Schuld bekennen und sich vor Gott demütigen; und „also esse er!“ Das ist der gottgemäße Weg. Falls ich wegbleibe, wird nichts richtiggestellt. Indem ich mich vom Tisch des Herrn fern halte, erwecke ich den Eindruck, daß ich überhaupt kein Christ bin bzw. daß ich mich so schlecht verhalten habe, daß andere mich nicht als Christ betrachten würden, wenn sie von meinen Taten wüßten. Einer der Wege Gottes, um uns vor Sünden zu bewahren, besteht darin, sie ständig vor unsere Seelen zu stellen. Mögen wir es jedoch im Geist des Selbstgerichts zuhause tun, damit wir Ihn preisen, wenn wir zum Namen des Herrn zusammen kommen!
Um in uns dieses Bewußtsein von der Gnade zu stützen, zeigt der Geist Gottes in diesem Kapitel die Souveränität Gottes als Gegenmittel gegen die Selbstgerechtigkeit, welche sogar im Herzen eines Jüngers gefunden wird. Petrus mochte sagen: „Wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.“ (Matthäus 19, 27) und der Herr ihm versichern, daß nichts vergessen würde. Doch Er fügte sofort das Gleichnis vom Hausherrn hinzu. Dort finden wir nicht den Grundsatz der Belohnung oder Gottes gerechte Anerkennung jedes Dienstes, der von Seinem Volk getan wurde, sondern Seine eigenen Rechte, Seine Souveränität. Darum werden keine Unterschiede gemacht. Niemand wird besonders erwähnt, weil er Seelen für Christus gewonnen oder alles für Christus verlassen hat. Als Grundsatz wird dargestellt, daß Gott zwar unfehlbar jeden Dienst und jeden Verlust um Christi willen anerkennt, aber sich dennoch Sein Recht nicht nehmen läßt zu handeln, wie Er will. Manche arme Seele mag erst an ihrem Todestag zur Erkenntnis Christi geführt werden. Doch Gott der Vater beansprucht das Recht zu geben, was Ihm gefällt. Ein Erlöster mag nichts für Gott getan haben. Gott behält sich indessen vor, sogar denjenigen nach Seinem Gefallen zu belohnen, der – wie wir denken – gar nichts getan hat. Das ist ein ganz anderer Grundsatz als der des vorigen Kapitels und widerspricht vollkommen den Gedanken der Menschen. „Das Reich der Himmel ist gleich einem Hausherrn, der frühmorgens ausging, um Arbeiter in seinen Weinberg zu dingen. Nachdem er aber mit den Arbeitern um einen Denar den Tag übereingekommen war, sandte er sie in seinen Weinberg.“ (V. 1–2).
Normalerweise wird dieses Gleichnis auf die Errettung einer Seele angewandt. Das ist nicht richtig; denn Christus ist es, der für die Erlösung wirkte, litt und lebte, und zwar unabhängig vom Menschen. Der arme Sünder muß sich selbst aufgeben, um von Christus errettet zu werden. Wenn ein solcher mit sich zu Ende gekommen ist und anerkennt, daß er nichts als die Hölle verdient hat – wie lieblich, daß Gott dieser Seele die Wahrheit vorstellt (und dieses Wort ist gewiß!), daß Jesus Christus in die Welt gekommen ist, um Sünder zu erretten! (1. Timotheus 1, 15). Sobald letzterer damit zufrieden ist, nichts anderes als ein Sünder zu sein und durch niemand anderen als Christus gerettet zu werden, empfängt er von Gott wahre Ruhe. Wo immer wir versuchen, unseren eigenen Beitrag zu liefern, folgen ausschließlich Unsicherheit, Zweifel und Schwierigkeiten. Wo strahlt das Heil Gottes auf? Allein in Christus! Der Errettete trägt zu diesem Werk nur seine Sünden bei. Aber Gott freut sich – und nicht zum wenigsten, weil es die Frucht Seiner Gnade ist –, wenn Er einen armer Sünder hört, der anerkennt, daß Jesus würdig ist, ihn frei von Sünden in den Himmel zu bringen. Darum geht es in diesem Gleichnis allerdings nicht. Wir lesen nichts von dem Glauben an Christus oder Sein Werk. Hier geht es um wirkliche Arbeit, die getan wird. Man mag denken: Sicherlich wird der Herr die Arbeit entsprechend ihrem Charakter und ihrem Schweregrad belohnen! Das sahen wir jedoch schon. Es gibt hingegen noch einen anderen Grundsatz, welcher nicht immer verstanden wird: Gott behält sich das Recht vor zu handeln, wie es Ihm gefällt; und Er macht nie einen Fehler. Es mag hart erscheinen, daß ein Mensch kurz vor seinem Lebensende zu Gott gebracht wird und im Himmel genauso geehrt wird wie ein anderer, der sich fünfzig Jahre lang auf der Erde abgemüht hat. Doch Gott ist der einzige gerechte und weise Richter, um zu beurteilen, was Ihn verherrlicht. Wenn es Ihm gefällt, stellt Er alle auf dieselbe Grundlage. Er wird jedes ausgeführte Werk, belohnen – aber so wie Er will.
