Antworten auf Fragen in Römer 11
Israels Abfall und Verstockung sind nicht für immer
Die nächste Antwort auf die Frage von Römer 11 und der nächste Anhaltspunkt in Bezug auf Israels Stellung nach dem Vorsatz Gottes werden den Schriften des Alten Testamentes entnommen:
„Was nun? Was Israel sucht, das hat es nicht erlangt; aber die Auserwählten haben es erlangt, die Übrigen aber sind verhärtet worden, wie geschrieben steht: ‚Gott hat ihnen einen Geist der Betäubung gegeben, Augen, dass sie nicht sehen, und Ohren, dass sie nicht hören, bis auf den heutigen Tag.‘ Und David sagt: ‚Ihr Tisch werde ihnen zur Schlinge und zum Fangnetz und zum Anstoß und zur Vergeltung! Verfinstert seien ihre Augen, dass sie nicht sehen, und ihren Rücken beuge allezeit!‘ David“ (Röm 11,7–10).
Hier knüpfen diejenigen an, die lehren, Israel sei endgültig verblendet und von Gott aufgegeben. Manche Menschen haben eine sonderbare Art und Weise, das Wort Gottes zu erklären. Es gibt Ausleger, die viel Fleiß anwenden, um zu beweisen, dass Paulus zu Beginn dieses Kapitels von dem „geistigen Israel“ – der Kirche – und nicht von Israel im buchstäblichen Sinn redet; kommen sie aber zu den Versen, die wir jetzt vor uns haben, dann sagen die gleichen Ausleger ganz richtig und im Sinn der ursprünglichen Auslegung, dass hier buchstäblich das Volk Israel gemeint ist. Eine solche Methode der Bibelerklärung hat viel Schaden angerichtet. Sie verunehrt nicht nur das Wort Gottes, sondern sie trägt Verwirrung in die Reihen gläubiger Christen. Wenn der Apostel hier von der „Auswahl“ spricht, so meint er den gläubigen Teil des Volkes aller Zeiten, den Überrest der Vergangenheit, den zukünftigen Überrest und alle diejenigen, welche jetzt an den Herrn Jesus Christus glauben. Wenn er von den „übrigen“ redet, die verstockt sind, so denkt er an all die anderen aus dem Volk, die ungläubig sind. Da sie den verwarfen, der da sprach, so ist ihnen das Gericht der Verblendung zuteil geworden. Wir müssen uns davor hüten, dieses Gericht der Verblendung so anzusehen, wie dies von manchen geschehen ist, die, ihrer eigenen Auffassung folgend, verwerfliche Lehren darauf aufgebaut haben, wie z. B. die letztendliche Errettung der ganzen Welt. Sie sagen, Gott habe diese „übrigen“ verblendet, daher seien sie doch nicht für das verantwortlich, was sie nicht sehen können. Gott wird sich ihrer erbarmen, und alle Juden, die unter diesem Gericht der Verblendung gestorben sind, werden am Ende doch noch errettet werden. Wir werden auf diese Irrlehre noch zurückkommen.
Das Gericht der Verblendung ist ganz gewiss nicht so aufzufassen, als ob jeder Jude mit dieser Blindheit zur Welt gekommen sei. Fern sei ein solcher Gedanke! Jede jüdische Generation, die das Licht, das für alle leuchtet, ablehnt, macht sich der Sünde ihrer Väter teilhaftig, nämlich der Verwerfung ihres Messias, verharrt somit in deren bösen Wegen des Unglaubens und wird unter den Gerichtsspruch der Verblendung gestellt. Der Jude kann sehen, wenn er das Licht erwählt, er kann aber auch das Licht ablehnen. Gott hat in seinem Wort im Voraus erklärt, was ihnen in dieser Hinsicht widerfahren wird.
Es werden uns hier drei Stellen aus dem Alten Testament angeführt. Die Hebräer teilen das Alte Testament in drei Teile: das Gesetz, die Propheten und die Schriften. Der Heilige Geist bringt hier je eine Stelle aus diesen drei Abteilungen. Die angeführten Stellen beweisen, dass ein solches Gericht der Verblendung über sie kommen musste in Verbindung mit den Ratschlüssen Gottes, er in allem Geschehen die Oberhand behält. Es ist nun von sehr großer Bedeutung, dass die Lehre, diese Verblendung sei für alle Zeiten und endgültig, in keiner dieser Stellen, auf die der Heilige Geist unsere Aufmerksamkeit lenkt, enthalten ist. In der Schrift findet sich keine Weissagung, aus der hervorgeht, dass der gegenwärtige, verstockte Zustand Israels dessen beständiger und unveränderlicher Zustand ist.
