Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 110
In Matthäus 22,41–46 trifft der Herr Jesus die Feststellung, dass dieser Psalm sich auf Ihn Selbst bezieht. Der Herr Selbst sagt unmissverständlich, dass Er der darin beschriebene König und Sohn Davids ist, und dass Er auch der Herr ist, der zur Rechten Gottes sitzt, bis Gott Ihm alle Seine Feinde als Schemel für Seine Füße hinlegt (Vers 1; Ps 99,2–5; Mt 26,64; Apg 2,34.35). Psalm 110 kann man als eine Antwort auf die Anfeindung und Verunehrung ansehen, die dem Herrn Jesus in dem vorhergehenden Psalm 109 prophezeit worden sind. Der vorliegende Psalm beschreibt Ihn nun als den auf den höchsten Platz Erhöhten und Geehrten (Jes 52,13). Die kurzen Worte des Psalms haben eine unerschöpflich reiche Bedeutung. Dies wird dadurch bestätigt, dass dieser Psalm im Neuen Testament zu den am häufigsten zitierten gehört. Mehrere der Zitate sind lediglich Teile der Verse dieses Psalms. Schon vor dem Kommen des Herrn auf diese Erde wurde der Psalm von den Juden als Ankündigung des Messias und als Beschreibung Seiner Herrlichkeit verstanden. Als der Herr Jesus den ersten Vers dieses Psalms in Mt 22,44 anführte, konnte Er voraussetzen, dass Seine Zuhörer einschließlich der Pharisäer und Schriftgelehrten wussten, dass dieses Wort sich auf den Messias bezog.
In diesem Psalm redet Gott Ihn nicht nur als Messias und König über Sein Volk Israel an, sondern auch als Herrscher und Richter über die ganze Welt (Verse 5 und 6; Apg 10,42; 17,31). Obgleich der Psalm mehr als 1000 Jahre früher als die Evangelien niedergeschrieben wurde, ergänzt er deren Bericht über Sein Leben und Wirken, Seine Aufnahme in den Himmel und über das Einnehmen des Platzes zur Rechten Gottes bis hin zu dem Auftreten Jesu als Richter der Welt (Mk 16,19; Apg 7,55f; Röm 8,34). Somit beschreibt der Psalm prophetisch auch den jetzt noch vor dem Herrn liegenden Teil Seines Werkes. Gottes Hand ist nach Ps 80,18 „auf dem Mann deiner Rechten, auf dem Menschensohn, den du dir gestärkt hast“. Der Herr Jesus, der Christus und Messias zur Rechten Gottes, steht bereit, zu einem bestimmten Zeitpunkt der Zukunft mit der Weiterführung Seiner Tätigkeit vor den Augen aller Welt von Jerusalem aus zu beginnen. An diesem zukünftigen Tag werden zunächst die Gerichtsschläge des Zorns Gottes im Gericht über das Böse und über die Feinde Gottes ihren Lauf nehmen. Dies geschieht durch den Messias, den Herrn Jesus Christus. In Seinem Handeln wird dann der Sieg Gottes über jede gottfeindliche Macht sichtbar werden, vornehmlich auch für alle, die sich gegen Ihn erhoben haben. Das Böse wird vor aller Augen gerichtet und beseitigt. Gott und das Gute und Wahre gelangen in Christus zur absoluten Herrschaft. Der Fürst dieser Welt, Satan, hat stets darauf hingearbeitet, dass für diesen angekündigten „Sohn Davids“ auf der Erde kein Platz sein sollte. Der Feind wollte Sein Erscheinen von vornherein unmöglich machen. Als dann der Sohn der Jungfrau, der vorhergesagte „Immanuel“, geboren war, suchte er Ihn sofort zu vernichten (Jes 7,14; Mt 1,21f; 2,7ff; 27,20). Mit dem Einsatz aller Mittel wollte er verhindern, dass ein wahrhaft Gerechter unter den Menschen auftrat, den Gott als Regenten über die ganze Erde einsetzen konnte. Nach den Plänen Satans, der die Weltherrschaft für sich beansprucht, sollte es kein „Volk voller Willigkeit“ geben, ebenso wenig ein Gott wohlgefälliges Priestertum, auch keine dem Herrn gehorsamen Untertanen, keine „Morgenröte“ und keinen „Tau deiner Jugend“ (Vers 3). Satan bekämpft jeden Einzelnen und die Vereinigungen von Menschen, die dem allein wahren Gott dienen und Ihn verehren möchten. Doch vergeblich sucht er den göttlichen Ratschluss zu vereiteln, der durch den Herrn Jesus Christus so zur Wirklichkeit werden wird, wie die Schrift es vorhergesagt hat. Am Ende werden Satan und seine Mitkämpfer unterliegen (Vers 6; Hab 3,13; Römer 16,20). Der Psalm stellt eine überaus weittragende Weissagung des Alten Testaments dar, er redet von Christus, dem Messias, dem ewigen Sohn Gottes.