„Nachdem er aber mit den Arbeitern um einen Denar den Tag übereingekommen war, sandte er sie in seinen Weinberg. Und als er um die dritte Stunde ausging, sah er andere auf dem Markt müßig stehen; und zu diesen sprach er: Gehet auch ihr hin in den Weinberg, und was irgend recht ist, werde ich euch geben. Sie aber gingen hin.“ (V. 2–5). Es geht hier nicht um Gnade im Sinn von Errettung. „Was irgend recht ist, werde ich euch geben.“ Gott beurteilt, was jedem zukommt. „Wiederum aber ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat desgleichen.“ Und wie einzigartig! Er ging auch um die elfte Stunde aus. Was für ein Herz wird hier beschrieben! Welch unendliche Güte! Gott nimmt jeden Dienst und jedes Leiden um Seinetwillen zur Kenntnis; und doch behält Er sich das Recht vor, sogar im letzten Augenblick hinauszugehen, um Seelen hereinzuführen und sie mit dem zu beschäftigen, was nur ein geringer Dienst zu sein scheint. Aber Er kann auch die Gnade mitteilen, um sogar dieses Geringe gut zu tun.
„Als er aber um die elfte Stunde ausging, fand er andere stehen und spricht zu ihnen: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? Sie sagen zu ihm: Weil niemand uns gedungen hat. Er spricht zu ihnen: Gehet auch ihr hin in den Weinberg, und was irgend recht ist werdet ihr empfangen. Als es aber Abend geworden war, spricht der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Rufe die Arbeiter und zahle ihnen den Lohn, anfangend von den letzten bis zu den ersten.“ (V. 6–8). Nach der vollkommenen Weisheit Gottes sollte er mit den Letzten beginnen. Warum werden die „Letzten“ in diesem Gleichnis so in den Vordergrund gestellt? Das ist um so auffälliger, weil wir am Ende des vorigen Kapitels etwas anderes lasen. Dort steht: „Viele Erste werden Letzte und Letzte Erste sein.“ Hier hingegen wird von den Letzten immer zuerst gesprochen. So wird dem Verwalter gesagt, daß er bei den Letzten anfangen und bei den Ersten aufhören solle. Auch als der Herr des Weinbergs selbst zu den Arbeitern redete, blieb er dabei: „Also werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.“ (V. 16).
Das ist die Unumschränktheit der Gnade, die gibt, wie Gott es will, und bezieht sich nicht nur auf die Errettung, sondern auch auf die Belohnung in der Zeit der Herrlichkeit; denn davon wird hier gesprochen. Natürlich nahmen die Letzten ihren Lohn dankbar an. Als die Ersten davon hörten, dachten sie, daß ihnen mehr zustehe, da sie doch die Last und die Hitze des Tages getragen hatten. Der Hausherr erinnerte sie jedoch daran, daß alles abgesprochen war, bevor sie an ihre Arbeit gingen. In ihrer Selbstsucht vergaßen sie sowohl die Vertragsbedingungen als auch die Gerechtigkeit dessen, mit dem sie es zu tun hatten. Wenn der Hausherr in der Freigebigkeit seines Herzens anderen Knechten, die nur den zwölften Teil gearbeitet hatten, genauso viel geben wollte wie ihnen, was ging das sie an? Das war einzig und allein seine Angelegenheit. Gott hält an Seinen Rechten fest.
Es ist von größter Bedeutung für unsere Seelen, daß wir Gottes Rechte in allen Dingen berücksichtigen. Die Menschen setzen sich damit auseinander, ob es von Gott gerecht sei, diesen oder jenen auszuerwählen. Wenn wir jedoch den Boden der Gerechtigkeit betreten, ist alles verloren, und zwar für immer. Nun, falls es Gott gefällt, Seine Barmherzigkeit nach Seiner Weisheit und zu Seiner Herrlichkeit unter diesen armen Verlorenen auszuüben – wer darf dann mit Ihm disputieren? Wer bist du, Mensch, daß du das Wort ergreifst gegen Gott? Gott hat das Recht, nach Seinem Herzen zu handeln; und „sollte der Richter der ganzen Erde nicht Recht üben?“ (1. Mose 18, 25). Ist Er berechtigt, aus sich selbst heraus zu handeln? Jedenfalls kann Er sich nicht mit dem Menschen auf der Grundlage der Gerechtigkeit beschäftigen. Dazu fehlt jegliche Basis. Alles beruht ausschließlich auf Seinem Wohlgefallen. Dabei müssen wir uns zudem daran erinnern, daß kein Mensch verloren geht, er habe denn die Barmherzigkeit Gottes abgelehnt – sei es, daß er sie verachtet, sei es, daß er sie für seine eigenen selbstsüchtigen Zwecke in dieser Welt mißbraucht hat. Nur der Errettete besitzt ein wahres Empfinden für die Sünde und liefert sich Gott als wirklich verloren aus. Doch dabei begegnet er Gottes unendlicher Barmherzigkeit in Christus, welche verlorene Sünder errettet.
