Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 103
Der Psalm möchte in ein weites Blickfeld einführen und geistliche Einsicht vermitteln. Gott kommt hier dem gottesfürchtigen Menschen mit dem Reichtum Seiner Güte und mit der Offenbarung Seines Wesens entgegen. Ohne Schwierigkeit finden daher die Gläubigen des alten Bundes und ebenso die des Neuen Testaments ihre Lebenslagen in diesem Psalm wieder, und ihre Seele wird zum Loben und Preisen des HERRN gestimmt. Was sie im Glauben an Ihn erfahren haben, spiegelt sich hier wieder, und das Vertrauen darauf, dass Gottes väterlich fürsorgliche Liebe zu immer neuen Wohltaten bereit ist, wird gestärkt. Der Glaubende wird noch sicherer darin, dass Gottes Treue ihn begleitet und ihn niemals fallen lässt. Der Psalm enthält keine Bitten. Gleichwohl gibt er dem Gottesfürchtigen vermehrte Gewissheit, dass er erhört wird, sobald er um Hilfe bittet. Der Psalmdichter sucht die Nähe des HERRN und die Übereinstimmung mit Ihm in allem Denken und Handeln. Mit Ehrerbietung blickt er auf Seine Heiligkeit und Majestät. Mit Dankbarkeit erinnert er sich der Taten Gottes. Das über alles erhabene Wesen Gottes und die Beweise Seiner Liebe veranlassen ihn zur Anbetung. Dabei ist er sich in Demut seiner menschlichen Schwachheit bewusst. Der Dichter berichtet nicht über eigene Erfahrungen. Überhaupt spricht er nicht selbstbezogen, sondern unterweisend und ermunternd zu Gläubigen aller Zeiten. In erster Linie stellt er das herrliche Wesen Gottes vor, wie es denen gegenüber offenbar wird, die in Gottesfurcht leben und Ihn lieben.
In den Versen 1 und 2 fordert der Psalmdichter seine eigene Seele auf, den HERRN zu preisen und Seine Wohltaten nicht zu vergessen. Das setzt die Versöhnung und den Frieden mit Gott voraus. Offenbar ist der Dichter gewohnt, über die Güte des HERRN mit Dankbarkeit nachzusinnen. Wünscht man von Herzen, Gott Lob und Dank zu bringen, dann ergibt es sich wie von selbst, dass man eine ehrerbietige Haltung einnimmt, die sich in Anerkennung der Heiligkeit und Majestät Gottes in Demut vor Ihm niederbeugt. Der Anbetende wird Gott mit Hingabe und mit aller geistlichen Energie nahen, die sein Herz aufbringen kann. ‚Deine Urteilskraft preise Ihn mit dem, was mit Seinem Wort übereinstimmt. Dein Denkvermögen preise Ihn durch reines, heiliges Sinnen. Deine Neigungen mögen Ihn preisen, indem du liebst, was Er liebt. All dein Trachten preise Ihn, indem du nur Seine Ehre suchst. Dein Gedächtnis preise Ihn, indem du nicht vergisst, was Er dir Gutes getan hat, und indem du über Seine Vortrefflichkeiten nachdenkst und ausschaust nach der Herrlichkeit, die noch offenbart werden soll. Dies muss geschehen in treuer Ergebenheit, in der Wahrhaftigkeit deiner Worte und durch Redlichkeit und Unangreifbarkeit in deinen Taten‘ (John Stevenson 1856). Die sich dazu bietenden Gelegenheiten, auch im gemeinsamen Gottesdienst, gilt es zu ergreifen. So können wir Seiner erhabenen Person unsere Verehrung bezeugen, „redend zueinander in Psalmen und Lobliedern und geistlichen Liedern, singend und spielend dem Herrn in eurem Herzen, danksagend allezeit für alles dem Gott und Vater im Namen unseres Herrn Jesus Christus“ (Eph 5,19.20). Für den, der Gottes Güte und vergebende Gnade kennengelernt hat, ist es eine heilige Verpflichtung, seinen Erlöser und Herrn mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele zu verehren. Niemand kann dem Herrn die Fülle Seiner Wohltaten angemessen vergelten. Doch der über allem Erhabene liebt die Bezeugung echter Dankbarkeit durch die Treuen, die Seine Wohltaten nicht vergessen haben. Er sucht wahrhaftige Anbeter, die Ihn in Geist und Wahrheit anbeten (Joh 4,23f). Hilfreich ist dabei ein weitgehendes Verständnis darüber, wer Er ist und wie groß der Reichtum der Gnade ist, die man von Ihm empfangen hat (Eph 1,3ff).