Der Psalm wird in Vers 1 mit Anmerkung „Spruch des HERRN“ genannt; er ist eine göttliche Weissagung, die sich an den Herrn (heb. Adonai) des Psalmdichters David richtet. Den alttestamentlichen Lesern musste es ein Rätsel bleiben, auf welche Weise der hier angekündigte königliche Sohn Davids zugleich dessen Herr sein konnte. Auf die diesbezügliche Frage des Herrn Jesus wussten die Pharisäer und Schriftgelehrten keine Antwort zu geben (Mt 22,41–46; Mk 12,35–37; Lk 20,41–44). Sie hatten keine Erklärung für die einzigartige, doppelte Bedeutung des Ausdrucks „Herr“, doch die Echtheit dieser Schriftstelle konnten sie nicht in Abrede stellen. Allerdings ist das Verständnis dem Glauben vorbehalten. Nur dem, der an den Herrn Jesus als den ewigen Sohn Gottes und als den Heiland der Welt glaubt und Ihn auch als Sohn Davids anerkennt, wird der Inhalt der hier vorliegenden Prophezeiung verständlich. Dieser Glaube ist eine Gabe der Gnade Gottes (Eph 2,8). Aber die Obersten und Hohenpriester wollten nicht an Jesus, den ihnen von Gott gesandten Messias, glauben; sie lehnten Ihn bewusst ab und brachten Ihn zu Tode (Mk 14,61–64; Lk 22,66–71). Auch nachdem Jesus auferstanden, zum Himmel aufgefahren und „zum Führer und Heiland erhöht“ war, glaubten sie weder dem Zeugnis der Apostel noch dem des Heiligen Geistes und des Stefanus (Apg 5,30–33; 7,54–60). Sie blieben bei ihrem Unglauben, obwohl Jesus unwiderleglich der Nachkomme Davids war und sich durch viele Wundertaten und durch Seine Worte und Sein Verhalten als der Sohn Gottes erwiesen hatte. Er blieb für sie der Elende, Arme und Verachtete, von dem in Psalm 109 die Rede ist. Die meisten wollten nicht wahrhaben, dass der in Psalm 110 angeredete Herr als Person vor ihnen stand. Gott redete zu ihnen in der Person Seines Sohnes, „den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat; welcher, die Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und der Abdruck seines Wesens seiend und alle Dinge durch das Wort seiner Macht tragend, nachdem er durch sich selbst die Reinigung von den Sünden bewirkt, sich gesetzt hat zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (Heb 1,2.3). Dass David durch den Herrn Jesus als der Verfasser des Psalms bestätigt wurde, ist für die richtige Deutung des Psalms wichtig. Durch den Geist Gottes inspiriert, wusste David, dass er einen Nachkommen haben werde, dessen Herrschaft ewigen Bestand in Herrlichkeit hat (Lk 1,31–33.68), und dass er selbst Ihm untergeordnet sein würde.
Das Sitzen zur Rechten Gottes bedeutet völlige Teilhabe an Gottes Herrlichkeit und Autorität, an Seiner Oberherrschaft und Regierung, auch an Seinen richterlichen Entscheidungen. Selbst die denkbar höchste irdische Stellung ist dem Thron des Höchsten im Himmel nicht zu vergleichen. Jesus Christus ist nach dem gerechten Urteil und infolge der Verfügung Gottes auf Seine tiefe Erniedrigung hin auf diesen höchsten Platz erhoben worden (Vers 1; Jes 49,7f; 52,13–15; Dan 7,13.14; Eph 1,20f; Phil 2,6–11; Kol 3,1; Off 5,12.13). „Zu welchem der Engel aber hat er je gesagt: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel deiner Füße?“ (Vers 1; Heb 1,13). Die Engel sind abhängige, dienstbare Geister; sie haben nicht die erhabene Ehrenstellung des Lammes Gottes, „das in der Mitte des Thrones ist“ (Off 7,17). „Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände; alles hast du unter seine Füße gestellt“ (Ps 8,7). Seine Machtvollkommenheit ist eins mit der göttlichen Macht und gleichbedeutend mit ihr. Schon auf dieser Erde redete und handelte Er in demselben Sinne, wie der Vater es vorgesehen hatte (Joh 6,38). Die Mittel und die Werkzeuge des Christus sind diejenigen Gottes. Obwohl Er zugleich der Mensch Jesus bleibt, steht Ihm alles, was Gott hat, zur Verfügung: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16,15); „und alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, mein“ (Joh 17,10). Diese Tatsache ist vor der Welt jetzt verborgen, jedoch nur bis zu dem Zeitpunkt, den Gott mit den Worten bestimmt: „bis ich deine Feinde hinlege als Schemel für deine Füße“ (Vers 1).