In dem vorliegenden Fall kamen die Ersten und beklagten sich bei dem Hausherrn. Darauf antwortete er ihnen: „Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht um einen Denar mit mir übereingekommen? Nimm das Deine und gehe hin. Ich will aber diesem letzten geben wie auch dir. Ist es mir nicht erlaubt, mit dem Meinigen zu tun, was ich will? Blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin.“ (V. 13–15). Hier zeigt sich das ganze Geheimnis. Ein Mensch – ja, sogar ein bekennender Jünger des Herrn, ein Arbeiter in Seinem Weinberg – ist fähig, darüber zu streiten, ob er nicht mehr Lohn verdient hat als ein anderer, der nach seiner Meinung weniger gearbeitet hat als er selbst. Genau dieser Grundsatz machte die fanatischen Juden so eifersüchtig auf die Nichtjuden, als diese in das Reich eingeführt wurden. „Also“, sagt der Herr, „werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.“
Ich möchte jetzt fragen: „Warum steht am Ende des vorigen Kapitels: „Viele Erste werden Letzte, und Letzte Erste sein“ und hier: „Die Letzten (werden) Erste und die Ersten Letzte sein“?“ Wenn über die Belohnung für ausgeführte Arbeit gesprochen wird, spielt Gott auf das Versagen des Menschen an; denn zweifellos offenbart dieser bald seine Schwachheit. Die Ersten werden also Letzte. In dem neuen Gleichnis sehen wir die Unumschränktheit Gottes, welche niemals versagt. Folglich „werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein.“ „Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat.“ (2. Timotheus 4, 10). Er war ein Erster, wie wir sagen möchten, der zum Letzten wurde. Demas war ein Arbeiter für den Herrn, der auf dem Weg des unaufhörlichen Dienstes für Christus müde wurde, ohne allerdings das Christentum aufzugeben. Wenn jene Tausende, die heute im Dienst Christi beschäftigt sind und viel Ehre empfangen, statt dessen nur Spott und Verfolgung finden würden, dann gäbe es bald kein geringes Ausdünnen ihrer Reihen. Auch die gegenwärtige Rückkehr zum Wort Gottes findet nur Schande und Leiden. Damit sollte jeder rechnen, der mit Verständnis und treu dem Herrn in dieser Welt dienen möchte. Obwohl Demas ein Gläubiger war, so drückten doch die Prüfungen und der Widerstand sowie die Liebe eines ruhigeren Lebens und anderer Dinge schwer auf seinen Geist; und er verließ den Dienst des Herrn. Denselben Grundsatz finden wir in den Worten: „Alle suchen das Ihrige, nicht das, was Jesu Christi ist.“ (Philipper 2, 21).
Als nächstes sehen wir unseren Herrn auf dem Weg nach Jerusalem; und Er bereitet Seine Jünger auf noch größere Schwierigkeiten vor. „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und Schriftgelehrten überliefert werden, und sie werden ihn zum Tod verurteilen; und sie werden ihn den Nationen überliefern, um ihn zu verspotten und zu geißeln und zu kreuzigen; und am dritten Tag wird er auferstehen.“ (V. 18–19). Doch sogar nach solchen Worten ist das Herz des Menschen so selbstsüchtig, daß die Mutter der Kinder des Zebedäus mit ihren Söhnen, die zu den Aposteln gehörten, zum Herrn kam. Sie huldigte Ihm und erbat etwas von Ihm. „Er aber sprach zu ihr: Was willst du? Sie sagt zu ihm: Sprich, daß diese meine zwei Söhne einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken sitzen mögen in deinem Reich.“ (V. 21). Jetzt wird ein neuer Grundsatz herausgestellt. So groß ist tatsächlich die Demut Christi, so vollkommen die Selbstverleugnung des Einzigen, Der eine vollständige Kenntnis aller Dinge hatte und durch Seine persönliche Herrlichkeit ein Recht auf alle Dinge besaß, daß Er antwortete: „Ich habe in meinem Reich keine Plätze an euch zu verteilen. Das ist nicht mir anvertraut, sondern liegt in den Händen meines Vaters. Doch auch Ich habe euch etwas zu geben. Und was das ist? Leiden!“
Ja, Christus hat für Seine Knechte jetzt nur Leiden zu vergeben, und zwar als das höchste Vorrecht. Als der Apostel Paulus bekehrt wurde, fragte er sofort: „Was soll ich tun, Herr?“ (Apostelgeschichte 22, 10). Der Herr teilt ihm mit, wieviel er um Seines Namens willen leiden muß. Alles zu erleiden ist viel mehr wert, als etwas zu tun. Es ist das beste Teil, welches ein Gläubiger in dieser Welt finden kann. Die höchste Ehre, die wir auf der Erde haben können, besteht darin, mit und für Christus zu leiden. Das offenbart unser Herr der Mutter der Söhne des Zebedäus, als sie für diese um einen Platz zu Seiner Rechten und zu Seiner Linken in Seinem Reich bat. „Jesus aber antwortete und sprach: Ihr wisset nicht, um was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde? Sie sagen zu ihm: Wir können es.“ (V. 22).1 Der Herr spricht von zwei Arten des Leidens. Der Kelch symbolisiert inneres Leiden; die Taufe drückt aus, durch was wir äußerlich hindurchgehen müssen. Beides umfaßt jede Art der Versuchung, sowohl der inneren als auch der äußeren.
