Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 108
Der Psalm besteht aus zwei Teilen, die vorhergehenden Psalmen entstammen. Jeweils die zweite Hälfte der Psalm 57 und 60 ist dort entnommen und hier zusammengefügt worden. Dennoch hat Psalm 108 eine eigenständige Blickrichtung. In Psalm 57 geht dem hier wiederkehrenden Teil (dort Vers 8–12; hier zitiert als Vers 1–6) eine persönliche Bitte um Gnade und um Rettung vor dem drohenden Verderben voraus. Der Dichter wendet sich in Psalm 57 an Gott in dem festen Vertrauen, dass Er vom Himmel her gegen seine Feinde einschreiten und das erreichen wird, was dem Bittsteller selbst unmöglich ist. Er ist überzeugt, dass Gott sowohl in Güte als auch in Wahrheit handeln und sich durch Macht und in Herrlichkeit offenbaren wird. Die erste Hälfte des Psalms 60 endet mit der Bitte um Befreiung und Rettung, obwohl die Bittenden sich eigentlich dazu unwürdig gezeigt hatten. Auch dort wird klargestellt, dass sich Gottes Eingreifen nur in Gnade, in Gerechtigkeit und Macht vollziehen kann, so dass Sein Name verherrlicht wird. Was zu der Zeit, als die Bittpsalmen 57 und 60 gedichtet wurden, noch eine Sache der Glaubenserwartungen war und den Fügungen Gottes anheimgestellt werden musste, ist im vorliegenden Psalm 108 bereits erlebte Geschichte, daher kommt es hier zu Lob und Dank für die erwiesene Hilfe (Verse 4f und 8–14).
Die Wiederholung von Teilstücken früherer Psalmen mag zunächst unverständlich erscheinen. Indes ist die Wiederholung von Bitten nichts Außergewöhnliches, denn auch heute entsprechen manche Gebete des Glaubens aus vergangenen Zeiten im Kern unseren heutigen Verhältnissen, wiewohl sich die äußeren Umstände gewandelt haben. Die persönlichen Anliegen heute sind oft von gleicher Art wie in damaliger Zeit; ebenso die Glaubenshaltung. Zudem bleibt Gott immer Derselbe und wird in unveränderlicher Güte und Wahrheit antworten. Im Übrigen ist die Zusammenfügung der aufeinander zugeschnittenen Bestandteile der beiden früheren Psalmen zu diesem Psalm 108 passend und gereicht zu Gottes Ehre, die immer den Vorrang hat. Der Beter tritt hier im Glauben und in gebührender Haltung vor Gott hin und vertraut auf Ihn. Er erfährt Gottes Barmherzigkeit und erlebt, dass Gott zu seiner Rettung und Segnung aufbricht (Verse 6 bis 8).
Der Psalm ist insgesamt ein Triumphgesang, obgleich bei seiner Abfassung der Sieg anscheinend noch nicht endgültig errungen war. Aber der Glaube des Beters ist vom göttlichen Eingreifen sichtlich überzeugt. Das kommt besonders von Vers 8 an zum Ausdruck. Es wird deutlich, dass der Psalmdichter selbst mit der Regierung und mit der Heerführung betraut war. Ganz bewusst stellte er sich auf Gottes Seite, daher war er sicher, Ihn auch auf seiner Seite zu haben. Für seinen Glauben sind die Gegner bereits vor dem Beginn der Auseinandersetzungen besiegte Mächte. Die heute noch in der Zukunft liegenden Verhältnisse beim Wiederkommen des Christus als Messias und König Israels lassen sich mit der hier beschriebenen Sachlage in Zusammenhang bringen. In jener kommenden Zeit wird ein Teil des Volkes Israel aus aufrichtigen Gottesfürchtigen bestehen, die Christus als Messias und Erlöser aus großer Not erwarten. Ihr Herz ist im Glauben gefestigt wie kaum zuvor in ihrer zurückliegenden Geschichte als Volk. Was sie aufgrund der Schriften im Glauben ins Herz aufgenommen haben, beginnt sich in jeder Hinsicht zu bestätigen, und ihr Vertrauen auf Gottes Treue rechtfertigt sich. Nichts kann sie von ihrer Überzeugung abbringen. Sie alle sind in einer Stimmung, die die nahende Rettung wie die Morgenröte erwartet, und dies zu Recht. Denn ihr Gott hat begonnen, Seine Oberhoheit über die Völker der Erde kundzugeben, indem Er für alle ersichtlich auf der Seite Seiner Geliebten steht. „Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erkannt hat“ (Röm 11,2). Nun entfaltet sich die herrliche Größe Seiner Gnade vor ihren Augen, „denn groß ist deine Güte über die Himmel hinaus, und bis zu den Wolken deine Wahrheit“ (Vers 5; Ps 36,6; 103,11). „Und sie singen das Lied Moses, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes und sagen: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger, gerecht und wahrhaftig deine Wege, o König der Nationen!“ (Off 15,3).
So vollenden sich die Wege Gottes mit Seinem irdischen Volk. Vor den Augen aller Nationen wird offenbar, dass Er Israel als das Volk Seiner Wahl bevorzugt. Die Absicht Immanuels, Seine Geliebten zu befreien, stimmt mit der Bitte Israels in Vers 7 überein, und unverzüglich wird Er als ihr Messias zur Rettung Seines Landes und Volkes auftreten und Seine Ansprüche geltend machen (Vers 8; Jes 8,8–10; Lk 1,54). Dann haben die gläubigen Juden allen Anlass zu Lobeserhebungen, denn ihre Siegesgewissheit wird zusehends zur Wirklichkeit. Durch die Macht Immanuels nehmen sie nun das Erbteil in Besitz, das der HERR ihren ersten Vorvätern verheißen hatte (Vers 9). Alles Böse, das sich gegen Gott erhoben hat, wird aus dieser Welt entfernt werden. Die Völker der Erde müssen sich bedingungslos dem HERRN, dem König Israels, unterwerfen. Keine Festung und keinerlei Gegenwehr kann vor Ihm standhalten (Verse 10 bis 12). An der Durchführung der Absichten Gottes und an der Wiederherstellung der göttlichen Ordnungen auf der Erde wird Israel einen eigenen Anteil haben, und darüber freuen sie sich: „Mit Gott werden wir Mächtiges tun; und er wird unsere Bedränger zertreten“ (Vers 14). Zu den notwendigen Gerichtsurteilen in der kommenden Endzeit und zu den Umwälzungen danach ist von menschlicher Seite nichts beizutragen. Menschen können niemand für die Ewigkeit retten und ebenso wenig vollkommen neue Lebensbedingungen hervorrufen. Nur Christus, Israels Messias, vermag alle Dinge dauerhaft zum Guten zu wenden, Er wird Seinem Volk Hilfe verschaffen, wie auch jedem, der auf Ihn vertraut und sich Ihm unterwirft. Er ist es, der den Glaubenden Stärke und Sieg gibt, wie Israel es in den vergangenen guten Zeiten erfahren hatte, als es dem HERRN gehorchte.