Der „Stab deiner Macht“, das Zepter, ist das Symbol der Machtausübung des Herrschers (Vers 2; Ps 2,9; 45,7). Von Zion, das heißt von Jerusalem wird die unüberwindliche Macht des Königs der Könige in der Zukunft ausgehen und unverzüglich in jedem Land der Welt wahrgenommen werden. Der Anblick der sich offenbarenden Majestät des Christus wird so überwältigend sein, dass auf der ganzen Erde jeder Widerstand zusammenbricht. Als der Herr Jesus zur Kreuzigung geführt wurde, war Er von Feinden umringt und scheinbar wehrlos ihnen ausgeliefert als ein von jedermann Verachteter, ein „Abscheu der Nation“ und „Knecht der Herrscher“ (Jes 49,7). Gottes Gerechtigkeit hat in der Zukunft „am Tag deiner Macht“ die damalige Sachlage ins Gegenteil umgewandelt. Alle Ungläubigen und Ungehorsamen stehen an jenem zukünftigen Gerichtstag ihrem Richter gegenüber. Dann werden „die Blutschulden Jerusalems aus dessen Mitte weggefegt“ werden (Jes 4,4; 5,16). Doch schon vor Seinem Wiederkommen wird sich infolge der Züchtigungen, die über dieses Volk in der Zukunft hereinbrechen werden (Jer 30,7–9; Mt 24,21), eine gläubige Schar als Überrest des wahren Israels bilden, die jene große Drangsalszeit überlebt und durch den Glauben an Jesus Christus als ihren Messias gereinigt und geheiligt sein wird (Jes 65,9; Dan 12,1). In jener zukünftigen Zeit („am Tag deiner Macht“ oder: deines Heereszuges, deines Kampftages; Vers 3) ist die Herrlichkeit des HERRN über ihnen aufgegangen (Jes 52,1; 60,1ff). Sie selbst werden dann „in heiliger Pracht“ wie Priester erscheinen, das heißt passend zu Ihm, ihrem Feldherrn und König, der Selbst priesterliche Hoheit besitzt. Mit ganzem Herzen und ganzer Seele dienen sie Ihm voller Willigkeit (Vers 3; Jer 31,33; 32,39; Hes 36,25–27). „Und der Überrest Jakobs wird inmitten vieler Völker sein wie ein Tau von dem HERRN“ (Mich 5,6). Jesaja nennt sie einen „Tau des Lichts“ (Jes 26,19). Als Errettete entsprechen sie ihrem Herrn, der das Licht ist (Joh 8,12; 12,46). Die Finsternis ist vergangen, und mit dem Herrn, ihrem Messias, ist die Morgenröte und das Licht gekommen. Nach langer Nacht erscheinen nun unzählige Tautropfen und glänzen im Licht; Dan12,3 nennt sie „Verständige“. Das Licht, das auf sie fällt, strahlen sie zurück. Die ungebrochene Kraft der Jugend kennzeichnet dieses Volk von Gläubigen. In ihren Herzen frei vom bösen Gewissen und gelenkt durch das Gute, werden sie geführt von dem herrlichen Vorbild ihres Messias. Mit Freuden haben sie teil an Seinem Königtum und an dem, was Er auf der ganzen Erde wirkt. Der HERR erfreut Sich nun an ihnen.
