Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 101
Güte und Recht will der Psalmdichter besingen. Denn Gnade und Gerechtigkeit sind grundlegend für die Herrschaft Gottes, sie kennzeichnen die Durchführung der göttlichen Regierungsgrundsätze (Vers 1; Ps 25,5.6; 72,1–4; 89,2ff; 99,4; 2. Sam 9,1; Spr 16,12; 20,28; Jes 11,1–5; Mich 6,8). Gott hat auf der Erde die Pflege des Rechts den Regierungen übertragen. Sie haben die Vollmacht, Richter einzusetzen, die über Recht und Unrecht zu entscheiden haben (Röm 13,1–7). Am Rechtsempfinden des Königs David legt der vorliegende Psalm beispielhaft dar, wie der Verantwortliche die ihm übertragene Aufgabe erfüllen kann. Davids Ehrfurcht vor Gott und seine Handlungsweise am Regierungssitz und unter dem Volk legen ein beredtes Zeugnis davon ab, dass er seine Pflichten vor Gott und Menschen verantwortungsbewusst wahrnahm. Die Gesinnung und die Grundsätze, die ihn dabei leiteten, sind im vorliegenden Psalm aufgeschrieben. Für ihn war grundlegend, dass er in allen Einzelheiten der Rechtspflege von Gott abhängig blieb. Das dazu notwendige Erkennen musste sich auf Gottes Weisheit stützen. Der zu beschreitende Weg musste den im Wort vorgezeichneten Wegen Gottes entsprechen. Nur auf diesen Pfaden des Rechts wollte er sich bewegen. Bei allem, was David in dieser Hinsicht unternahm, musste Gottes Ehre gewahrt werden. Die Sorgfalt, die er diesen Grundsätzen zuwandte, galt zunächst den Vorgängen im eigenen Haus und in seiner Umgebung; doch im gleichen Maß hatte er sie im Gemeinwesen des Staates anzuwenden. Er war entschlossen, nicht außer Acht zu lassen, dass Gott allgegenwärtig ist und dass Ihm nichts verborgen bleibt. Er war gewillt, auf dem zu bestehen, was Gott will, und den göttlichen Willen auszuführen, indem er nach göttlichem Wort und Gesetz handelte.
David legt seine Beschlüsse in diesem Psalm in Form eines Gelöbnisses nieder. Er wird es nicht bei guten Vorsätzen und einem ordnungsgemäßen Regierungsprogramm bewenden lassen, sondern die Beschlüsse in die Tat umsetzen. Dazu sind Tatkraft, Wahrheitsliebe und Treue notwendige Voraussetzungen, auch lautere, reine Beweggründe, die vor Gott bestehen können (Vers 2). Zu alledem bedarf es, dass Gott ihm Weisheit schenkt, auch gerade dann, wenn im Einzelfall zwischen Güte und Strenge abzuwägen ist. Höchste Anforderungen betreffs der persönlichen Lebensführung treten an den Regierenden selbst heran. Allen gegenüber hat der Richtende sich unparteiisch und rechtschaffen zu verhalten. Gott gegenüber muss er demütig und ehrfürchtig leben und Seine heilige Nähe suchen. In Anbetracht der eigenen Schwachheit wird er nicht übersehen, dass in seinem Innern neben gutem Willen und geistlicher Einstellung auch der Hang zur Sünde vorhanden ist und wirken will. Satan sucht sich dies zunutze zu machen und den Frommen zu Fall zu bringen. Auch als Regent hatte David die gnädige Bewahrung durch den Herrn sehr nötig; dies zeigen die Berichte der Schrift über sein Leben. Die im vorliegenden Psalm behandelten Regierungsrichtlinien sind für die nachfolgenden Könige schriftlich niedergelegt worden. Unter ihnen mangelte es in der Folgezeit weit mehr als im Leben Davids am treuen, gottesfürchtigen Wandel (Vers 2; Ps 78,72; 1. Kön 9,4). Der einzige Vollkommene unter den Söhnen Davids ist Jesus Christus, der ohne Fehl und Flecken Gott und Menschen gegenüber stets auf dem heiligen Weg zur Verherrlichung Gottes blieb. Die Gott gemäßen Regierungsgrundsätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie die vollkommene Regierung des Sohnes Gottes, der zugleich Davids Sohn ist, prophetisch vorbilden. Im Reich des Messias auf der Erde (Jer 23,5.6) werden einst alle Dinge in Gott gemäßer Weise wiederhergestellt sein. Die Rechtsverhältnisse werden dem entsprechen, was in diesem Psalm aufgezeichnet wurde und zugleich eine Verheißung für eine weit bessere Zukunft ist.
