Jerusalem war damals die Stadt des Heiligtums und gleichzeitig der Sitz der Regierung. Gott hatte diese Stadt erwählt, um dort Seine Gegenwart zu offenbaren und sich durch Zeichen kundzutun. Von dort sollte Segen für alle Menschen ausgehen und ein unmissverständliches Zeugnis für Seinen Namen gegenüber allen Völkern. Damals fand die Einheit des Volkes Israel dort regelmäßig ihre Darstellung. Die Gemeinsamkeit des Glaubens kam durch die an heiliger Stätte zur Anbetung versammelten Stämme auf eine lebendige, sichtbare Weise zum Ausdruck. Unter anderem wurde deutlich, dass alle sich der von Gott eingesetzten Regierung und den Rechtssprüchen der Priesterschaft unterwarfen. Jeder beugte sich vor der Autorität des Urteils, das von den dort aufgestellten Thronen des Gerichts ausging (Vers 5). Das Wohl und der Frieden dieser Stadt beruhten nicht zuletzt auf der Anerkennung ihres Vorrangs in geistlicher und in gesellschaftlicher Hinsicht, und ihr guter Zustand wirkte sich auf die Wohlfahrt des ganzen Volkes aus. Wer diese Stadt liebte und ihr Bestes suchte, durfte mit dem Segen Gottes rechnen. Dadurch nützte der Einzelne der Gesamtheit des Volkes und seiner Einheit.
Der Psalmdichter freute sich darüber, dass er die Stätte des Segens gemeinschaftlich mit Gleichgesinnten regelmäßig aufsuchen konnte. Die Liebe seines Herzen galt insbesondere dem Haus des HERRN, um Ihn anzubeten. Bei diesem Wunsch wusste er sich eins mit vielen anderen, deren Herz genauso wie das seine für Jerusalem schlug und deren schönster Weg dorthin führte (Vers 1; Ps 26,8; 34,2–4; 89,16; 119,63; Klgl 1,4). Von entscheidender Bedeutung war, dass der HERR die Tore dieser Stadt liebte (Ps 87,2; 147,13). Ihre Bewohner und die Besucher waren glücklich darüber, sich dort aufhalten zu dürfen (Vers 2; Ps 27,4; 63,3; 84,2–5; 132,7). Der Gedanke an die Gegenwart Gottes zog Viele dorthin. Mit Freuden zogen sie gemeinsam nach Jerusalem, und damit nahmen sie nicht nur eine Pflicht wahr, die das Gesetz ihnen vorschrieb. Sie schätzten diese Stätte als ihre geistliche Heimat und genossen dort eine geistliche Gemeinschaft. In dem zukünftigen Reich Christi, des Messias Israels, wird das Zusammenkommen in Jerusalem und das Hinaufziehen „zum Haus des Gottes Jakobs“ (Jes 2,2–4) eine noch weit größere Bedeutung erlangen. Das Volk als Ganzes wird dann mit vielen Anbetern aus anderen Völkern hinaufziehen, um den HERRN zu verehren. Und dort finden sie schriftgemäße Belehrung und eine Gott gemäße Rechtsprechung (Mich 4,1–4; Sach 8,21–23; 14,16). Die Aussagen des vorliegenden Psalms weisen prophetisch auf diese noch zukünftige Zeit hin.