Die Verse 3 bis 5 sprechen von fünf verschiedenen Segnungen, die der Heilige Geist dem Gottesfürchtigen hier verheißt. Der Psalmdichter hat die Wahrheit dieser Schriftworte im eigenen Leben erfahren, und dadurch hat er das Wesen und Handeln Gottes vermehrt kennengelernt. Jeder dieser drei Verse enthält Zusagen der Gnade Gottes, die für das Glaubensleben entscheidend sind. Wirklich erlöst und frei von jeder Not des Gewissens ist der, dem Gott nicht nur manche, sondern alle seine Ungerechtigkeit vergeben hat (Vers 3), denn nur dann bleibt er vom Gericht Gottes, dem ewigen Verderben, verschont. Nicht wir selbst, sondern Gott allein kennt alle unsere Verfehlungen und Sünden. Nur Er kann sie so vergeben, dass wir vollkommen von der Sünde gereinigt sind. Auf Seine Gnade, die auch das uns nicht Bewusste kennt und vergibt, bleibt ein Bußfertiger immer angewiesen, selbst wenn er von sich aus alles, was ihm bewusst wurde, vor Gott bekannt hat (Ps 19,13). Zudem kennt nur Gott das Ausmaß und die Folgen einer Schuld, auch wenn der Bereuende seine Sünde wirklich eingesehen hat und Gott gemäß darüber betrübt ist. Auf eine alles erfassende Weise Sünden zu vergeben, kann daher nur Gott allein. Nur der Gesetzgeber und Richter Selbst kann die Gewissheit verleihen, dass eine Schuld restlos getilgt ist (Vers 3; Ps 32,5; 130,4.8; Jes 43,25; Eph 1,7). Außerdem ist göttliche Vergebung endgültiger Natur; daran ändert sich niemals etwas (Heb 8,12). Als zweite Segnung vermerkt Vers 3 die Heilung aller Krankheiten. Wenn es auch wahr bleibt, dass Gott heute noch jede Krankheit heilen kann, so bezieht sich diese Stelle doch auf das tausendjährige Friedensreich, wenn Gott sein Volk Israel von Krankheit und Gebrechen befreien wird und diese Folgen der Sünde auf dieser Erde nicht mehr sichtbar sein werden. Völlige Befreiung wird jedem Gläubigen in der Ewigkeit zuteil. Jeder Glaubende wird dann ein ewiges und vollständiges Heil genießen. Körperliche Schäden und Hinfälligkeit wird es nicht mehr geben. Von den Folgen der Sünde und von dem Treiben Satans wird nichts zurückbleiben.
„Von der Grube erlöst“ ist derjenige (Vers 4), der an das Wort Gottes glaubt, der auf Gott als den Erlöser und Retter seines Lebens vertraut. Mit dem Ausdruck „Grube“ ist der Tod und das Grab gemeint (Ps 30,4.10; 68,21; Jes 38,17; Dan 12,2.13; 1. Kor 15,53–57; 2. Kor 1,10). Wer glaubt, wird ewigen Bestand haben und niemals beschämt werden; er wird mit Güte und Erbarmungen gekrönt werden (Vers 4b; Ps 113,7f). Für immer wird der Gläubige zur Ehre des barmherzigen Gottes sich dieser Krönung erfreuen, die ein ewig leuchtendes Kennzeichen der Liebe Gottes, des Vaters, und Seines Sohnes Jesus Christus ist. Doch auch in der Jetztzeit erlebt der treue Gläubige die segnenden Hände des himmlischen Vaters, der seine Lebenstage mit Gutem sättigt (Vers 5a). Das beschränkt sich nicht auf irdische Dinge, sondern meint vor allem geistliches Gut. Für jedes Seiner begnadigten Kinder hält Gottes Güte das, was ihnen fehlt, schon bereit. Auch der gläubige Christ wird in seinem Leben durch Schwachheit, Alterserscheinungen und Krankheit geprüft und hat darunter zu seufzen. „Deshalb ermatten wir nicht, sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfälltO. verzehrt od. aufgerieben wird, so wird doch der innere Tag für Tag erneuert“ (Vers 5b; 2. Kor 4,16; Jes 40,31). Aber nachdem er das Sterbliche abgelegt hat, bekommt er einen unsterblichen Leib. Er hat dann „einen Bau von Gott..., ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln“ (2. Kor 5,1). Das Alter hat in der Regel den angenehmsten Teil des Daseins hinter sich. Indessen erblickt der Gläubige die vor ihm liegende Herrlichkeit. Ihn erwartet eine wunderbare Zukunft bei seinem Herrn, die alles Irdische überstrahlt.