Christus spricht hier natürlich nicht vom Kreuz im Blick auf die Sühne. Darin kann es keine Gemeinschaft mit Ihm geben. Doch das Kreuz bedeutet auch Verwerfung; das hat mit Sühne nichts zu tun. Wir können dessen teilhaftig werden, was Christus von den Menschen erduldete, jedoch nicht der Leiden, die Er von Gott entgegen nahm. Als Er für die Sünde am Kreuz litt, unterbrach Er alle früheren Beziehungen und unterwarf sich in unendlicher Gnade dem Platz des Gerichts. Er wurde zur Sünde gemacht. Er verwirklichte, was es heißt, von Gott verlassen zu sein, indem Er die Verantwortung für die Sünden der Menschen auf sich nahm. Darum rief Er in jenem schrecklichen Augenblick am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27, 46). Damit haben wir nichts zu tun. Wir werden wegen unserer Sünde nicht von Gott verworfen. Gott verließ Jesus, damit Er uns nicht verlassen muß. Gott verläßt niemals einen Christen, auch verhüllt Er sich nicht vor ihm. In der Bibel finden wir nirgendwo, daß Gott sich seit dem Tod Christi vor einem Gläubigen verbirgt. Das ist keine Verheißung, sondern Wirklichkeit. Der erste Grundsatz und allgemein gültige Gesichtspunkt des Evangeliums ist die vollkommene Vergebung und Versöhnung. Wir wurden durch das Blut Christi Gott nahe gebracht; alle unsere Übertretungen sind uns vergeben.
Der Herr sagte dann zu ihnen, daß sie nicht wüßten, um was sie baten, und fragte, ob sie den Kelch trinken könnten, der Er trinken mußte, oder mit der Taufe getauft werden, mit der Er getauft werden sollte (vergl. Markus 10, 38). „Sie sagen zu ihm: Wir können es.“ (V. 22). Sie wußten genauso wenig, was sie sagten, wie, um was sie baten; denn später, als unser Herr in Todesgefahr war, verließen Ihn alle und flohen. Wenn einer von diesen beiden Söhnen des Zebedäus sich später in die Gerichtshalle wagte, dann sozusagen unter dem Mantel des Hohenpriesters, d. h. aufgrund dessen, daß er demselben bekannt war. Petrus folgte auf eigene Faust und offenbarte seine völlige Schwachheit. Angesichts eines solchen Kelches und einer solchen Taufe sagte der Herr: „Meinen Kelch werdet ihr zwar trinken [der Herr sagt nicht: „könnt ihr zwar trinken“], aber das Sitzen zu meiner Rechten und zu meiner Linken steht nicht bei mir zu vergeben, sondern ist für die, welchen es von meinem Vater bereitet ist.“ (V. 23). (...).2 Der Herr hat das Recht, jenen zu geben, für die es der Vater bereitet hat. Christus ist der Verwalter der Belohnungen des Reiches. Er sagt sozusagen: „So wie ich im Leiden der Diener bin, so bin ich es auch in der Herrlichkeit.“ In allem ist Christus derjenige, der alles zur Verherrlichung Gottes ausführen wird. Jedes Knie muß sich in Seinem Namen beugen; und jede Zunge muß bekennen, daß Jesus Christus Herr ist. (Philipper 2, 10–11). Doch alles geschieht zur Verherrlichung Gottes, des Vaters.