Den Bauplänen nach war die Stadt Jerusalem „fest in sich geschlossen“ errichtet worden (Vers 3). Die Türme und Tore und die Teilabschnitte der Mauer waren lückenlos miteinander verbunden. Das feste Gefüge war notwendig, damit nichts Schädliches eindringen konnte. Die ringsum verlaufende Mauer mit ihrer Bewehrung machte deutlich, dass es sich hier um ein einheitliches, geschlossenes Ganzes handelte, das alle Unberechtigten und nicht Dazugehörenden draußen hielt; so bot Jerusalem dem Heiligtum und seinen Besuchern Schutz (Ps 51,20; Neh 3). Die Stadt war für das Volk Gottes der geeignete Ort zur Besinnung, und dort konnte man sich auf die Lehre des Wortes und die Anbetung konzentrieren. Die vielen Glieder des Volkes, die aus den verschiedenen Stämmen und Gegenden nach Jerusalem hinaufzogen, erlebten hier, dass sie als Eigentumsvolk des HERRN eine geistliche Einheit bildeten. Dies zu empfinden, diente allen zur Ermunterung und zur Stärkung ihres Glaubens. Durch ihr Erscheinen in Jerusalem folgten sie dem Willen Gottes, und das rief Seinen Segen herab (Vers 4; 5. Mose 12,5; 16,16; Ps 48,2ff; 84,8). Nichts vermag den Geist und die Seele vieler unterschiedlicher Menschen so zu einen wie die verbindende Kraft einer Gott gemäßen Liebe, die jeden Einzelnen in Gottes Gegenwart, in Sein heiliges Haus und in die Gemeinschaft der Gläubigen hineinzieht und sie alle mit dem Band der Liebe und des Friedens umschließt. In dem noch zukünftigen Friedensreich des Messias wird dies von allen regelmäßig erlebt werden. Es wird zur ständig geübten Ordnung gehören, mit vielen anderen den Namen des HERRN zu preisen. Denn der regelmäßige Gottesdienst zählt zu den Kennzeichen des zukünftigen Reiches Gottes auf der Erde, dessen Mittelpunkt Jerusalem sein wird (Ps 95,1–7; 100,2–4). Die Verehrung Gottes im Reich des Messias wird hier vorausschauend beschrieben (Vers 4). Bildlich veranschaulicht das hier Vorgestellte den in unserer Zeit stattfindenden Gottesdienst als Versammlung der Gläubigen.
Vers 5 betont, dass in Jerusalem, wo der Gottesdienst im Heiligtum gepflegt wird, auch „die Throne zum Gericht“ stehen. An diesem Ort ist dem Namen des HERRN ein Gedächtnis gestiftet (5. Mo 17,8–13; 2. Chr 19,8–10). Dem Haus des Heiligtums geziemt Heiligkeit, und die Anbetenden müssen ihr entsprechen (Ps 93,5; 96,6; vgl. Off 21,27). Gott kann nur von gereinigten, geheiligten Menschen an reinem Ort verehrt werden. Die Anbetung muss heute in Geist und Wahrheit, nach Seiner Vorschrift und in heiliger Umgebung stattfinden. Eigenwilligkeit, menschliches Beiwerk, auch Ordnungen, die „angelerntes Menschengebot“ sind (Jes 29,13; Kol 2,23), haben dort keinen Platz. Wer dem entgegen handelt und den Gottesdienst verdirbt, macht sich in einer besonderen Weise schuldig. Er hat die Gebote und die Gegenwart Gottes außer Acht gelassen und sich angemaßt, menschliche Vorstellungen über den Gottesdienst mit dem Namen und den Ansprüchen Gottes in Verbindung zu bringen. Dieses Vergehen wird auch schon in 3. Mo 10,1–5 getadelt und hart bestraft. Die Missachtung Seiner heiligen Nähe zieht zu allen Zeiten Gericht von Seiten Gottes nach sich (1. Kor 11,29f). Die für die Reinheit Seines Hauses Verantwortlichen müssen dem Bösen und Falschen den Zugang verwehren und Verunreinigungen entfernen, sonst werden die Folgen nicht ausbleiben. Dies gilt auch für die jetzige Zeit des Christentums. Denn an der Stätte der Anbetung wird die Autorität Gottes über Sein Volk sichtbar (vgl. 1. Pet 4,17; Off 2–3). Daher stehen neben dem Altar Gottes „die Throne zum Gericht“ (Vers 5). Dort wird der Heiligkeit Gottes gedacht, und man ruft gemeinsam Seinen heiligen Namen an. Dort ist Er Selbst und der Heilige Geist zugegen, und dort erinnert man sich an das furchtbare Gericht Gottes über die Sünde und daran, welch ein schreckliches Leiden um der Sühnung der Sünde willen notwendig war. Daher können an solcher Stätte Sünde und Unreinheit, Gleichgültigkeit und Eigenwille nicht geduldet werden. Der heilige Gott wird es vermerken, ob dem Rechnung getragen wird. Alles andere ist geistliche Empfindungslosigkeit und Unglaube, auch Bedenkenlosigkeit gegenüber der Gegenwart des Herrn. Wenn bei dem Gottesdienst von Christen die Gegenwart des Herrn nicht ernst genommen wird, werden Ungeziemendes und Dinge, die Ihn verunehren, zunehmen, und in der Folge werden sie das schriftgemäße Gute und Richtige verdrängen.