Vers 4 beschreibt die unübertreffliche Würde des Priestertums Christi. Ebenso segensreich, wie Er als ewiger Gottessohn, als Messias und König regiert, wird Er in Ewigkeit als Priester zu unermesslichem Segen handeln. Denn Gott hat mit einem Eid bekräftigt, dass Er durch Christus in ununterbrochener Gemeinschaft mit den durch Ihn geheiligten Anbetern sein will. Dieses Priestertum hat seinen erhabenen Rang dadurch, dass Gott Seinen eigenen Sohn dazu bestimmt hat, die Aufgaben als ihr Priester wahrzunehmen. Dass überhaupt Menschen sich in der heiligen Gegenwart Gottes aufhalten können, ist Christi Verdienst und Werk. Jesus Christus ist der ewige Sohn Gottes. Doch Er ist Mensch geworden. Wie Melchisedek (das ist: König der Gerechtigkeit) in 1. Mo 14, so ist auch Christus „Priester Gottes, des Höchsten“. Melchisedek wird dort zusätzlich „König von Salem“ (das ist: Frieden oder Wohlergehen) genannt. Wie dieser König und Priester, so hat auch Christus keine priesterlichen Eltern oder Nachkommen. Von vergänglichen Einrichtungen unabhängig, ist Er durch Gott in diese Stellung eingesetzt worden und bleibt dort als Priester in Ewigkeit. Durch Christus kommt göttlicher Segen auf diese Erde, wie durch Melchisedek der Segen auf Abraham und dessen gläubige Nachfolger kam. Christus hat weder Anfang noch Ende des Lebens, wie auch von Melchisedek zeitliche Daten weder bekannt sind noch erkundet werden können.
Auch der Prophet Sacharja prophezeit die Herrschaft und das Priestertum Christi im kommenden Reich Gottes: „So spricht der HERR der Heerscharen und sagt: Siehe, ein Mann, sein Name ist Spross; und er wird von seiner Stelle aufsprossen und den Tempel des HERRN bauen. Ja, er wird den Tempel des HERRN bauen; und er wird Herrlichkeit tragen; und er wird auf seinem Thron sitzen und herrschen, und er wird Priester sein auf seinem Thron; und der Rat des Friedens wird zwischen ihnen beiden sein“ (Sach 6,12f).
Ein wesentlicher Teil des Dienstes Christi ist an dem noch zukünftigen Tag des Zorns Gottes zu erfüllen (Verse 5 und 6). Der Gericht Ausübende ist hier „der Herr zu deiner Rechten“ (Herr =hebr. Adonai). Es ist die Autorität und die Macht Gottes, die das Gericht ausführt (Ps 21,8–14; Jes 2,12–21; 24,21; 26,8f; 66,15f; Jer 25,33). Nach Gottes Beschluss muss vor der Errichtung des Reiches auf der Erde das göttlich gerechte Gericht über die ganze Erde kommen, das Seinem Zorn über alle Gottlosigkeit in dieser Welt entspricht. Die jetzige Zeit der Gnade des Christentums ist vorher bereits zu Ende gegangen. In Jes 63,1–6 wird die Furchtbarkeit des kommenden Gerichtstages beschrieben (Ps 2,5.12; 149,7–9). Alle widerstrebenden Mächte dieser Erde stehen unter der Herrschaft Satans, sie müssen niedergeworfen und bestraft werden, bis zuletzt alle Feinde Gottes als Schemel hingelegt sind zu den Füßen Christi, des Messias. Daraufhin herrscht Er uneingeschränkt über die ganze Erde und ihre Bewohner (vgl. Verse 1 und 2). In diesem Psalm ist es Gott, der zu Ehren Seines bisher von den meisten Menschen verachteten Sohnes überaus Beeindruckendes geschehen lässt, damit auf diese Weise die Herrlichkeit des Messias, des Christus, „in heiliger Pracht“ vollendet hervorstrahlt (Vers 3; Ps 8,6; 104,1;111,3). Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Machtposition Satans gänzlich zerstört werden. Sowohl die Ehre und die Herrlichkeit Christi als auch die Gerechtigkeit und die Heiligkeit Gottes verlangen diese Ahndung der bespiellosen Rebellion des Widersachers Christi. Auch der Unglaube und die Verwerfung Christi müssen ihre gerechte Vergeltung finden. Damit der Ratschluss Gottes zum Ziel geführt werden kann, hatte der Herr Jesus einen äußerst schweren Weg zu gehen: Er musste als Mensch auf der Erde Verachtung, Schmach und den Tod erleiden. Doch Sein Gott begleitete und stützte Ihn. Er gewährte Ihm Augenblicke der Erholung und ließ Ihn „auf dem Weg“ auch erfreuliche Erfahrungen machen (Vers 7; Jes 42,1–4; Lk 10,38f; Joh 11,1f).