„Und als die Zehn es hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder.“ (V. 24). Ein großer Teil unseres Unwillens ist nicht besser als der ihre. Ihr Stolz war verwundet. Zweifellos erschien es durchaus berechtigt, diese beiden Brüder zurechtzuweisen, die derart von sich selbst eingenommen waren. Doch warum wurden sie so unwillig? Weil auch sie von sich selbst erfüllt waren! Christus wurde nicht unwillig. Er war betrübt; aber sie wurden von heftigen Gefühlen gegen die beiden Brüder bewegt. Wir sollten aufpassen! Häufig, wenn wir solche demütigen wollen, die sich selbst erhöhen, herrscht in uns derselbe Geist. Angenommen, jemand ist in Sünde gefallen. Dann ist die Entrüstung oft groß. Ist dies jedoch die rechte Weise, unser Empfinden über die Sünde zum Ausdruck zu bringen? Gläubige, die am meisten mit Gott in Übereinstimmung sind, empfinden auch am tiefsten mit armen Sündern und jenen Erlösten, die sich von Gott entfernt haben. „Wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geist der Sanftmut, indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht werdest.“ (Galater 6, 1).
„Jesus aber rief sie herzu und sprach: Ihr wisset, daß die Regenten der Nationen über dieselben herrschen und die Großen Gewalt über sie üben.“ (V. 25). Er legte den Finger auf diese Liebe nach Größe in Seinen Jüngern, die sich auch in dem Unwillen gegen Jakobus und Johannes zeigte. Die Wärme, mit der sie verurteilten, verriet nämlich, daß sie dieselben Gedanken in ihren Herzen hatten. Der Herr fuhr fort: „Unter euch soll es nicht also sein; sondern wer irgend unter euch groß werden will, soll euer Diener sein, und wer irgend unter euch der Erste sein will, soll euer Knecht sein.“ (V. 26–27). Zwischen den beiden Ausdrücken besteht ein Unterschied. Das Wort, welches mit „Diener“ übersetzt wurde, spricht von einem Bediensteten, jedoch nicht von einem Sklaven. Er ist eher eine angestellte Person. Dagegen redet Vers 27 wirklich von einem Leibeigenen oder Sklaven. „Willst du nach den Grundsätzen Meines Reiches wirklich groß sein? Dann erniedrige dich, so tief du kannst! Willst du der Größte sein? Werde der Geringste von allen! Wer immer am wenigsten aus sich selbst macht, ist der Größte im Reich der Himmel.“ „Gleichwie der Sohn des Menschen nicht gekommen ist, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.“ (V. 28). Er nahm den allerniedrigsten Platz ein und gab Sein Leben als Lösegeld für viele. In Ewigkeit sei Sein Name gepriesen!
Die letzten Verse des 20. Kapitels gehören eigentlich schon zum nächsten. Sie sprechen von dem Hinaufziehen unseres Herrn nach Jerusalem auf dem Weg über Jericho. Daher ist es notwendig, diese beiden Kapitel zusammen zu betrachten, um den Zusammenhang der Gedanken nicht zu verlieren, welche der Heilige Geist uns hier zeigen will. Ich kann jedoch den bisher behandelten Teil des Kapitels nicht abschließen, ohne noch einmal auf die Grundsätze des Reiches Gottes, wie Christus sie uns offenbart, die Aufmerksamkeit zu richten. Wie wunderbar fordert Er zu einem selbstlosen Dienst auf! Welch eine Freude liegt in der Vorstellung, daß wir jede Prüfung als Glückseligkeit in jenem Reich wiederfinden! Da mag es manche Gläubige geben, welche denken, daß sie nur mit wenig Gelegenheiten begünstigt sind, um dem Herrn zu dienen, und welche von einem Werk ausgeschlossen sind, daß ihre Herzen gerne tun möchten. Erinnern wir uns daran, daß Er, Der alles weiß, sich das Recht vorbehalten hat, den Seinen und von dem Seinigen zu geben, wie Er es will! Nach Seinem Herzen wird Er allen das Beste geben. Unsere Pflicht ist jetzt, ausschließlich mit Dem beschäftigt zu sein, Der nicht kam, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und Sein Leben zu geben als Lösegeld für viele. Wir sollen Christi Knechte sein, indem wir einander dienen. Das ist unsere höchste Berufung; und sie ist auch sehr notwendig.