Die Verse 6 bis 12 beschreiben die gerechte und zugleich barmherzige Handlungsweise Gottes gegenüber den Gottesfürchtigen, die Ihn lieben. Offenbar ist es Seine Freude, ihnen vielfältige Gnade zuzuwenden. Auf Seinen Wegen mit den Menschen schreitet der HERR zu Seiner Zeit gegen Gewalt und Bedrückung ein und lässt Seine Oberhoheit durch gerechte Vergeltung erkennen (Vers 6; Ps 9,16–21; 35,10; 89,14.15; 146,7–10). In diesem Sinn handelte Er zur Zeit Moses sowohl den Ägyptern als auch Israel gegenüber (Vers 7; 2. Mo 3,7–9; Ps 106,8). Mose lernte dadurch die göttlichen Absichten und Wege kennen, und das ganze Volk sah das göttlich Große und Wunderbare Seiner Taten (Ps 111,6–9; 2. Mo 14,30f; 15,2). Gottes Langmut gewährte den Ägyptern eine Frist zur rechtzeitigen Umkehr, in deren Verlauf Er sie durch anhaltende Gerichtsschläge davor warnte, Seine Oberhoheit weiterhin außer Acht zu lassen. „Langsam zum Zorn und groß an Güte“ zeigte Er Sich bald darauf angesichts der Verfehlungen Israels (Vers 8; Ps 86,5.15; Jes 55,7; Joel 2,12–14). Jeder Mensch, der Gottes Gnade erfahren hat, hat Seine Langmut und Seine grundsätzliche Bereitschaft kennengelernt, dem bußfertigen Schuldigen zu vergeben. Wenn Gott Zucht ausgeübt hat, verschließt Er Sich danach nicht demjenigen, der sich einsichtig zeigt. Auch kürzt Er im gegebenen Fall die Züchtigungen ab (Vers 9; Neh 9,17; Jes 28,24f: 48,9.10; 54,7.8; 57,16; Mich 7,18). Jeder Begnadigte wird wie Israel bekennen müssen: „Er hat uns nicht nach unseren Sünden getan und uns nicht nach unseren Ungerechtigkeiten vergolten“ (Vers 10; Esra 9,13). „Oftmals wandte er seinen Zorn ab und ließ nicht erwachen seinen ganzen Grimm“ (Ps 78,38). Seine Bereitschaft, jemandem zu vergeben und ihn zu begnadigen, ermutigt den Umkehrwilligen, mit seinen Sünden zu Ihm zu kommen. Wenn wirkliche Ehrfurcht vor Ihm vorhanden ist und Er als göttlicher Richter anerkannt und gefürchtet wird, lässt Er Seine Güte so groß und gewaltig hervortreten, wie die Himmel hoch über der Erde sind, und die Begnadigten rühmen diese Tatsache mit Dankbarkeit (Vers 11; Ps 36,6). Wenn Gott vergibt, dann vergibt Er völlig und für immer. Wie die Entfernung des Ostens vom Westen für uns nicht messbar ist und unbegreiflich bleibt, so über die Maßen weit „hat er von uns entfernt unsere Übertretungen“ (Vers 12; Jes 38,17; Jer 50,20). Indessen zeigt sich Seine Barmherzigkeit keineswegs in einer Weise, die großmütig über Sünden hinwegsieht, als wären sie geringfügig oder gar nicht geschehen. Deshalb erteilt Er die Begnadigung ausschließlich solchen, deren Gottesfurcht echt und wahr ist. Daraus erklärt sich die dreimalige Wiederholung der Bedingung „die ihn fürchten“ in den Versen 11 bis 17. Sündigt jemand mit der Nebenabsicht, später die Gnade in Anspruch nehmen zu wollen, dann ist das ein übler Missbrauch der Gnade. Obwohl der Betreffende Gott kennt, fürchtet er Ihn nicht, sondern verachtet Ihn auf eine schlimme Weise (Röm 6,1). Gottes Segnungen sind allumfassend, sie entspringen Seiner Liebe. Aber der Mensch schließt sich selbst allzu oft davon aus.