In den Versen 3 bis 7 präzisiert David seine Vorsätze bezüglich der Dinge und der Personen, die ihn umgeben und Einfluss auf ihn und auf andere erlangen können. Böse Dinge und Verhaltensweisen, die sich mit Gott nicht vereinbaren lassen, und Menschen, die eine üble Gesinnung erkennen lassen, wird er aus seiner Gegenwart und aus dem Land entfernen (Vers 5; Spr 20,19; 21,4). Damit erreicht er, dass üble Einflüsse keinen Schaden anrichten, sondern Gottes Grundsätze im Land wirksam sein können. Er nimmt sich vor, die konsequente Absonderung von Übeltätern aufrechtzuerhalten, damit der heilige Gott zum Segen des Landes unter ihnen wohnen kann. David sieht sich verpflichtet, in den Grenzen des Gebiets, das seiner Verantwortung unterliegt, Gottes Rechte zu wahren. Er wird nur solche in seinen Dienst stellen, die mit aller Energie in lauterer Gesinnung den guten Weg einhalten und dem HERRN treu bleiben (Vers 6; Ps 16,3; 119,63; Dan 6,4.5). Die innere Übereinstimmung betreffs des Guten ist die Voraussetzung für echte äußere Gemeinschaft. Sie wirkt sich zur Ehre des Herrn aus und ist nützlich für alle. Nach der Lehre des Neuen Testaments sind solche „Diener“ dem Herrn Jesus wohlgefällig (Joh 12,26; Kol 1,7; 1. Tim 4,6f). Sie sind in Tat und Wahrheit in Gemeinschaft mit Gott und handeln nach Seinem Willen. Sein Wort wohnt und wirkt in ihren Herzen, und daraus ergibt sich das rechte Verhalten gegenüber den Menschen.
David kannte die Bedingungen für eine gute Gemeinschaft, und schuf die Voraussetzungen dafür in seinem Haus und in seiner Umgebung. Wirkliche Gemeinschaft wäre nicht zustande gekommen, wenn er Leute mit schlechtem Charakter wie alle anderen behandelt und es versäumt hätte, sich von ihnen zu trennen (Vers 3). Auch hätte er dann dem Verwerflichen Raum gegeben, und die ihm Anvertrauten wären einem üblen Einfluss ausgeliefert gewesen. Schaden für alle und Verunehrung des HERRN wären dann die Folge gewesen. Die Schrift lehrt, dass Duldung dessen, was dem Herrn missfällt, dem Bösen Vorschub leistet und alles in der Umgebung Erreichbare verdirbt (Off 2,15.20). Falsche Nachgiebigkeit macht mitschuldig. Das wusste David und handelte entsprechend. Ein „Belialsstück“, etwas Verderbtes (Vers 3), wollte er nicht in seinem Blickfeld haben, weil ihm klar war, dass unwürdige Dinge, die nicht zu Gott passen, den Benutzer oder Betrachter beflecken und die Gemeinschaft mit Gott unterbrechen. Nicht mehr der HERR steht dann vor den Blicken, sondern diese böse Sache (Ps 16,4.8). Man wendet die Augen allzu leicht dem zu, was Lustgewinn verspricht. Die Augenlust findet sehr leicht Gefallen an Schändlichem und Verderbtem. Rasch werden die Sinne dafür eingenommen und Sünde ist die Folge. Anstatt diese Dinge zu meiden, hat man sich ihnen allen Warnungen zum Trotz zugewandt (1. Tim 6,11; 2. Tim 2,20–22). Anstatt vom Bösen Abstand zu nehmen, hat man sich ihm willentlich ausgesetzt. Die konsequente Grundhaltung, das Böse zu hassen, ist unbedingt einzuhalten.