Die drei aus dem Alten Testament angeführten Schriftstellen sind sehr lehrreich in Bezug auf diesen Gegenstand. Die erste ist dem fünften Buch Mose entnommen: „Aber der HERR hat euch nicht ein Herz gegeben, zu erkennen, und Augen, zu sehen, und Ohren, zu hören, bis auf diesen Tag“ (5. Mo 29,3). Es ist bekannt, dass Mose die ganze Zukunft Israels in den Schlusskapiteln seines letzten Buches, durch Eingebung des Heiligen Geistes vorausgesagt hat. Die Umrisse der Geschichte dieses Volkes sind hier vorgezeichnet. Es sollte ein verblendetes Volk sein, das seinen Gott verlassen und infolgedessen bis an die vier Enden der Erde zerstreut werden würde. Sein Abstieg und sein Abfall sind prophetisch dargestellt. Aber neben all diesen so buchstäblich in Erfüllung gegangenen Prophezeiungen in Bezug auf das, was ihrer wartete, finden wir Weissagungen hinsichtlich seiner Wiederherstellung und künftigen Segensstellung. In den Schriften Moses steht kein Wort, das besagt, Gott werde Israel für immer unter dem Fluch und in dem Zustand belassen, in welchem Er es in Verbindung mit seinen Regierungswegen versetzen musste.
Aus den Propheten finden wir hier eine Stelle angeführt, die dem Buch Jesaja entnommen ist: „ Denn der HERR hat einen Geist tiefen Schlafes über euch ausgegossen und hat eure Augen geschlossen; die Propheten und eure Häupter, die Seher, hat er verhüllt. Und jedes Gesicht ist euch geworden wie die Worte einer versiegelten Schrift, die man einem gibt, der lesen kann, indem man sagt: ‚Lies das doch!‘, er aber sagt: ‚Ich kann nicht, denn es ist versiegelt‘“ (Jes 29,10.11). Wie buchstäblich ist doch dies alles erfüllt worden, indem Israel unter das Gericht der Verstockung (Verblendung) gekommen ist! Augen, und sie sehen nicht; Ohren, und sie hören nicht; sie lesen ihre eigenen Schriften, verehren das Gesetz als den Odem Gottes und erkennen doch den nicht, der des Gesetzes Ende ist (Röm 10,4); hören die Stimme dessen nicht, der in diesem Buch redet. So sind ihre eigenen Schriften tatsächlich ein versiegeltes Buch für sie. Doch soll dieser Zustand für immer bestehen? Ist keine Änderung zu erhoffen? Hat Jesaja, haben die anderen Propheten nichts anderes als Fluch und Verblendung über ein ungehorsames Volk ausgesprochen, für das es keine Hoffnung gibt? Das Gegenteil ist der Fall. Jesaja und die übrigen Propheten Gottes verkündigen nicht bloß, dass Israels Abfall und Gericht nur eine gewisse Zeit andauern werden, sondern ihre Schriften sind voll von herrlichen Ausblicken in eine Zukunft, die diesem Volk noch bevorsteht. Wohl hat eine gewisse, der erleuchtenden Kraft des Heiligen Geistes ermangelnde christliche Auslegung diese Ausblicke in trauriger Weise verdunkelt. Fast allgemein werden diese herrlichen Zukunftsblicke der Kirche zugeschrieben, während Verblendung und Flüche den Juden gelassen werden. Eine derartige unvernünftige Methode, die Bibel zu erklären, bewirkte und bewirkt noch immer die größte Verwirrung. Wir brauchen das Kapitel, dem die soeben angeführten zwei Verse entnommen sind, nicht zu verlassen, wenn wir beweisen wollen, dass das Gericht der Verblendung nicht Israels endgültiger Zustand ist. In den Schlussversen desselben Kapitels (Jes 29) lesen wir die trostreichen Worte des HERRN an sein Volk Israel: „Und an jenem Tag werden die Tauben die Worte des Buches hören, und aus Dunkel und Finsternis hervor werden die Augen der Blinden sehen. Und die Sanftmütigen werden ihre Freude in dem HERRN mehren, und die Armen unter den Menschen werden frohlocken in dem Heiligen Israels. Denn der Gewalttätige hat ein Ende, und der Spötter verschwindet; und ausgerottet werden alle, die auf Unheil bedacht sind,“ (Jes 29,18–20). Das ist eine Weissagung, die sich auf die Zukunft bezieht. „Jener Tag“ ist der Tag, an dem unser Herr in Macht und Herrlichkeit offenbar werden wird, und dem blinden und tauben Volk sind Segnungen verheißen. In den Gesichten Jesajas sind Hunderte von Verheißungen zu finden, die Israel gegeben und die in der Vergangenheit nie erfüllt worden sind.
