Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 120
Dies ist der erste von fünfzehn Psalmen, die mit der Bezeichnung ‚Ein Stufenlied‘ überschrieben sind. Dem hebräischen Ausdruck wird die Bedeutung ‚Lied der Hinaufgänge‘ zugeschrieben. Ein anderer Vorschlag lautet ‚Lied für Reisende‘. In einem alten syrischen Bibeltext werden die fünfzehn Psalmen als ‚Lieder der Rückkehr aus Babylon‘ bezeichnet. Dem Inhalt der fünfzehn Psalmen ist nicht zweifelsfrei zu entnehmen, welche dieser Deutungen zutreffend sind. Ebenso wenig ist endgültig festzustellen, bei welchen Gelegenheiten (etwa beim gemeinsamen Hinaufziehen nach Jerusalem) die Lieder regelmäßig benutzt wurden. Eine gesicherte Aussage zu diesem Thema ist, dass die in mehreren Gruppen erfolgte Rückkehr aus der Gefangenschaft in Babylon zur Zeit Esras und Nehemias ebenfalls als ein,Hinaufgehen' beschrieben wird. Nun sind der Ort, die Zeit und die Verwendung der ‚Stufenlieder' zu deren Verständnis sicherlich nicht das Wichtigste.
Der Dichter des Psalms 120 möchte seiner gottlosen Umgebung entfliehen, die sich durch Unterdrückung, Lüge, Betrug, feindliche Angriffe und Friedelosigkeit kennzeichnet. Er sehnt sich nach einem unbehelligten Leben in Freiheit unter redlichen, friedfertigen Nachbarn. Dieses Anliegen unterbreitet er dem HERRN und bittet um Erhörung (Vers 1). Die üble Haltung der Bedränger richtet sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen den HERRN. Ihre bösen Taten fordern Gericht heraus. Es geht dem Dichter um die Wiederherstellung der von Gott gewünschten Ordnungen und um die Beseitigung der Übermacht des Bösen und der verderbten, rechtlosen Zustände, die ein normales Leben in Frieden und Sicherheit unmöglich machen. Offenbar hatte der Psalmdichter schon in vergangenen Zeiten die Erhörung seiner Gebete und die rettende Hilfe des HERRN erfahren. Dies stellt er Ihm jetzt vor, weil er im Glauben erneut Erhörung von Ihm erwartet, denn Seine Barmherzigkeit und Seine Fürsorge für die Seinen ändern sich niemals. Er wird sie nicht allein lassen und Seine Hand nicht zurückziehen.
Vers 2 lässt erkennen, dass der Psalmdichter fälschlich verdächtigt wurde und dass Lügen und Verleumdungen über ihn verbreitet wurden. Manchmal machen sich die Lügner dadurch verdächtig, dass sie besonders lautstark betonen, ihre Aussagen seien wahr. Von Lippen der Lüge und Zungen des Trugs wird man kaum anderes zu erwarten haben, als dass sie immer wieder lügen. Von dem Vater der Lüge, dem Teufel, wird der Mensch immerfort betrogen und belogen. Wer lügt, redet sich ein, dass der Angelogene den Täuschungsversuch nicht durchschauen kann, dass er die Wahrheit nicht kennt und den wahren Sachverhalt nicht erfährt. So macht sich der Lügner die Unterlegenheit des anderen und dessen Mangel an Wissen oder Erkenntnisfähigkeit zunutze. Unter anderem entwürdigt er ihn auf diese Art. Die Lüge braucht das Dunkel und die Verborgenheit. Wo Umsicht mangelt und Unkenntnis herrscht, kann sie sich ungehindert ausbreiten. Betrug ist ihr Ziel; sie schädigt die Arglosen. Sie missbraucht immer das Vertrauen des anderen und beabsichtigt, ihn in die Irre zu führen. Mit dieser Aufzählung sind nur einige der vielfältigen Winkelzüge der Lüge genannt. Die göttliche Wahrheit steht in schärfstem Gegensatz zur Lüge, zu ihrem Unwesen und zu ihren Zielen. Das Wort Gottes sagt immer die reine und die ganze Wahrheit, und dies auf gut verständliche, unverstellte Weise (Spr 12,19–22). Es verbreitet Licht und Erkenntnis und stellt das Verborgene ins göttliche Licht. Die Wahrheit des Wortes Gottes bringt dem Leser und Hörer den denkbar größten Nutzen; sie bewahrt ihn vor Schaden aller Art. Die Wahrheit schützt vor Täuschung und weist den rechten Weg.