In den Versen 4, 5 und 7 weist David „ein verkehrtes Herz“, das zum Bösen neigt, von sich, zugleich auch den Verleumder, den Hochmütigen und den Lügner. So bleibt er getrennt von dem Bösen, das sie beherrscht. Unmöglich können sich solche in der Nähe des Herrn aufhalten. Daraus ergibt sich, dass sie keinen Platz haben im Innern des Hauses des HERRN, dem Heiligkeit geziemt (Ps 93,5; Off 21,27; 22,15). Das Herz des „Verkehrten“ hat eine dem Wort Gottes entgegengesetzte Einstellung, wodurch der Wille und der Verstand ständig in die falsche Richtung gelenkt werden. Von einem Verkehrten muss man Unehrlichkeit und Falschheit erwarten (Ps 18,27; Spr 11,20; 28,18; Jes 5,20; 29,15f; Titus 3,10f). Zum „Berg des HERRN“ und zu „seiner heiligen Stätte“ hat nur der Zutritt, „der unschuldiger Hände und reinen Herzens ist, der nicht zur Falschheit seine Seele erhebt“ (Ps 24,3.4). Gemeinschaft mit dem Herrn und ein Wohnen bei Ihm setzen die Einhaltung Seiner Bedingungen voraus. In diesen Versen wird das Augenmerk besonders auf das Innere des Menschen und auf den Zustand des Herzens gelenkt, weil sich dort die Denkweise entwickelt und die Absichten bilden, aus denen entweder das Gute oder das Böse hervorgeht (Pred 9,3; Mt 12,34f; Mk 7,21–23). Ist die schlechte Gesinnung eines Menschen erkennbar, dann ist die Abwendung von ihm und dem Einfluss seines Denkens und Redens geboten, bevor das Falsche in der eigenen Gedankenwelt Fuß fasst und zur Tat wird (2. Tim 3,1–5). „Lasst euch nicht verführen: Böser Verkehr verdirbt gute Sitten“ (1. Kor 15,33).
In Vers 5 werden stolze Augen und das hochmütige Herz erwähnt. Der Stolz regiert gerne die Augen und der Hochmut nimmt das Herz ein. Aufgeblasenheit kennzeichnet die Handlungsweise des Hochmütigen. Die Gefahr, dieser unheilbaren Krankheit des Fleisches Raum zu geben, ist groß. Der Teufel ist bestrebt, Stolze und Hochmütige in seine Dienste zu stellen. Für den Dienst des Herrn dagegen sind sie völlig ungeeignet. Als Mitarbeiter und bei gemeinsamem Handeln sind sie schwer erträglich. Am besten lernt man sie nicht näher kennen und meidet ihre Gesellschaft. In diesem Sinn handelte jedenfalls der Psalmdichter und empfiehlt es weiter. Ganz anders ist das Verhalten gegenüber den „Treuen im Land“, den Aufrichtigen. Mit ihnen zusammenzuwohnen ist angenehm und gewinnbringend, mit ihnen einen gemeinsamen Weg zu gehen macht Freude. Ihr Dienst ist willkommen und wertvoll (Vers 6; Ps 119,63.79; Jes 32,8). Wo sie Gelegenheit finden, wirken sie zum Segen (Neh 7,2; Dan 6,5). Allgemein wünscht man, dass ihrer mehr wären.
Der letzte Vers des Psalms kündigt die Todesstrafe an für alle Gottlosen und Frevler. Der Aufenthalt in der heiligen Stadt des HERRN wird ihnen verweigert (Ps 1,5; 75,11; 104,35; Jes 52,1; Nahum 2,1; Mal 3,5; Off21,27). David bemühte sich, nach den aufgezeichneten Grundsätzen zu regieren, aber uneingeschränkt und unverzüglich wird die Sünde erst in dem kommenden Reich Christi auf dieser Erde bestraft und beseitigt werden. Im Gegensatz zur jetzigen christlichen Gnadenzeit gibt es dann keine Nachsicht gegenüber Sündern mehr. Das Dulden von Sünden hat ein Ende gefunden. Auf die Sünde wird sofortige Verurteilung folgen. Bewährungszeiten wird es im zukünftigen irdischen Reich Gottes offenbar nicht geben. Überall wird die Autorität des HERRN in herrlicher Fülle zur Geltung kommen. „HERR, unser Herr, wie herrlich ist dein Name auf der ganzen Erde, der du deine Majestät über die Himmel gestellt hast!“ (Ps 8,2). Christus, der Herr, ist „der von Gott bestimmte Richter der Lebenden und der Toten“ (Apg 10,42). Die Gottesfürchtigen werden mit Freuden sagen: „Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der da ist und der da war, dass du deine große Macht angenommen und die Herrschaft angetreten hast!“ (Off 11,17).