Einführende Vorträge zur Offenbarung
Kapitel 18
Kapitel 18 braucht uns nicht lange aufzuhalten. Es ist eine Beschreibung, und zwar nicht von Babylons Beziehung zum Tier, sondern von dem Fall der Stadt. Letzterer ist verbunden mit bestimmten Klageliedern, welche in die Münder der verschiedenen Menschengruppen gelegt sind, die über Babylons Auslöschung hienieden trauern. Aber zusammen damit warnt Gott vor ihrer Vernichtung und ruft Sein Volk auf, aus ihr heraus zu kommen. „Gehet aus ihr hinaus, mein Volk, auf daß ihr nicht ihrer Sünden mitteilhaftig werdet, und auf daß ihr nicht empfanget von ihren Plagen; denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeiten gedacht.“ (V. 4). Danach lauten die Worte: „Vergeltet ihr, wie auch sie vergolten hat, und verdoppelt ihr doppelt nach ihren Werken; in dem Kelche, welchen sie gemischt hat, mischet ihr doppelt. Wie viel sie sich verherrlicht und Üppigkeit getrieben hat, so viel Qual und Trauer gebet ihr. Denn sie spricht in ihrem Herzen: Ich sitze als Königin, und Witwe bin ich nicht, und Traurigkeit werde ich nicht sehen.“ (V. 6–7).
Das heißt, Babylon wird in diesem Kapitel nicht so sehr in ihrer geheimnisvollen und religiösen Gestalt gesehen, indem sie jeder Art von Verwirrung in Hinsicht auf Wahrheit und Irrtum, auf Gutes und Böses, Vergiftung, Verderbtheit und Verführung Geltung verschafft. Das geschah, wie alle wahrnehmen können, durch ihren gottlosen religiösen Einfluß. Statt dessen erblicken wir sie hier als die bedeutungsvollste Unterstützerin und Verehrerin der Welt in ihrem Luxus und ihren Vergnügungen und dem Stolz des Lebens – von dem, was die Welt „Kultur“ nennt. Das wird folglich in unserem Kapitel mit beträchtlichen Einzelheiten aufgezeichnet und wird verbunden mit der Trauer und dem Verdruß aller verschiedener Menschengruppen, welche über Babylons Zerstörung und den Verlust ihres eigenen Wohlstands und ihrer Vergnügungen seufzen.
Aber dieser anschauliche Bericht1 endet nicht, bevor der Geist Gottes uns noch einen ganz anderen Blick auf Babylon gewährt hat. Ein starker Engel nimmt einen Stein und sagt, als er ihn in das Meer wirft: „Also wird Babylon, die große Stadt, mit Gewalt niedergeworfen und nie mehr gefunden werden.“ (V. 21). Der Grund dafür wird am Ende gegeben: Nicht allein: „Durch deine Zauberei sind alle Nationen verführt worden“, sondern vor allem: „Und in ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von allen denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind.“ (V. 23–24).
Was für eine ernste und gewichtige Tatsache in der Regierung Gottes! Wie kann gesagt werden, daß dieses widerwärtige, verdorbene und götzendienerische System der letzten Tage des Blutes aller Märtyrer schuldig ist? – Es folgte, indem es ihren Geist erbte, allen Menschen, die von den Tagen Kains an ihre Hände gegen ihre gerechten Brüder erhoben haben. Anstatt daß Babylon sich von der Bosheit derer, die vor ihm waren, warnen ließ, welche auf der einen Seite verführten und auf der anderen verfolgten, nahm es, sobald irgend es konnte, in beider Hinsicht noch zu, bis zuletzt der Schlag des göttlichen Gerichts eintraf. Auf diese Weise handelt Gott als Regel in Seinem Gericht. Es erreicht nicht notwendigerweise diejenigen, die zuerst ein Übel einführten, sondern häufig jene, welche die Schuld erbten. Vielleicht hatten sie es sogar noch verschlimmert, statt sich warnen zu lassen. Wenn Gott richtet, geschieht es nicht einfach für das Böse jener, die gerade gerichtet werden, sondern für alles, was vom ersten Aufknospen des Bösen bis zu diesem Tag erfolgt ist. Das ist keine Ungerechtigkeit. Es ist hingegen die höchste Gerechtigkeit von einem göttlichen Gesichtspunkt aus gesehen.