Die heiligen Ansprüche Gottes werden im Alten Testament ausführlich dargelegt, und die Glaubenden waren bereits damals über die Voraussetzungen für einen Gottesdienst in der Gegenwart Gottes belehrt. Das Hinaufgehen zur Stätte des Heiligtums in Jerusalem war für sie ein hochzuschätzendes Ereignis. Sie konnten sich einen Begriff von der Größe der Gnade machen, die ihnen die Anbetung an geheiligtem Ort gestattete. Die Geschichte Israels berichtet, dass einige seiner Könige, beginnend mit David, der heiligen Stätte den obersten Rang einräumten und der Anbetung höchsten Wert beimaßen. Sie stellten die Reinheit und Heiligkeit des Hauses Gottes wieder her und sorgten für seine Instandsetzung. Die Heilige Schrift lobt ausdrücklich ihr Verhalten (2. Chr 24,4; 29,2–3; 34,8ff). Mit vielen Gottesfürchtigen aus dem Volk liebten sie Jerusalem um des Heiligtums und der dortigen Zusammenkünfte willen. Alle freuten sich über den Frieden und die Gemeinschaft, die sie dort miteinander genossen (Verse 6 und 7; 2. Chr 30,21–23; Ps 137,5.6).
Dies wird in dem kommenden Reich Christi, ihres Messias, in erhöhtem Maß und alle Völker einschließend der Fall sein, dann jedoch mit bleibendem Bestand (Ps 53,7; Ps 72; Jer 30,18f; 31,23; Mich 4,1f; Sach 8,18ff; 14,16). Sichere Ruhe und vollkommener Frieden werden das zukünftige Reich kennzeichnen. Dort ist Christus der Herrscher, „der König der Herrlichkeit“ (Ps 24,7–10; 2,6; 29,10f; Jes 24,23; 32,1). Er wird in Gerechtigkeit regieren und durch die Wahrung des Rechts einen vollkommenen Frieden sichern (Lk 22,30). Von Jerusalem ausgehend werden sich die Segnungen Seiner Regierung auf alle Menschen erstrecken. Die Bewohner der Erde werden wahrnehmen, dass das wahrhaft Gute, dessen sich alle erfreuen, in Seiner Macht und Güte begründet ist. Die kommende Friedenszeit hat in Jerusalem ihren Mittelpunkt. Dann beherbergt diese Stadt in der Tat das Haus des HERRN, des Gottes Israels, denn dort hat Christus, der HERR, Seinen Regierungssitz. Jeder ist gehalten, nicht nur zum eigenen Nutzen, sondern auch um seiner Brüder und Weggefährten willen die Stadt und das Haus aufzusuchen, wo der HERR wohnt, und wird ihr Bestes suchen (Verse 8 und 9). Was irgend dieser Stätte dienlich ist, sollte ihr jeder nach Kräften zur Verfügung stellen. Der sechste Vers verspricht ihm Belohnung: „Es gehe wohl denen, die dich lieben!“ Christen sollten gekennzeichnet sein durch die Liebe zum Herrn, durch Liebe zu allen Heiligen und durch eine Liebe, die sie zu dem Ort hinzieht, wo der Herr gegenwärtig ist. Zu dem Begriff ‚Brüder‘ passt sehr gut das gemeinsame Haus sowie der gemeinsame Tempel und die gemeinsame Stadt, wo man in Harmonie als geeintes Volk lebt. Aber ohne den Herrn Jesus Christus, den Mittelpunkt der Stätte des Zusammenkommens, verlieren die Bauwerke ihren geistlichen Wert.