Die Verse 13 bis 18 schildern Gottes Erbarmen angesichts der Hilfsbedürftigkeit Seiner Kinder, die in wahrer, enger Beziehung zu Ihm stehen und Ihn fürchten, „die seinen Bund halten und sich an seine Vorschriften erinnern, um sie zu tun“ (Vers 18). Er kennt und liebt die Seinen, wie ein Vater seine Kinder liebhat. Dass Gott mit einem „Vater“ verglichen wird (Vers 13), ist im Alten Testament eher eine Seltenheit, denn das enge Verhältnis zwischen Gott als Vater und Seinen Kindern war damals nicht in demselben Sinn offenbart, wie es jetzt in der Gnadenzeit des Christentums der Fall ist. Indessen war den in der Bergpredigt (Mt 5,16) angesprochenen Gläubigen der Vatername aus dem Alten Testaments offenbar bekannt. Der Name „Vater“ betont zugleich das Außerordentliche der Verbindung des Erhabenen mit schwachen Menschen, die Ihn fürchten und Ihm gehorchen. Eine derart enge Beziehung zu Menschen herzustellen, die Staub sind und deren Tage wie Gras sind, ist ein überaus bemerkenswerter Teil des Ratschlusses Gottes. Denn Seine Güte muss sich sehr tief herabneigen, um sich mit solchen zu verbinden, die durch einen Windstoß vernichtet werden können und die nach schönster Blüte so rasch verwelken „wie die Blume des Feldes“ (Verse 14 bis 16; Jes 2,22; 40,6f; 1. Pet 1,24). Doch Seine Güte hat beschlossen, geringe, schwache Menschen, die Ihn lieben, in Seinem Haus zu pflanzen, sie wachsen und sprossen zu lassen, so dass sie in Seinen Vorhöfen blühen (Ps 52,10; 92,13.14). Den Weg jedes einzelnen Gottesfürchtigen kennt Er und sorgt dafür, dass ihr Blatt nicht verwelkt (Ps 1,3). Aufgrund ihres Glaubens hat Er sie durch die Gerechtigkeit Seines Sohnes Jesus Christus zu Gerechten gemacht. Für Gott sind sie nun „ein Spross meiner Pflanzungen, ein Werk meiner Hände, zu meiner Verherrlichung“ (Jes 60,21). Für sie hat Er Wohnungen in Seiner Nähe bereitet, und dafür sind sie bereits jetzt als Bewohner eingeschrieben. Über ihnen allen ist die Güte des HERRN von Ewigkeit zu Ewigkeit (Vers 17). Ihnen gilt Seine väterliche Fürsorge in besonderer Weise. Diese Treuen, die Ihn lieben und Seine Gebote halten, werden in besonderer Weise gesegnet (Vers 18).
Der Ausblick zu Himmelshöhen hinauf und bis in die Ferne hinein in den Versen 19 bis 22 gilt denen, die Ihm gehorchen und mit denen Er Seinen Namen verbindet. Daraus schöpfen sie ihre Hoffnung. In Seinem zukünftigen Reich richtet sich alles nach Seinem Willen, denn der Thron des HERRN steht fest sowohl im Himmel als auch auf der Erde. Der Einfluss Satans und der Sünde ist zu Ende. Alle Macht, aller Ruhm und alle Ehre gehören dann allein dem HERRN, der zugleich der wahre Sohn Davids ist (Ps 29,1–2; 89,3–6; Dan 7,14). Alle Verhältnisse sind in Seinem Reich Gott gemäß wiederhergestellt und unveränderlich gefestigt. Niemals mehr wird ein störender Einbruch geduldet werden. Die Werke der Schöpfung und alle geschaffenen Wesen im Himmel und auf der Erde dienen fortan Seiner Verherrlichung und erhöhen das Lob des HERRN. Gemeinsam preisen sie Ihn und gemeinsam dienen sie Ihm. Trotz der Vielstimmigkeit ihres Lobes und ungeachtet ihrer unterschiedlichen Art sind sie eines Sinnes und bilden ein Ganzes. In vollkommener Harmonie ehren Sie Ihn durch ihren willigen Gehorsam (Verse 20 bis 22; Ps 148; Heb 1,6–9; Off 5,13). Die ganze Schöpfung bezeugt die Herrlichkeit Gottes, Seine Hoheit und Weisheit und Seine Herrschaft und Majestät. Jeder, der seine Stimme nutzen kann, um in das Lob einzustimmen, dient dem Ruhm Gottes, dem eigentlichen Ziel dieser Schöpfung, und hat Anteil an dem Sinn und Zweck des Ganzen (Vers 22; Ps 145,10–13).
Göttliche Kraft und Schönheit werden sich einst in ungeahnter Weise in den Werken Gottes, aber auch durch Seine Diener entfalten, denn sie sind Sein Werk. Alles ist vollkommen zu Gottes Wohlgefallen, und dies für immer. Vergängliches wie die Materie, Verwelkendes wie der jetzige Mensch, Grabstätten und Ähnliches gibt es dann nicht mehr, denn das entspräche nicht der Vollkommenheit der in diesem Psalm verheißenen Gnadengeschenke. Wenn „alle seine Werke“ Ihn preisen (Vers 22), dann beinhaltet dies, dass die ganze Schöpfung, alle Ereignisse und Kräfte insgesamt unter Seiner Herrschaft stehen. Nur dann ist alles zu Seiner Ehre.