Der Psalmdichter stand bewusst auf der Seite der göttlichen Wahrheit. In seiner Wehrlosigkeit gegenüber den Bosheiten der Lügner wandte er sich hilfesuchend an den HERRN (Verse 2 und 3). Jede Lüge ist der Feind der Wahrheit. Deswegen hat sie in jedem Einzelfall Gott zum Gegner und Richter. Er antwortet dem Lügner wie auch auf jede Lüge mit Bestrafung (Off 21,8.27; 22,15), wenn auch nicht immer unverzüglich. Nur ein Vorgehen, das auf der göttlichen Wahrheit fest besteht, wird dem Betrug der Lüge erfolgreich begegnen, jedoch nicht mit falschen Mitteln und nicht in fanatischer Weise. Die Zungen der Lüge werden in den Psalmen wiederholt mit scharfen Pfeilen verglichen (Ps 11,2; 57,5; 64,4). Unversehens schwirren sie aus dem Hinterhalt herbei, treffen den Ahnungslosen und verletzen ihn schwer. Das göttliche Gericht verhängt harte Strafen, um den Lügnern klarzumachen, in welch schlimmer Weise sie sich gegen die Wahrheitsliebenden vergangen haben (Jer 9,3–7). Mit ihrer Zunge, der „Welt der Ungerechtigkeit“, haben sie „einen großen Wald“ mit einem Feuer angezündet, das in Wirklichkeit von dem Feind aller Menschen und von der Hölle entfacht worden ist (Jak 3,5–8). Einem auf solche Art entfachten Feuer antwortet der Richter mit „glühenden Ginsterkohlen“, die für immer brennen (Vers 4).
In den Versen 5 und 6 beklagt der Dichter, dass er in einer fremdartigen, hasserfüllten Umgebung zu wohnen gezwungen ist. Die Lügenzunge der Menschen dort verletzt ihn und bringt ihn in Gefahr, ebenso ihre Streitsucht. Manche Gottesfürchtige haben seither unter ähnlichem Druck leben müssen und können die Worte des Dichters nachempfinden: „Wehe mir, dass ich weile in Mesech“ (Vers 5) – ein Hinweis, dass der Psalmist unter einer fremden Nation wohnte. Die Dichterin Adeline Birkel (1832 – 1869) greift in ihrem Lied „Himmelsheimat“ den Gedanken auf: „Himmelsheimat über Sternen droben, Ziel der Sehnsucht hier in Mesechs Land, Ruhplatz derer, die bald aufgehoben, Himmelsstadt, dem Glauben wohlbekannt.“ Für uns gilt heute: Er allein, der „unser Friede“ ist (Eph 2,14), „der Friede Gottes“, kann Herz und Sinn des Gläubigen bewahren (Phil 4,7; Mt 5,44; Kol 3,15). Der Herr lässt widrige Umstände dazu dienen, dass die Seinen vor einem zu wohligen Heimatgefühl in dieser Welt bewahrt bleiben; sie sollen ihren Charakter als „Fremde und ohne Bürgerrecht“ nicht verlieren (Heb 11,13; Phil 3,20). Dabei werden Sanftmut und Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt (Spr 16,32). Eine anhaltende Erprobung (Vers 6) wirkt nebenbei der Neigung zum Hochmut entgegen. Gleichzeitig treibt sie die Geprüften ins Gebet. Durch friedfertiges, rechtschaffenes Verhalten werden sie zu Zeugen für den Herrn, den Friedefürsten (Jes 9,5). Die Friedensliebe des Psalmisten hat die Friedlosigkeit und Streitsucht nicht aus der Welt schaffen können (Vers 7). Die Hoffnung auf eine allgemeine Besserung ist geschwunden. Die damalige Situation spiegelt den moralischen Zustand der Menschheit wider (Jer 9,7; Röm 3,17). Der Christ aber darf Ausschau halten, nach den ewigen Hütten des Friedens: „O mein Jesus! stille bald das Sehnen Deiner Heil'gen, noch im Pilgerkleid, Trockne bald des Heimwehs heiße Tränen, Hol' sie heim in Deine Herrlichkeit“ (A. Birkel, s.o.).