In der Verklärung sahen wir ein Bild des kommenden Königreichs: Christus, das Haupt und der Mittelpunkt, mit Vertretern aus dem himmlischen und irdischen Bereich. Auf der einen Seite stehen die verherrlichten Erlösten Mose und Elias, auf der anderen die drei Jüngern in ihren natürlichen Leibern. Das war ein Wendepunkt in der Lebensgeschichte unseres Herrn, den Johannes in seinem Evangelium völlig übergeht. Dafür erwähnen ihn die anderen drei Evangelisten ausführlich. Das Kreuz mußte angesichts der Sünde zur Grundlage aller Herrlichkeit werden. Ohne dasselbe kann nichts beständig und heilig sein. Es ist der einzige Kanal, durch welchen all unser Segen fließt. Wie wir von Lukas erfahren, war Christi Ausgang das Thema des Gesprächs auf dem heiligen Berg. Johannes berichtet uns indessen nichts von dieser Szene. Das liegt daran, daß er sich mit Christus als dem Sohn beschäftigt. Wir sehen bei ihm nicht die menschliche Seite, sondern die Gottheit des Herrn Jesus Christus. Seine Verwerfung durch Israel und die daraus folgende Verwerfung Israels durch Gott wird schon am Anfang seines Evangeliums vorausgesetzt; denn wir lesen: „Er kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen ihn nicht an“ (Johannes 1, 11). Die Verklärung hingegen stellt nicht die Gottheit Christi heraus, sondern Seine Herrlichkeit als der verherrlichte Sohn des Menschen, Der dabei als Sohn Gottes anerkannt wird. Sie war ein Muster von der Herrlichkeit des Herrn in Seinem zukünftigen Königreich mit Repräsentanten auferstandener Menschen und solcher in ihrem irdischen Zustand. Das Bild wird bald seine Erfüllung finden. Johannes zeigt uns nicht den Berg, sondern das Vaterhaus als das Ziel der Kirche (Versammlung). Die Welt wird eine Herrlichkeit sehen, die mehr oder weniger auf dem Berg entfaltet wurde; diese ist jedoch keineswegs unser bestes Teil. Wir erwarten natürlich jene gesegnete Hoffnung und die Erscheinung der Herrlichkeit. Unsere eigentliche Hoffnung ist jedoch Christus, um mit Ihm im Vaterhaus mit den vielen Wohnungen zu sein. Diese übertrifft jede Segnung des Reiches. Sie wird sich auch nicht auf der Erde entfalten. Die Geheimnisse der Liebe und Gemeinschaft, welche die Kirche mit Christus im Vaterhaus genießt, kann niemals Gegenstand der Offenbarung an die Welt sein. Wer liebt es, die zartesten Gefühle seines Herzens allgemein bekanntzumachen? Zweifellos werden die Herrlichkeit, die äußere Pracht und die Stellung der Macht gesehen werden, welche die Kirche im kommenden Königreich besitzen wird; denn diese bilden einige der Hauptkennzeichen der tausendjährigen Herrschaft. Wir werden mit Christus herrschen. Die Herrlichkeit des Bräutigams wird sozusagen die Braut umhüllen. Wenn wir genau auseinanderhalten, was die Bibel unterscheidet, erkennen wir auffallende Unterschiede zwischen der besonderen Stellung und den Hoffnungen der Kirche und den Herrlichkeiten des Reiches. Letztere sind natürlich genauso wirklich; und alle verherrlichten Gläubigen werden daran teilnehmen, wenn das Reich in Macht aufgerichtet ist. So nimmt der Berg der Verklärung einen wichtigen Platz in den drei synoptischen Evangelien ein, welche Christus jeweils als Messias, Knecht und Sohn des Menschen betrachten, der in diesen Eigenschaften auch einst nach dem Muster auf dem Berg geoffenbart werden soll. Folglich berichten uns die Evangelisten, welche Christus unter diesen drei Aspekten vorstellen, von der Verklärung. Ferner wird ab jetzt jeder Gedanke an eine Annahme des Herrn durch die Juden bei Seiner damaligen Anwesenheit auf der Erde völlig aufgegeben. Darum wurde auch das Neue (die Versammlung) unmittelbar vorher angekündigt. Christus mußte leiden und sterben. Auch jene, die Ihm während Seiner Verwerfung nachfolgen, werden in dem Königreich sein – allerdings nicht als Untertanen. Sie werden als Könige mit Ihm herrschen. Wenn es sich um die Verantwortlichkeit handelt oder die individuellen Vorrechte, wird vom „Reich“ gesprochen, wenn jedoch unser gemeinsames Teil vor den Blicken steht, von der „Kirche“ („Versammlung“) (vergl. Matthäus 16 und 18!).