Wir können uns dieses an den Gliedern einer Familie verdeutlichen. Nehmen wir einen betrunkenen Vater! Wenn die Söhne einen Funken des richtigen Gefühls besitzen, werden sie nicht allein äußerste Scham und Leid wegen ihres Vaters empfinden, sondern auch versuchen (wie die Söhne Noahs, die ein richtiges Gespür für das hatten, was für ihren Vater schicklich war), einen Mantel der Liebe über das zu breiten, was sie nicht leugnen können. Sie würden es nicht anschauen wollen, sondern vor allem gegen eine so beschämende Sünde wachsam sein. Aber ach! Es gibt einen Sohn in dieser Familie, der, statt von der Schlechtigkeit seines Vaters gewarnt zu sein, daraus die Erlaubnis nimmt, ebenso zu handeln. Ihn trifft der Schlag, nicht seinen elenden Vater. Der Sohn ist doppelt schuldig, weil er die Nacktheit seines Vaters gesehen hatte und fühlte, daß sie verhüllt werden mußte. Er hätte ihr entgegentreten müssen – ich meine nicht in Rache (denn diese gehört dem Herrn) –, sondern im heiligen Haß gegen die Sünde, verbunden mit tiefstem Mitleid für seinen Vater. Aber weit davon entfernt, verharrt er auf demselben bösen Weg, indem er genauso schlecht, wenn nicht noch schlechter als sein Vater ist. Dabei und auf diese Weise wird die Schuld im Fall dieses bösen Sohns vergrößert.
Hier handelt es sich um einen ähnlichen Fall. Babylon hatte einst die verschiedenen Zeugnisse Gottes gehört. – Was hatte sie von der Wahrheit nicht gehört? – Ihr wurde das Evangelium gepredigt, wie auch jene Stadt in Chaldäa nicht ohne Gesetz und Propheten war. Babylon muß, wie ich nicht bezweifle, das abschließende Zeugnis Gottes hören – das Evangelium des Reiches, das in den letzten Tagen ausgeht. Doch es liebt sein Vergnügen und seine Macht und weist die Wahrheit ab. Sie wird alles wirklich Göttliche verachten. Statt dessen wird sie nur das aus dem Wort Gottes nutzen, was sie verderben kann, um ihre eigene Wichtigkeit wachsen und sie einen größeren Einfluß über die Gewissen der Menschen gewinnen zu lassen. Dabei möchte sie sich um so luxuriöser in dieser Welt erfreuen. Sie wird weit gehen, um alle Erinnerung an den Himmel auszulöschen und diese Welt zu einer Art Paradies zu machen, das sie verschönert. Dieses geschieht nicht mittels einer reinen und unbefleckten Religion, sondern mit den Künsten der Menschen und den Abgöttereien der Welt.
Genau das ist es, was das schonungslose Gericht Gottes über die letzte Phase Babylons bringt, sodaß die ganze Schuld für das Blut, das auf der Erde vergossen wurde, ihr zugerechnet und sie entsprechend gerichtet wird. Das ist natürlich kein Hinderungsgrund, daß beim Gericht der Toten ein jeder Mensch für seine eigenen Sünden gerichtet wird. Das bleibt wahr. Der Tag des Herrn über die Welt setzt in keiner Weise Gottes Handlungen mit den Einzelseelen beiseite. Das Gericht der Toten ist streng persönlich, Gerichte in dieser Welt nicht. Gottes Schläge über die Welt kommen mehr national wie über Israel. Unvergleichlich strenger wird das Gericht über die verderbte Christenheit oder Babylon, wie sie hier genannt wird, weil sie sich im Besitz größerer Vorrechte befindet. Doch entsprechend Gottes Grundsätzen der Regierung geht es hier nicht einfach um persönliche Schuld. Das Gericht trifft jenes Böse, das aus der Verachtung des Zeugnisses Gottes – im gleichen Verhältnis mit der Zunahme desselben – sich in sittlicher Hinsicht von Generation zu Generation anhäufte, und jene Verruchtheit, die trotzdem von den Menschen gehätschelt wurde. Das mag für Kapitel 18 genügen!
Fußnoten
- 1 Anm. d. Übers.: Einen Vorschatten von diesem zukünftigen Ereignis dürfen wir vielleicht in der Plünderung des päpstlichen Roms durch die Truppen des übrigens katholischen Kaisers Karl V. im Jahr 1527 („Sacco di Roma“) erkennen, wie sie z. B. der deutsche Historiker Ferdinand Gregorovius (1821–1891) eingehend in seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“, 14. Buch, 6. Kapitel, schildert (nachgedruckt beim Deutschen Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., München, 1988).