Die dritte Abteilung der hebräischen Bibel, die Schriften, ist in unserem Abschnitt vertreten durch Anführung einer Stelle aus dem Buch der Psalmen: „ Ihr Tisch werde vor ihnen zur Schlinge, und ihnen, den Sorglosen, zum Fallstrick! Lass ihre Augen dunkel werden, damit sie nicht sehen; und lass ihre Lenden beständig wanken! Schütte deinen Grimm über sie aus, und die Glut deines Zorns erreiche sie!“ (Ps 69,23–25).
David sprach diese Worte aus durch den Heiligen Geist. Der Zusammenhang, in dem sie hier angewandt werden, ist sehr bezeichnend. Nicht David ist es, der hier seine Leiden darlegt, sondern der Geist Christi bezeugt zuvor die Leiden, die in Christus sind und die Verwerfung des Messias durch sein eigenes Volk. „ Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden. Und sie gaben in meine Speise Galle, und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken (Ps 69,21–22). Dies alles wurde in Christus erfüllt. An diese Weissagung dachte Er am Kreuz, als Er sagte, damit die Schrift erfüllt würde: „Mich dürstet!“ (Joh 19,28).
Die Worte der Verwünschung, die nun folgen, und die in unserem Kapitel angeführt sind, zeigen, was das Volk treffen musste, das Ihn so behandelt hatte. Alles ist genau eingetroffen. Doch wird das Volk für alle Zeiten in jenem Zustand der Verwerfung verharren? Soll jener verhängnisvolle Ausruf: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!“ (Mt 27,25) sich immer wieder über alle künftigen Geschlechter auswirken, oder wird ein Tag kommen, an dem die sühnende Kraft des kostbaren Blutes Christi sich an ganz Israel erweisen und Segen an die Stelle des Fluches treten wird? Ein Blick auf die Schlussworte dieses 69. Psalms wird uns auch diese Frage beantworten: „Denn Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen; und sie werden dort wohnen und es besitzen. Und die Nachkommenschaft seiner Knechte wird es erben; und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen“ (Ps 69,36.37). Damit wird uns “die Zukunft Jerusalems und des Volkes mitgeteilt“. Das ganze Buch der Psalmen durchziehen die Lobpreisungen seines erlösten Volkes Israel, nachdem dasselbe zu Gott und in sein eigenes Land zurückgebracht sein und der HERR als König in seiner Mitte wohnen wird. Diese Lobpreisungen beziehen sich natürlich auf die Zukunft; aber die Psalmen sagen uns doch, dass Gott sein Volk nicht für immer verstoßen hat. Wohl hören wir, dass Israel die angedrohte, im Gesetz, in den Propheten und in den Schriften – also in dem ganzen Alten Testament -angekündigte Verstockung widerfahren ist. Aber diese Verstockung (Verblendung) ist weder eine völlige noch eine endgültige. Der Herr, der diese Verstockung über Israel gebracht hat, wird sein Volk noch segnen und alles vollbringen, was Er durch den Mund seiner heiligen Propheten geredet hat.
Im Zusammenhang hiermit möchten wir darauf hinweisen, welch ein Zeugnis für die Wahrheit des heiligen Wortes Gottes das Volk der Juden ist. Es ist eine übernatürliche Tatsache, die von keinem Ungläubigen erklärt werden kann, dass die gesamte Geschichte dieses merkwürdigen Volkes vor Tausenden von Jahren von Gott vorausgesagt worden ist. Der auf ihnen lastende Fluch, der Zustand ihres Landes und der Stadt Jerusalem und noch vieles andere gibt Zeugnis davon, dass die Bibel das Wort Gottes, und dass der verworfene Jesus der ihnen verheißene Messias ist.
Und das Wort Gottes, dessen Fluchankündigung so buchstäblich eingetroffen ist, wird eines Tages – und das wird ein herrlicher Tag sein! – in Bezug auf die Segnungen ebenso buchstäblich in Erfüllung gehen.