Die Verse 29 bis 34 des 20. Kapitels stellen eine Art Einleitung zum 21. Kapitel dar, in dem wir die letzte förmliche Vorstellung des Königs an Sein Volk finden. Dabei wird allerdings eine Annahme Seiner Person nicht mehr erwartet. Statt dessen sollte der Mensch seine Ungerechtigkeit voll machen sowie der Ratschluß Gottes erfüllt werden. Darum stellte der Herr sich in dieser Weise dem Volk vor. Wir erfahren zuerst, daß Er auf dem Weg nach Jerusalem zwei Blinde sieht, die Ihn anrufen mit den Worten: „Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!“ (V. 30). Auch falls sie nichts von der drohenden Krise wußten, handelten sie trotzdem völlig dem Geist dieser Szene entsprechend. Der Heilige Geist wirkte in ihnen, damit sie ein Zeugnis von Jesus ablegten, Der jetzt zum letzten Mal als Erbe des Thrones öffentlich vorgestellt werden sollte. Was für ein Bild! Die Sehenden verwarfen in blinder Verhärtung ihrer Herzen den eigenen Messias, der doch von den Nichtjuden als der neugeborene König der Juden anerkannt worden war (Matthäus. 2); und die armen Blinden bekannten Ihn durch den Glauben laut als den wahren König. Wahrscheinlich bestand ihr Haupt- – ja, ihr einziges – Verlangen darin, von ihrer Blindheit geheilt zu werden. Es mag so sein. Aber Gott gab auf jedem Fall ihrem Glauben den richtigen Gegenstand und bewirkte das angemessene Bekenntnis für diesen Zeitpunkt; denn Er überwachte die Szene. Seine Hand lag an der Quelle; und was immer die Gedanken der beiden Blinden sein mochten, die nach dem Herrn riefen, Gott wollte, daß ein angemessenes Zeugnis von Seinem König, dem „Sohn Davids“; abgelegt wurde. Ein Jude verstand sehr gut, was dieser Titel alles beinhaltete. Welch eine Verurteilung der Pharisäer, die Christus verworfen hatten!
Nicht immer ist der höchste Gesichtspunkt der gerade passende; manchmal ist ein geringerer weit angemessener. So ist hier die Anrede Christi als „Sohn Davids“ viel mehr in Einklang mit dem Ereignis, als wenn die Blinden gesagt hätten: „Du Sohn Gottes!“ Das mag manchem, der den Sinn der unterschiedlichen Titel nicht kennt, seltsam erscheinen. Indem jedoch die Blinden den Herrn entsprechend Seiner jüdischen Herrlichkeit begrüßten, sprachen sie das aus, was vollkommen mit der damaligen Handlungsweise Gottes übereinstimmte.
Jetzt möchte ich ehrerbietig fragen: „Warum wurde die Auferstehung des Lazarus in den ersten drei Evangelien weggelassen?“ Wären diese von einem Menschen geschrieben worden, hätte er das Wunder bestimmt erwähnt und ihre Einfügung in alle Evangelien zur Wiedergabe eines vollständigen und vertrauenswürdigen Berichts für unbedingt notwendig erachtet. Außerdem hätte keine Erwägung ihn abhalten können, ein so bedeutsames Ereignis zu übergehen. Das Nichterwähnen eines so gewaltigen Wunders durch Matthäus, Markus und Lukas weist klar darauf hin, daß der Heilige Geist unumschränkt wirkte und durch einen jeden der Evangelisten mit einer bestimmten Absicht schrieb. Folglich gibt es keine Widersprüche und Unvollkommenheiten in der Bibel, wie Menschen so gerne aufzeigen möchten; denn es wird wohl keiner sagen wollen, daß Gott Fehler macht. Er stellt nur die Einzelheiten vor, die mit Seinem Plan für jedes Evangelium übereinstimmen. So entsprach es der besonderen Absicht Gottes, nicht überall dieses Wunder zu berichten. Die Auferweckung des Lazarus zeigt uns nämlich Jesus nicht als den Messias oder den Knecht oder den Sohn des Menschen, sondern als den Sohn Gottes, welcher Leben mitteilt und die Toten auferweckt. Das ist ein wichtiger Lehrpunkt von Johannes 5, welcher ausschließlich an dieser Stelle in den Evangelien gefunden wird.
Wir lesen auch in den übrigen Evangelien von Totenauferstehungswundern. Aber dort steht nicht die Wahrheit von Seiner Gottessohnschaft und Seiner gegenwärtigen Herrlichkeit in Gemeinschaft mit dem Vater im Vordergrund. Er erscheint folglich in diesen nicht so sehr als der Sohn Gottes. Nehmen wir zum Beispiel die Auferweckung des Sohnes der Witwe zu Nain! Auf welche Aspekte wird dort besonderes Gewicht gelegt? Er war der einzige Sohn seiner Mutter; und sie war eine Witwe! Lukas (bzw. der Heilige Geist) weist sorgfältig darauf hin; denn diese Umstände geben der ergreifenden Szene ihre Bedeutung. „Er gab ihn seiner Mutter“ (Lukas 7, 15). Es geht hier um das menschliche Mitgefühl des Herrn als der Sohn des Menschen. Gewiß, Er mußte der Sohn Gottes sein, sonst hätte Er den Toten nicht auf diese Weise auferwecken können. Wenn ausschließlich die Gottheit des menschgewordenen Sohnes und Sein Verhältnis zum Vater hätte dargestellt werden sollen, wären die begleitenden Umstände wohl kaum berichtet worden. Doch das Johannesevangelium reicht völlig aus, um den Herr Jesus eindeutig als den Sohn zu offenbaren.
