Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 123
Zu Beginn ruft hier zunächst ein Einzelner zu dem Gott, der „in den Himmeln“ wohnt, denn bisher steht die Wiederkunft des Messias, des HERRN als Herrscher auf der Erde, noch aus. Bisher werden Seine Knechte von ihrer Umgebung noch verachtet und haben vieles zu erdulden. In den Versen 2 bis 4 wird ihre gemeinsame Not vor den HERRN gebracht. In der Erwartung Seiner gnädigen Hilfe sind ihre Augen auf Ihn gerichtet. Sie wissen, dass Er ein gnädiger Gott ist, und vertrauen darauf, dass Er das Ausmaß ihrer Leiden kennt und ihm eine Grenze setzen wird. Sie sprechen nirgends von Vergeltung, denn Seine Gnade steht im Blickfeld. Zum Zeitpunkt der Errichtung Seines Reiches werden die Widersacher dem HERRN als ihrem Richter gegenüberstehen, sie müssen dann über ihre üble, hochmütige Haltung und ihre Taten Rechenschaft ablegen. In Erwartung des kommenden Herrn lassen sich die Gottesfürchtigen von ihrem Zeugnis als Knechte Gottes auch durch gottlosen Spott nicht abbringen (Vers 4). Eher erfährt ihr Glaube und ihre Hoffnung durch die Erprobung ihrer Belastbarkeit zusätzlichen Auftrieb. Der Unterschied zwischen denen, die Gott lieben, und denen, die Ihn verachten, wird in der Situation dieser Gläubigen sehr deutlich.
Dass der Psalmdichter seine Augen zu Gott erhob, ist ein Zeichen seiner Demut gegenüber dem, der über alles erhaben im Himmel thront (Vers 1). Bei einem Gebet des Glaubens ist die Redeweise und die äußere Haltung nicht gleichgültig, denn die Haltung der Seele tritt darin an den Tag. Der Betende sollte so fest mit Gott rechnen, als ob Er sichtbar gegenwärtig wäre. Offenbar war sich der Dichter angesichts der Hoheit Gottes bewusst, wie klein und gering er vor Ihm als ein Geschöpf auf dieser Erde war. Er glaubte fest daran, dass ein gnädiger, barmherziger Gott auf ihn herabsah und seine Worte zur Kenntnis nahm. Der Unglaube der Gottlosen und der Stolz der Hochmütigen würden sich niemals demütig vor Ihm beugen. Doch gerade dies hält die Seele des Gottesfürchtigen für richtig und beugt die Knie vor dem Herrn.
Vers 2 vergleicht das Charakteristische des Abhängigkeitsverhältnisses von Knechten und Mägden zu ihrem Arbeitgeber mit dem Verhalten der Gottesfürchtigen zu ihrem Herrn. Wie die Knechte und Mägde erwartungsvoll zu ihren Herren aufschauen, von denen sie abhängig sind, so wissen sich auch die Gottesfürchtigen auf den Herrn angewiesen und vertrauen Seiner Führung (Vers 2; Ps 25,15; 145,15). Sie hoffen beharrlich auf Ihn, „bis er uns gnädig ist“, und sind überzeugt, dass Er das Nötige für sie bereithält und ihnen weiterhilft. Wenn dies nicht sofort geschieht, wenden sie sich nicht unwillig von Ihm ab. Als von Ihm abhängige Arbeiter und für Ihn tätige Diener warten sie mit wachen Ohren und Augen auf die Stimme und den Fingerzeig ihres Herrn. Ihre Sinne sind auf Ihn gerichtet (Lk 12,35–38; 1. Pet 1,13ff). Sie denken nicht daran, ihrem Herrn vorzugreifen und eigenmächtig zu handeln. Sie gedulden sich, bis Er Sich ihnen zuwendet. Neben diesem ist es in Vers 2b wohl auch ein flehentlicher Blick, mit dem sie in gespannter Erwartung zu Ihm aufschauen (Lk 18,1.7; Röm 12,11.12; Kol 4,2). Mit ihrem Verhalten bekunden sie ihre Dienstbereitschaft, ihre Abhängigkeit, ihre Demut und ihren Glauben. Sie vertrauen auf Ihn allein. Seine Gnade wird sich ihrer erbarmen.
Die Zukunft der Gläubigen ist von Gott geplant, sie liegt ganz in Seiner Hand. Die Wendung ihrer Geschicke und die Befreiung, die Gott ihnen gewähren soll, sind eine Sache Seiner Gnade und Weisheit. Im vorliegenden Fall (Vers 3) schien der HERR mit Seiner Antwort, mit einer Zuwendung und dem Eingreifen zu zögern. Indessen war nach dem Dafürhalten der Geprüften das Maß der Verachtung, die sie auszukosten hatten, mehr als voll (Neh 1,3; 4,4; Ps 44,14; 80,6f). Dennoch machten sie dem HERRN keine Vorwürfe, sondern überließen die Entscheidung Seinem Willen. Anscheinend waren sie um des Zeugnisses Gottes willen mit Verachtung überschüttet worden. Weil sie als Gläubige in Treue ihren Weg gehen wollten, traf sie der Spott der Widersacher (Vers 4; Heb 11,36). Doch bei alledem verließen sie sich zu Recht darauf, dass der HERR ihnen zu Hilfe kam und sie als Seine Knechte nicht ihrem Schicksal überließ. Seine Gerechtigkeit würde sich darin zeigen, dass Er gegen die sorglosen Spötter und die hochmütigen Stolzen vorging. Die Demütigen hingegen, die Ihm gehorchten und Ihn ehrten, würde Er vor ihnen in Sicherheit bringen. Denn Strafe hatten ihre überheblichen Gegner verdient, nicht dagegen Seine Knechte und Mägde. Im Endergebnis musste das Gericht die Gottlosen treffen: „Und ihr werdet wieder den Unterschied sehen zwischen dem Gerechten und dem Gottlosen, zwischen dem, der Gott dient, und dem, der ihm nicht dient“ (Mal 3,18). Seit jeher kennzeichnen sich die Stolzen und Gleichgültigen durch die Missachtung der Gebote. Sie werden plötzlich von den Strafgerichten Gottes überrascht werden. So war es in den Tagen Noahs und zur Zeit Lots, und „ebenso wird es an dem Tag sein, da der Sohn des Menschen offenbart wird“ (Lk 17,26–30). „So weiß der Herr die Gottseligen aus der Versuchung zu retten, die Ungerechten aber aufzubewahren auf den Tag des Gerichts, damit sie bestraft werden“ (2. Pet 2,9). „Bebt, ihr Sorglosen; zittert, ihr Sicheren!“ (Jes 32,11).