Alle diese Beispiele zeigen uns die außerordentliche Vollkommenheit des Wortes Gottes in den Evangelien, jedenfalls wenn wir unsere Herzen unter Gott beugen. Zudem belehrt Er jene, die sich Ihm unterwerfen und auf Ihn vertrauen. In Johannes 9 wird ein Blinder geheilt. Das ist keiner von den beiden, die sich in der Nähe Jerichos befanden und an Jesus wandten. Jesus sah im Vorbeigehen einen Blindgeborenen. Von den Menschen verworfen, ging Er umher, um nach Empfängern zu suchen, denen Er Seine Segnung schenken konnte. Der Sohn wirkte in Gnade und Wahrheit und sah, auch ungebeten, die tiefe Not und handelte entsprechend. Er fand eine Gelegenheit, die Werke Gottes zu wirken. Er erwartete nichts, ging auf den Mann zu und führte das Werk aus, obwohl Sabbat war. Wie konnte der Sohn Gottes in Gegenwart von Sünde und Elend ruhen, was auch immer der religiöse Stolz darüber dachte? Der Herr verließ den Geheilten erst, nachdem dieser den Sohn Gottes erkannt und Ihm gehuldigt hatte. Außerdem dürfen wir sagen, daß Johannes niemals ein Wunder erwähnt, um einfach die Entfaltung von Macht zu offenbaren. Er will damit immer die göttliche Herrlichkeit Christi bezeugen. Im Matthäusevangelium ist Er ein verworfener Messias. In unserem 20. Kapitel wird gezeigt, daß, trotz Seiner Ablehnung durch die Nation, Gott zwei Blinde veranlaßt, von Ihm als Sohn Davids Zeugnis abzulegen. Und das geschah an jenem wohlbekannten Ort der triumphierenden Macht Israels sowie auch, ach!, dem Ort des rebellischen Unglaubens, der sich den Fluch zuzog. (Josua 6, 26; 1. Könige 16, 34). Jetzt kam der Messias in Gnade und mit ebenso großer Fähigkeit und Bereitschaft, um zu segnen.
Die Landschaft um Jericho war verflucht. Aber als Jesus als der Messias kam – auch wenn die Juden Ihn verwarfen – erwies Er sich dennoch als Jehova. Er war nicht einfach ein Messias unter Gesetz, sondern zudem Jehova, Der über demselben stand. So erwies Er den Blinden sogar zu Jericho Seinen Segen; und sie folgten Ihm. Diesen Platz hätte Israel einnehmen und seinen König erkennen sollen. Die beiden Blinden waren ein Zeugnis für den Herrn und gegen Israel. Das Zeugnis war ausreichend; es gab zwei Zeugen. „Aus zweier oder dreier Zeugen Mund. . .“ (Matthäus 18, 16). Markus und Lukas, die kein dem Gesetz genügendes Zeugnis liefern sollten, berichten nur von einem Blinden. Darin liegt natürlich kein Widerspruch. Eines ist gewiß: Sie wurden beide auf dem Weg von Jericho nach Jerusalem geheilt. Lukas spricht von der Umgebung Jerichos (Lukas 18). Er sagt nicht, daß der Herr in die Nähe Jerichos kam, sondern daß Er in der Nähe dieser Stadt war. Letzteres gilt auch, wenn man eine Stadt verläßt. Die englische „Authorized Version“ hat hier unabsichtlich die Schwierigkeit noch vergrößert.3
Fußnoten
- 1 In der englischen Bibel wird außerdem noch von der Taufe gesprochen, mit der unser Herr getauft wurde (vergl. Lutherbibel!). Dieser Ausdruck steht wohl zu Recht in Markus 10,39, jedoch nicht im Matthäusevangelium. Kelly geht in seiner folgenden Auslegung allerdings auch auf diese Aussage ein. (Übs.).
- 2 Anstelle der in unserer Bibel kursiv gesetzten Einfügung in den Text („ist für die“) hat die englische „Authorized Version“ die Worte „it shall be given to them“ („wird denen gegeben“). Kelly schreibt dazu in seiner Auslegung: „Ich möchte anmerken, daß die Worte, welche in der „Authorized Version“ kursiv geschrieben sind, den Sinn sehr entstellen. Diese Hinzufügung ist nicht berechtigt. Lasse sie weg, dann wird der Sinn der Stelle offenbar!“ (Übs.).
- 3 Anm. d. Übers.: und auch die „Elberfelder Übersetzung“ alter und neuer Bearbeitung. (Vergl. die moderne Übersetzung „Hoffnung für alle“, Brunnen, Basel und Giessen, von 1987.)